9.Kapitel


Folge dem Raben, um ihn zu finden. Dieser Satz spukte mir die ganze Zeit durch den Kopf. Selbst im traumlosen Schlaf schaffte ich es, dauernd diesen Satz zu denken – und er trieb mich beinahe in den Wahnsinn. Was sollte ich schon dagegen tun?
Als es morgen wurde, wachte ich schlaftrunken auf und kratzte mich am Kopf. Fay war schon aufgestanden – ihr Schlaffell war ordentlich zusammengelegt und ihre Stiefel fehlten – Fay schien eine Barfuß-Phobie zu haben. Ich hatte sie noch nie ohne diese Schuhe gesehen und wenn sie sich in ihr Fell wickelte und ihre Füße kurz zu sehen waren, sah ich, wie weich sie waren. Mit solch dünner Haut war es ja praktisch unmöglich, schmerzlos zu laufen.
Als ich aus der Höhle kroch, waren die Jäger schon losgezogen. Am liebsten wäre ich mitgegangen, doch ich hatte weder einen Bogen, noch sonderlich Lust, Tarpas zu fragen, ob ich durfte.
Folge dem Raben, um ihn zu finden, dachte ich wieder und fragte mich abermals, wer dieser jemand sein sollte, den ich finden musste. Vielleicht war das ja doch nur ein Traum gewesen – ein Traum, der irrsinnig real war. Nein, das war kein Traum. Das wusste ich plötzlich so instinktiv, dass ich seufzte. Es wäre einfacher gewesen, wenn es ein Traum wäre.
Unter dem Ahnenfelsen – so wurde der von Bildern geschmückte graue Felsvorsprung von den Leuten hier genannt – brannte noch ein kleines Feuer, dass gerade neu entfacht wurde, und ich machte einen Abstecher dorthin, um mir noch etwas zu essen zu holen. Gestern war ich früh schlafen gegangen, weil es geschüttet hatte, und deshalb hatte ich das Essen verpasst.
Neben dem Feuer lagen ein kleines Stück Dörrfleisch und zwei Tonschälchen mit Zwiebelsuppe. Ich nahm mir die Suppe und löffelte sie schnell unter dem Ahnenfelsen, bevor man mich zu sehr anstarren konnte. Sie schmeckte besser als die von Kipsuni – kein scharfes Kräuteraroma, nicht so viel Fett – aber sie war kalt und lag mir schwer im Magen.
Ist es wirklich der Mann in der Schlucht, den Kimi gemeint hat? Oder ist es Rofus?, dachte ich und biss mir auf die Lippe. Rofus' Gesicht kam mir in den Sinn – die Hakennase, die stechenden Augen, der verbitterte Gesichtsausdruck. Und dann, auf einmal, war er so zärtlich gewesen...
Und dann Tarpas, der den gleichen Satz wiederholt hatte, und dabei auch so seltsam geklungen hatte...
„Hast du nichts zu tun?", fragte plötzlich eine Frauenstimme hinter mir und ich fuhr herum. Blinzelnd sah ich ein Mädchen – es mochte um die drei Zyklen älter sein als ich – mit langem blonden Haar und ein paar leichten Sommersprossen, die ihre Nase zierten. Sie musterte mich und ich sah, wie ihr Körper sich verspannte, als sie mir in die zweifarbigen Augen sah.
„Es ist nicht gut, wenn du hier einfach rumsitzt", meinte sie. „Du kannst doch den Wächtern helfen. Sie bessern den Wall aus – das Holz ist morsch geworden. Oder hilf ihnen dabei, Jagdwaffen zu machen. Oder nähst du?"
Ich brachte zuerst kein Wort heraus, dann krächzte ich: „Ich bin nicht sicher, ob ich..."
„Ob du willst?", unterbrach mich das Mädchen schnippisch. „Na, das interessiert hier keinen. Geh doch zu den Gerbern rauf, die habe alle Hände voll zu tun."
„Ich weiß ja nicht mal, wo..."
„Oben auf den Felsen – warst du noch nie da? Oh nein, so drückst du dich nicht von der Arbeit." Ihr herrisches Temperament ging mir schon jetzt auf die Nerven. „Schau, der Felspfad ist gleich dort drüben, bei Kipsunis Höhle." Sie deutete ihn die besagte Richtung. „Du findest schon hin. Aber geh hier weg, jetzt wird gearbeitet – außer, du möchtest heute Abend nichts zu essen haben."
Am liebsten hätte ich ihr erzählt, was ich von ihrem Getue hielt, doch ich biss mir auf die Lippen und bleib still. Mit einem knappen Nicken begab ich mich in die Richtung, die sie mir gezeigt hatte, und wartete, bis sie wieder woanders hinschaute. Als ob ich mich dort oben hinsetzen würde, nur, weil sie das wollte! Auf der Jagd wäre ich hilfreich, aber so?
Ich ging erst zu Kipsunis Höhle, aber die alte Schamanin war nicht da. Es stimmte mich ein bisschen missmutig, denn sie war die Einzige, mit der ich mich hätte unterhalten können.
Als ich den Felspfad sah, begann ich, ihm folgend die Wand hinaufzugehen, bis ich zu den Gerberplateaus kam. Es war hier oben viel wärmer, denn der Stein war aufgeheizt, obwohl die Sonne erst vor ein paar Momenten den Boden des Lagers berührt hatte.
Folge dem Raben, um... Ich zwang mich dazu, den Satz nicht fertig zu denken, sondern blickte mich um. Von den Gerberplateaus ging eine Grasebene weiter, die in einem kleinen Wäldchen endete. Ich war hier auf einer grasbewachsenen Anhöhe und in diesem Wald musste es irgendeinen Weg geben, wie ich zur Schlucht kam. Sobald ich den Steinschlag gefunden hatte, war der Rest ein Kinderspiel.

Den Steinschlag zu finden war nicht schwer. Die Steine lagen zwar anders als beim letzten Mal, aber das war nur logisch – die Dachsclan-Menschen hatten ja immerhin nach Lorus gesucht.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, irgendetwas folgenschweres zu tun – ob gut oder schlecht, das wusste ich nicht. Welches Geheimnis auch immer in Kimis Botschaft versteckt war, es musst wichtig sein. Oder ich bin einfach nur verrückt, dachte ich deprimiert, als ich gerade einen Haselnusszweig aus dem Weg bog.
Der Weg in die Schlucht war der selbe wie auch zuvor, doch ich war wachsamer. Meine Aufmerksamkeit galt nur teils dem grauen Stein, denn ich horchte und beobachtete meine Umgebung. Ob ich den Mann diesmal auch antreffen würde? Wahrscheinlich nicht.
In der Schlucht war alles, wie es auch beim letzten Mal gewesen war. Der kieselige Boden knirschte, als ich darauf trat, und ich ließ mich auf die Knie fallen und versuchte, irgendwelche Spuren zu finden. Allerdings war es, wie bei Robby, vergeblich. Schließlich beschloss ich, mich an derselben Stelle zu verstecken, wo ich den Mann getroffen hatte.
Folge dem Raben, um ihn zu finden. Hoffentlich beging ich keinen Fehler, sonst hätte ich ein Problem.
Ich beschloss, mich in einem Gestrüpp zu verstecken und dort zu warten, ob jemand vorbeikommen würde. Es wäre sicher nicht gut, für jeden Rabenclan-Menschen schön sichtbar in der Schlucht herumzustehen und nur darauf zu warten, entdeckt zu werden. Ich rupfte einen langen, einsamen Grashalm aus und begann, auf einem Ende herum zu kauen, bis der bittere Pflanzensaft in meinen Mund drang – und wartete.

Gekommen war ich, als die Sonne erst aufgegangen war, und nun stand sie hoch am Himmel und brannte auf den Boden der Schlucht nieder. Die Büsche boten mir zwar Schutz, doch heiß war mir trotzdem. Meine Laune war genauso tief gesunken, wie es der Boden der Schlucht war, und ich war kurz davor, einen Stein an die Felswand zu schmettern und frustriert zu schreien – doch dann hörte ich etwas. Es war nur ein kleines Klackern. Steine, die auf andere Steine prallten. Trotzdem wusste ich instinktiv, dass es der Mann sein musste, der da in die Schlucht kam. Ich verharrte in meiner Position und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen an. Wirklich, da war das braune Gewand des Mannes zu sehen! Er bahnte sich weiter hinten einen Weg in die Schlucht und ging dabei so geschickt vor, als hätte er es schon hundert mal gemacht. Erst jetzt sah ich den kleinen Felspfad, der von Büschen verborgen und leicht zu passieren war.
Der Mann war der selbe wie beim letzten Mal – braunes Haar, das vom Kopf abstand und ein schmales Gesicht. Als er am Boden der Schlucht ankam, blickte er sich kurz um, ehe er sich aufmachte, tiefer in die Schlucht vorzudringen. Ich verweilte noch kurz in meinem Versteck, dann kroch ich unter den Büschen heraus und rannte ihm so leise wie nur möglich nach. Ich verfluchte dabei die Kiesel, die mich durch ihr verräterisches Klacken dazu zwangen, so langsam zu sein wie eine Schnecke.
Die Schlucht wurde gen Ende immer schmäler, bis ich mich an einigen Stellen durch enge Risse und Spalten quetschen musste. Der Fremde war aber so schnell und kannte so viele Tricks, dass es ihm viel leichter gelang als mir, obwohl er größer war. Auf den Boden der Schlucht sickerte jetzt nur noch vereinzelt Sonnenlicht. Ich traute mich nicht, nach oben zu sehen, denn ich wusste: Ich würde Ängste bekommen, wenn ich erst sah, wie weit unten ich war – und wie bedrückend hier alles war...
Ich zwang mich, nach vorne zu schauen. Ein kleines Wasserrinnsal hatte sich den Weg durch die enge Schlucht gebahnt und wurde immer breiter, je weiter ich vordrang.
Da war er! Ich sah gerade noch, wie der Mann sich vor mir durch eine enge Spalte quetschte, durch die grelles Licht schimmerte. Ich hielt kurz Inne, um zu warten, dann tat ich es ihm nach.
Die enge Spalte endete hier abrupt. Helles Licht flutete in mein Gesicht und ich musste blinzeln. Die Schlucht war hier so breit, dass ich etwa zehn Schritte gebraucht hätte, um von der einen bis zur anderen Seite zu kommen. Spärlich belaubte Büsche wuchsen hier, der Kies war feiner und das Wasserrinnsal plätscherte fröhlich vor sich hin. Weiter hinten wurde die Schlucht wieder zu einer engen Spalte, aus der nun einzig und allein das Wasser austrat.
„Wieso verfolgst du mich?"
Ich erschrak so sehr, dass ich taumelte und hart auf dem Kies landete. Das Klackern der Steinchen hallte in der Schlucht wieder und ich starrte verlegen zu dem Mann auf, den ich bis jetzt verfolgt hatte. Seine Augenbrauen waren nicht zornig, sondern genervt zusammengezogen, und er musterte mich, als wäre ich eine Kröte.
„Ich habe dich etwas gefragt, hast du nicht gehört?", blaffte er und sein Haar fiel ihm ins Gesicht, als der schnaubend den Kopf schüttelte. „Hast du etwa geglaubt, ich wäre so dumm, dich nicht zu bemerken?" „
„Ich...ich wollte nur...", stammelte ich, doch ich verstummte, als mir klar wurde, dass ich nichts glaubwürdiges erwidern konnte.
„Ich habe dir damals schon die Chance gegeben, zu verschwinden. Warum bist du wiedergekommen?", knurrte er. „Und ich dachte, Dachsclan-Mitglieder wären wirklich nicht so dumm, wie man sagt."
Ich schnappte nach Luft und ballte die Fäuste. „Vielleicht hast du es ja noch nicht bemerkt, aber ich komme keinesfalls vom Dachsclan", meinte ich herausfordernd und die Augen es Mannes blitzten. Natürlich hatte er es bemerkt – er hatte mich ja schon beim letzten mal so erschrocken angesehen – und das war eine offensichtliche Provokation. Dabei bin ich ja auf seinem Land, dachte ich und hoffte, dass meine Zweifel an der ganzen Sache nicht bemerkt wurden.
„Was tust du hier?", fragte der Mann noch einmal ganz langsam und leise, als wäre ich dumm. „Du spionierst mir nach. Du hältst dich auf meinem Land auf, ohne eine Erlaubnis zu haben. Du brichst das Gesetz der Clans. Überlegst du gerade, welche Regeln du noch brechen könntest, oder hältst du es für angemessen, mir zu antworten?"
„Ich weiß nicht", meinte ich trotzig. „Wenn ich dir sagen würde, dass ich von den Geistern gesendet wurde, würdest du mir das glauben?"
„Von den Geistern, hm?" Die Augen des Mannes blitzten amüsiert. „Und was haben sie dir erzählt, deine Geister?"
Ich runzelte die Stirn. „Du glaubst nicht an sie?"
„Natürlich!" Der Mann schnaubte. „Himmel, ich bin ein Schamane! Wie sollte ich nicht an Geister glauben?" Der Schamane... Plötzlich erkannte ich ihn – seinen Körperbau, die Haltung, die Züge. Er war der Mann, der damals im Wald das Pulver ins Feuer geworfen hatte!
„Normalerweise sprechen Geister nicht zu jemandem, der nicht an sie glaubt", meinte er ruhig und holte mich zurück in die Gegenwart.
„Ich glaube an sie", sagte ich sofort, doch ich wusste noch nicht so recht, ob das stimmte.
„Du kennst sie doch gar nicht. Sie deine Augen an! Rofus wird fuchsteufelswild, wenn er erfährt, dass du doch nicht tot bist."
„Du wirst es ihm doch nicht erzählen, oder?" Ich sah ihn verunsichert an. Eins war mir klar: Es war gar nicht gut, wenn Rofus erfahren würde, dass ich noch lebte.
Der Mann seufzte und verdrehte halbherzig die Augen, dann deutete er mit einem Kopfnicken in die Schlucht.
„Komm mit", murmelte er erschöpft und überhaupt nicht mehr so streitlustig wie zuvor. Ich sah ihn nur kurz verdattert an, dann blinzelte ich und folgte ihm.
Die Sonne war hier besser erträglich, denn die Felsen kühlten die Luft ab. Ich bückte mich, als wir an dem kleinen Bach vorbeigingen, und schöpfte mir mit den Händen etwas Wasser in den Mund. Meine schwarzen Haare waren danach ganz feucht, weil sie ins Wasser gehangen hatten.
Kurz verlor ich den Mann aus dem Blickfeld, doch dann, als ich hinter ein Paar Büsche ging, sah ich ihn.
Die Büsche bildeten hier einen Wind- und Sonnengeschützen Platz und aus der Felswand ragten ein paar niedrige Vorsprünge, auf denen Felle lagen. Auf dem Kies waren verkohlte Holzreste, die von einem Lagerfeuer stammen mussten. Hatte er nicht behauptet, er sei Schamane? Wieso lebte er dann hier in der Schlucht?
Und dann stockte ich, als ich die zweite Gestalt bemerkte, die mir vorher gar nicht aufgefallen war. Es war eine Frau, die um die fünfzig sein musste. Ihr schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, ihr Gesicht, das einst wunderschön gewesen sein musste, war eingefallen und mager. Die Hände und Beine waren dürr und ihr ganzer Körper wirkte gebrechlich, als wäre sie schon eine sehr alte Frau. Mein Blick wanderte musternd zu ihren Augen und mir entfuhr ein Stöhnen. Über ihren Nasenrücken zog sich eine dünne, weiße Narbe und ihre Augen waren milchig und trüb. Einst mochten sie vielleicht einen tiefen Grünton gehabt haben, doch jetzt waren sie blass und erblindet. Wie konnte eine Frau in einem solch schlechten Zustand hier leben? Und was hatte der Schamane überhaupt damit zu tun?
„Wer...wer...ist das?", krächzte die Frau da und streckte die zitternde Hand aus. Ihre blinden Augen starrten ins Nichts, doch trotzdem galt ihre ganze Aufmerksamkeit mir.
„Nichts, Asrale, es ist nur ein Mädchen."
„Rabenclan?"
„Nein, ein Dachsclan-Mädchen." Als die Frau, Asrale, hörte, wer ich war, runzelte sie die Stirn. Dann streckte sie auch noch die zweite Hand aus.
„Geh näher zu ihr, damit sie dich berühren kann", forderte der Schamane mich auf. Ich blickte nur die Frau an. Irgendetwas an ihr löste etwas in mir aus, was ich selbst nicht zuordnen konnte. War es vielleicht die Tatsache, dass sie blind und verwildert war?
Ich ging vorsichtig näher zu ihr, als sie plötzlich mein Gesicht mit beiden Händen nahm und zu sich herunter zog. Ich verharrte erschrocken, als ihre Finger meine Wangen, meine Augenbrauen, die Nase und die Lippen abtasteten. Bei meinem Kinn hielt sie Inne, zog die Hände abrupt zurück und schluchzte laut auf. Der Klagelaut hallte in der Schlucht wieder und ich blinzelte den Schamanen hilfesuchend an.
„Was hat sie da gemacht?", hauchte ich.
„Sie hat dich erkannt", seufzte der Mann.
„Erkannt?"
Kurz schwieg der Mann, dann blickte er mir in die Augen und sprach leise: „Ja, erkannt. Sie...sie ist deine Mutter, Mädchen."



Omg, ich habe so lange darauf gewartet, dieses Kapitel schreiben zu können! Endlich kommt raus, wer Amilas Mutter ist! Yay!



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