7.Kapitel
„Amila!" Als Kipsuni mir entgegengerannt kam, konnte ich in ihren Augen die Trauer und den Verlust sehen, die sie empfinden musste. Allerdings schein sie nicht geweint zu haben – das konnte ich mir bei ihr gar nicht vorstellen.
„Wo warst du, Kind?" Kipsuni sah mich streng an, aber sie wirkte erschöpft und ein wenig ausgelaugt. „Ich habe gedacht, du wärst abgehauen." Als ich das hörte, wurde mir ein bisschen warm ums Herz. Ich hatte gedacht, es wäre ihr egal, ob ich bliebe oder nicht.
„Ich...ich war nur frische Luft schnappen", erklärte ich, doch Kipsuni zog nur die Augenbraue hoch.
„Ach, wirklich? Ich kann mir das nicht vorstellen, wo doch von einem Bären die Rede war." Sie hatte mich durchschaut und ich spürte, wie ich ein wenig rot wurde. Allerdings sah ich sie nur trotzig an, worauf sie einfach nichts erwiderte.
„Der Junge ist tot?", hakte ich vorsichtig nach. Kipsuni schwieg kurz, als würde sie zögern, mir eine Antwort zu geben. Dann aber seufzte sie resigniert.
„Ja."
„Habt ihr ihn geborgen?"
„Ja, ja das haben wir. Seine Verletzungen waren einfach zu groß, er hatte zu viel Blut verloren. Er ist gestorben, noch bevor wir ihn herbringen konnten." Sie schüttelte traurig den Kopf. „Fay hat schon beide ihrer Eltern verloren. Jetzt ist auch ihr Bruder tot." Als ich in Kipsunis Augen sah, waren diese trocken, aber trotzdem glasig. „Er wird heute Abend bestattet – dort, wo er gestorben ist. Jeder kommt mit, also gilt das auch für dich."
„Ihr wollt ihn im Steinschlag begraben?", keuchte ich und zog verblüfft die Augenbrauen hoch.
„Unter diesen Umständen natürlich nicht", blaffte Kipsuni. „Aber er wird nahe am Steinschlag begraben, darauf kommt es an. Ein Mensch, der im Lager stirbt, wird auch nicht in seiner Höhle begraben, aber vor dem Lager."
„Oh", murmelte ich verlegen, aber Kipsuni sprach schon weiter. „Es ist egal, was passiert ist, Tarpas möchte dich trotzdem sehen. Benimm dich, ja? Ihn trifft es auch, dass Lorus gestorben ist, auch, wenn er es nicht so gern zeigt."
„Aber..."
„Nichts aber." Sie sah mich streng an und wollte meine Hand packen. Ihre Bewegung war schnell, aber meine Reflexe waren besser. Als ihre Finger sich um nichts als Luft schlossen, funkelten ihre Augen kurz, dann aber ging sie einfach zu Tarpas' Unterschlupf, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich setzte mich seufzend in Bewegung und betastete dabei meine Hände, die ganz aufgeschürft vom Fels waren. Ich war mir sicher, dass Kipsuni sich denken konnte, wo ich gewesen war. Die alte Schamanin schien für so etwas einen sechsten Sinn zu haben – oder sie konnte einfach Blut riechen.
Tarpas Höhle war klein und gemütlich eingerichtet. Die Decke war ziemlich hoch, sodass man ohne Probleme stehen konnte, und die Höhle hatte am Eingang eine Erweiterung aus Holz, die allerdings schwarz vor Ruß war. Woher der kam, wusste ich nicht, denn im Inneren der Höhle war es sauber. Es brannte kein Feuer, aber dafür lag dort in einer Mulde ein dickes Fell und in der Mitte stand, auf einem Felsen, ein kleiner Teller. Er war befüllt mit getrockneten Beeren, Rübenstückchen und Dörrfleisch, die dazu einluden, sich ein paar davon in den Mund zu stopfen. Der Geruch von Harz lag in der Luft, doch ich konnte den Ursprung nicht finden. Die Felsen waren bedeckt mit kleinen, mit Kohle gemalten Zeichnungen. Über einer dunklen Ader des Felsens waren ein Rabe und ein Dachs angebracht – Rabenclan und Dachsclan, wobei die dunkle Ader wohl als Schlucht benutzt worden war.Andächtig fuhr ich mit den Fingerspitzen über den Fels.
In einer Mulde in der Ecke lagen Kleider aus Pelz und auf einem kleinen Vorsprung war eine Kluft aufgehängt worden. Ich staunte, als ich die straffen und sorgsam vernähten Ärmel sah. Sie war eng und so weich wie Kaninchenfell, dabei war nicht ein Haar auf dem Leder. Auf der Brust des Kleidungsstückes waren mehrere Schlaufen und drei Dolche – ein breiter kleiner, ein gebogener mit scharfer Schneide und ein langer, gerader und ziemlich dünner. An den Nähten der Schultern, wo die Ärmel befestigt waren, hingen ein paar Lederfäden und neben dem Gewand lag eine Art Gesichtsmaske in einem einfältigen Braunton. Hätte ich eine solche Jagdkleidung, wäre ich der Schrecken der Wälder, dachte andächtig und streckte die Finger nach den Dolchen aus.
„Das ist ein Jagdgewand", erklärte eine tiefe, raue Stimme hinter mir. Ich zog sofort die Hand zurück und fuhr herum. Neben Kipsuni saß eine Gestalt, die ich zuerst nur für einen Haufen Pelz gehalten hätte, und sog aus einer Art Röhre Rauch in den Mund, ehe er ihn in kleinen Kringeln wieder herausblies.
„Und das", fügte die Gestalt hinzu, als sie meinen Blick bemerkte, „ist eine Pfeife." Er legte die Pfeife ab und blies einen letzten Rauchkringel, der sich nach ein paar Sekunden verflüchtigte. Nun wandte die Gestalt mir das Gesicht zu und ich konnte den Mann das erste Mal betrachten. Er war hager und hatte eingefallene Wangen und eine faltige Stirn. Seine Augenbrauen waren buschig und das graue Haar war im Nacken zu einem sehr kurzen und dünnen Zopf gebunden worden. Nur ein dünner Bart säumte sein Gesicht und betonte seine blitzend blauen Augen. Sein Hals war dünn und seine Schultern breit und kräftig. Wie auch Kipsuni hatte er lange und dünne Finger, war aber ansonsten kräftig gebaut.
„Ich nehme an, du bist das Mädchen, dass der Rabenclan zum Sterben zurückgelassen hat", sagte er mit sachlicher Stimme.
Kipsuni nickte ihm zu. „Aber...sie hat mir gesagt, dass sie vom keinem Clan großgezogen worden ist. Überhaupt nicht von irgendwelchen Menschen."
„Nicht?", fragte Tarpas fast emotionslos.
„Nein. Sie...sie hat gesagt, sie wäre von Bären großgezogen worden. Und sie lügt nicht – du weißt, ich hätte es bemerkt", fügte sie hinzu. Tarpas zuckte bei ihren Worten zurück, jedoch nur kurz. Dann wurde seine Miene wieder kühl und undurchdringlich, aber ich spürte, dass er angespannt war, als er sprach: „Ich bin übrigens Tarpas – der Anführer der Dachsclans." Er musterte mich und mir lief es kalt den Rücken hinunter, als seine eisblauen Augen mich von Kopf bis Fuß absuchten. Sein Blick blieb kurz an der Fellhose hängen.
„Zieh sie hoch", befahl er knapp. Perplex griff ich zu meinem rechten Knöchel – ich konnte schon erahnen, was er sehen wollte – und gab damit das Federtattoo frei. In seiner Mimik war keine Veränderung zu sehen, doch ich konnte spüren, dass etwas anders war.
„Dann bist du also wirklich ein Rabenclan-Mädchen. Das Kind, dass damals ausgesetzt wurde. Weißt du, dass du das Blut zweier Clans in dir trägst?" Er sah nicht an und wartete auch gar nicht auf meine Antwort.
„Damit bist du ein Halbblut. Und überlebt hast du auch. Also besagt unser Gesetz, dass du dem Rat vorgeführt wirst. Dein Glückstag." Er verstummte kurz und ließ ein kleines Lächeln durchblicken. „Allerdings auch wieder nicht. Erstens bezweifle ich, dass der Rabenclan dich haben will – und zweitens ist das nächste Treffen erst in drei Monden."
Ich verstand gar nichts und sah ihn nur mit einer versteinerten Miene an. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. „Rat...? Treffen...?"
„Du hast keinen Schimmer, was ich da rede", stellte er monoton fest. Ich rührte mich nicht – ein Nicken schien mir unangemessen.
„Na gut. Hat Kipsuni dir erklärt, was Clans sind? Und hat sie dir erklärt, welche es gibt?"
„Ja", warf ich ein und wollte eigentlich noch etwas hinzufügen, doch er schnitt mir das Wort ab.
„Na gut. Die Drei-Mondes-Versammlung kennst du also nicht – so, wie du dreinschaust. Es ist ein Treffen aller Clans am Faroth." Er hielt kurz Inne, als ich schon eine weitere Frage stellen wollte, doch er ließ mich nicht einmal dazu kommen. „Sieh, das Faroth ist ein riesiger Steinkreis, dessen fünf größte Steine für die fünf Clans stehen. In der Mitte des Faroths steht der Herzstein, als rußschwarzer Fels, der angeblich die Geister mit uns vereinen soll, wenn wir uns dort einfinden." Er rümpfte leicht die Nase. „Wir zünden ein Feuer um ihn herum an und bauen Stände um das Faroth auf, auf dem getauscht wird. Und manchmal, wenn schreckliche Dinge passieren, dann wird der Rat einberufen. Schamanen und Anführer jedes Clans beraten sich, was zu tun ist und fällen letztendlich einen Entschluss. So war es auch bei dir." Er sah mich herausfordernd an. „Hast du es verstanden?"
Ich nickte vorsichtig. Aber eine Frage wollte ich noch stellen. Mich verwirrte seine Mimik, als er vom Herzstein des Faroths gesprochen hatte, das Zucken seiner Mundwinkel, als würde er Abscheu empfinden. Ich dachte, die Geister seien gut.
„Darf ich etwas fragen?" Ich wählte meine Worte vorsichtig, so, wie Kipsuni es mir geraten hatte. Tarpas zog eine Augenbraue hoch, dann seufzte er.
„Was hast du auf der Seele?"
„Glaubt Ihr an die Geister?"
Kipsuni zuckte kaum merklich zurück und ihr Blick huschte kurz von mir zu Tarpas, doch der verzog keine Miene.
„Nein. Nein, das tue ich nicht. Und ich denke, es zu verbergen, hat keinen Sinn, weshalb ich mir die Mühe erspare", antwortete er sachlich, aber ich spürte, dass es ihm unangenehm war.
Trotzdem sagte ich: „Aber ich dachte, die Clanmenschen glauben alle an Geister."
„Wieso sollte ich? Als ich sie am dringendsten brauchte, waren sie nicht für mich da. Ich halte mich an Tatsachen und Dinge, die existieren. Sachen die ich entweder weiß oder die sich beweisen lassen. Du wusstest nichts von den Geistern, oder? Und trotzdem lebst du noch und zugestoßen ist dir auch nichts." Er wurde von Kipsuni unterbrochen.
„Das ist deine Ansicht", erwiderte sie scharf. „Und wenn du so stur bist, es nicht verbergen zu wollen, werden Gerüchte über dich aufkommen und die anderen Clans werden dich beschuldigen, die Geister zu leugnen. Und jetzt lass das Kind da raus."
Tarpas sah sie an, als wollte er widersprechen, doch dann gab er seufzend nach.
„Nun, Ansichten mögen verschieden sein." Mit einem Blick auf Kipsuni unterstrich er seine Worte. Dann riss er sich los und wandte sich wieder mir zu. „Also nun. Entschuldige für die Unterbrechung, aber wir fahren jetzt damit fort, wo wir aufgehört haben – und um private Sachen kümmern wir uns später. Oder stört dich das?"
Ich schüttelte schnell den Kopf. Ich spürte, dass man ihm besser nicht widersprach.
Tarpas sah mir in die Augen und ich sah schnell weg. Er seufzte.
„Du weißt, dass es an deinen Augen liegt, oder?" Es klang eher wie eine Feststellung, doch ich antwortete trotzdem.
„Als Rofus es gesehen hat...da war er entsetzt." Meine Stimme klang brüchig und heiser, obwohl ich mich bemühte, mir nichts anmerken zu lassen. „Ich dachte immer, ihr hättet mich verloren. Ich dachte, ihr würdet euch freuen, mich zu sehen. Ihr würdet mich feiern, gern haben – aber ich habe mich getäuscht. Die ersten Menschen, denen ich begegnet bin, hatten nichts anderes im Sinn, als mich umzubringen." Ein Zittern durchlief meinen Körper, als ich krampfhaft versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Und plötzlich war sie da. Kipsuni. Ihre warme Hand lag auf meiner Schulter und ich zuckte zuerst zurück, aber dann entspannte ich mich. Noch nie hatte mich jemand so tröstlich berührt, der ein Mensch war.
„Die meisten Menschen weinen aus Enttäuschung", flüsterte ihre ruhige Stimme mir ins Ohr. „Und du bist sehr enttäuscht worden. Es ist nur verständlich." Ich sah ihr in die wässrigen Augen und verstand auf einmal innigst, wieso sie Schamanin war. Sie lächelte mich tröstend an.
Tarpas räusperte sich im Hintergrund – seine Miene war die selbe wie zuvor.
„Kannst du dir vorstellen, was deine Augenfarbe mit den Clans zu tun hat?", fragte Tarpas ruhig. Ich zuckte mit den Schulter und schüttelte abe gleichzeitig den Kopf. Tarpas genügte das als Antwort.
„Jeder Clan hier hat eine Augenfarbe", erklärte er. „Nur eine spezielle. Deshalb bist du ein Mischblut – weil in deinen Augen verschiedene Farben mitspielen."
„Ein schönes Gemisch", widerholte ich die Worte, die Kipsuni in der Schamanenhöhle zu mir gesagt hatte.
„Genau." Tarpas nickte.
„Und weil meine Augenfarbe so anders ist, wurde ich einfach ausgesetzt?" Bei den letzten Worten versagte meine Stimme und wurde zu einem leisen Krächzen.
„Ja – und nein. Du wurdest ausgesetzt, weil du offensichtlich ein Mischling bist. Beziehungen zwischen den Clans sind verboten. Wenn ein Kind geboren wird, dass ein Mischblut ist, und dann auch noch zweifarbige Augen hat – dann wird es ausgesetzt und seine Eltern aus dem Clan verbannt."
„Und wenn meine Augen nicht zweifarbig wären?", fragte ich mit Trotz in der Stimme und schluckte, um meinen Tränen zurückzuhalten. Ich wollte nicht vor ihm weinen.
„Nun, dann wärst du wahrscheinlich geblieben. Es ist oft so, dass ein Mischblut das Glück hat, normale Augen zu haben. Aber das Risiko ist groß." Er seufzte. „Du hast meine Erlaubnis, im Dachsclan zu bleiben. Du scheinst mir eine gute Jägerin zu sein, wo du doch draußen überlebt hast, und mein Clan braucht Jäger. Wir haben einen jungen Lehrling verloren – das ist mehr, als wir verkraften können."
„Ihr lasst mich einfach so in Euren Clan?", fragte ich stirnrunzelnd.
„Es ist durchaus erlaubt, verbannte Kinder wieder aufzunehmen, wenn sie mehr als ein Jahr allein in der Wildnis überleben und den Weg zurück in den Clan finden." Und dann sagte er etwas, was wir das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Und du siehst genau so aus wie sie."
Ich zuckte zurück, als hätte er mich geschlagen. Rofus' Worte drängten sich abermals in mein Gedächtnis. Seine zärtliche Berührung, als er mir über die Wange strich, die seltsamen Ausdruck in seinen dunklen Augen...
„Das...das hat er auch gesagt", würgte ich heraus. „Er...Rofus." Kipsunis Blick huschte nervös umher, doch Tarpas' Gesicht versteinerte.
„Hat er das", meinte er monoton, doch ich merkte, dass er sich verspannte. Ich runzelte die Stirn, doch ich hielt den Mund.
„Was bedeutet das?", platzte es da aus mir heraus und Tarpas zuckte zum ersten Mal zusammen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er sprach voller Wut: „Es ist nicht an dir, Fragen zu stellen!" Kipsuni sah ihn streng an.
„Lass deine Traumas nicht an ihr aus", keifte sie. Tarpas' Kopf fuhr ruckartig zu ihr. Doch er verkniff sich abermals eine Antwort und wandte sich zu mir.
„Heißt das, ich habe somit noch einen Feind?", fragte ich und biss mir auf die Unterlippe. Tarpas zog einen Mundwinkel nach oben, aber sein Lächeln wirkte eher erschöpft.
„Ich habe rein gar nichts gegen dich, sonst hätte ich Kipsuni nie erlaubt, dich gesundzupflegen."
„Und ich hätte es trotzdem getan, obwohl er es mir verbietet", kommentierte Kipsuni schnippisch. Ich merkte schon jetzt, dass sich die Schamanin rein gar nichts sagen ließ – und erst recht konnte niemand über sie bestimmen.
Tarpas sah sie nur streng an. „Nun, ich halte mich eher an Tatsachen. Meine Emotionen haben in solchen Gesprächen nichts zu suchen." Er schüttelte seinen Kopf. „Wir reden Unsinn. Gekommen bist du, weil wir darüber reden wollten, was wir tun. Nun, da ist mein Entschluss: Du kannst ab sofort in eine der Schlafhöhlen ziehen und eine Ausbildung zum Beruf deiner Wahl machen. Ich weiß, dass du schon fünfzehn bist – ich war ja dabei, als beim Drei-Mondes-Treffen über dich gesprochen wurde. Mit diesem Alter ist man eigentlich schon ein vollwertig ausgebildetes Mitglied, aber du musst dich erst beweisen. Abends gibt es am Versammlungsplatz das Essen, den Rest über begleitest du eine Ausbildertruppe, die dich dein Handwerk lehrt. Ich werde ein Auge auf dich haben und du..."
„Und was ist, wenn ich das nicht will?", hakte ich vorsichtig nach. Ich fühlte mich irgendwie eingesperrt, wenn er das so sagte.
„Dann wird man dich jagen. Beim nächsten Drei-Mondes-Treffen muss ich verkünden, dich getroffen zu haben."
„Aber wieso?", entgegnete ich trotzig. „Ich meine, Ihr könnt doch einfach nichts sagen..."
„Ich lüge nicht!" Tarpas schlug mit der Faust auf den Boden und sein ganzer Körper bebte, als er versuchte, sich zu beherrschen. „Fordere das nie, nie wieder." Er verstummt kurz. „Ich lasse dich nicht gehen", knurrte er mir zu. „Du weißt zu viel, du.... Der Rabenclan dich umbringen und das...das kann ich nicht zulassen." Bei den letzten Worten wurde sein Blick etwas weicher. Ich sah ihn verschreckt und still an und rührte nicht einen Finger.
„Es ist genug. Kipsuni, führ sie zu einer lehren Höhle und sie zu, dass sie bleibt." Er wandte sich wieder mir zu. „Wenn du auch nur einen Fuß aus dem Lager setzt, ohne mich darüber zu informieren, ist es aus. Wir helfen dir nicht. Der Rabenclan wird sämtliche Umgebung nach dir durchforsten und du hast keine Chance, zu entkommen. Das Moor ist eingeschlossen von den Clans. Und du wirst nie mehr – wirklich nie mehr – zu deiner eigenen Art zurückkehren können. Und ich weiß, dass du das nicht willst." Er deutete mit dem Finger nach draußen. „Und jetzt geh mir aus den Augen."
Als ich draußen mit Kipsuni über das weiche Gras trottete, war ich ganz still. Als wir die Höhle verlassen hatten, hatte ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden – ich wusste selbst nicht, wieso.
Unterhalb des Hanges waren Höhlen hineingebaut worden, zu denen Kipsuni mich nun führte.
„Wieso ist er so wütend geworden?", fragte ich, als wir außer Hörweite waren. Kipsuni schwieg kurz, doch zu meiner eigenen Überraschung sprach sie.
„Als er jung war, starb sein Bruder", begann sie seufzend. „Bei einer Jagd im Sturm fiel er in den Fluss. Tarpas konnte ihn nicht retten, sein Bruder ist ertrunken. Er hat den Geistern die Schuld gegeben, weil sie es nicht verhindert haben. Aber das ist nicht der Sinn der Geister. Sie schützen uns und stehen uns bei, aber sie können uns nicht vor allem beschützen. Nun ja, Tarpas hält die Geister für Lügen – und er hasst Lügen."
„Aber wieso hat er gesagt, dass ich ,wie sie' aussehe?", bohrte ich nach. Kipsuni blieb ruckartig stehen.
„Du hast nicht das Recht, solch private Dinge zu erfahren. Auch, wenn es um dich geht. Der Zeitpunkt wird kommen." Sie seufzte. „Hör auf, ehe du ihn verärgerst. Seine Gefühle sind so oder so schon vermischt."
Ich sah sie betroffen an. Mich zog es aus dem Lager zu Robby, aber ich wusste, dass er sicher war. Und ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass er noch einmal mit den Clanmenschen in Kontakt kam. Aber ich schwor mir, mich bei der nächsten Gelegenheit davonzustehlen und nach ihm zu suchen. Ich hatte keine Ahnung, was Rofus und Tarpas miteinander zu tun hatten, weder, was mit „du siehst aus wie sie" gemeint war. Aber ich würde es herausfinden. Da war ich mir sicher.
Die Höhlen wirkten auf den ersten Blick recht schäbig. Vor jedem Eingang stand ein Überdach aus Holz und dahinter war der dunkle Eingang der Höhlen. Auch hier war das Gestein seltsam grau und fühlte sich hohl an. Als ich einen Brocken aufheben wollte, war ich erstaunt, wie leicht er war.
„Es ist getrocknetes Lavagestein. Der Dachsclan benutzt die Höhlungen, die es enthält, schon sehr lange als Schlafplatz", erklärte Kipsuni, als sie bemerkte, was ich tat. „Im Winter sind sie warm und niemals nass." Ich nickte. Wenn es Winter wurde, verließ Nanuk den Bärenbau und suchte sich woanders eine Höhle zum Überwintern. Denn wenn sie es nicht täte und der Frühling käme, würde sie im Flusswasser, das bis zu ihrer Höhle stieg, ertrinken. Und ich hatte schon einmal in solch einer Lavaaushöhlung geschlafen. Ich schüttelte mich, als ich an die einsamen Monate dachte, in denen Nanuk schlief. Wenn ich bleibe, muss ich nie mehr einsam sein, dachte ich. Sofort befielen mich Gewissensbisse. Insofern ich nicht wusste, ob es Robby gut ging, würde ich nirgendwo bleiben.
„Deine Mitbewohnerin ist", erklärte Kipsuni. „Es ist sonst kein Platz mehr in den Höhlen. Du weißt, was passiert ist, und ihr geht es nicht gut." Das klang ja toll.
Wie ich herausfinden sollte, war Fay vierzehn – also ein Zyklus jünger als ich – und hatte ihre Ausbildung schon begonnen. Aus der Nähe konnte ich sie erst richtig mustern: Ihr Haar war haselnussbraun und ihre Augen einfältig Dachsclan-Blau, allerdings so gerötet und tränennass, dass sie geschwollen waren. Als sie mich sah, funkelten sie kurz. Sie hatte blasse Lippen und ihr Haar war kurz und stand ihr in Strähnen vom Kopf ab, aber sie schien das nicht zu stören. Fay trug eine Jagdkluft, aber keine Dolche. Als mein Blick ihre Arme entlangwanderte, stutzte ich. Feine, frische Verkrustungen und kleine Narben zierten ihn, als hätte ihr jemand einen spitzen Ast über die Arme gezogen. Als sie meinen Blick bemerkte, steckte sie ihre Hände hinter den Rücken. Dann betrachtete sie mich. Sie musterte mich spitz, als sie erkannte, dass ich ihre neue Zimmergenossin sein würde. Fragend wandte sie sich an Kipsuni.
„Was soll das?", fragte sie. „Ich will allein sein. Sie ist fremd. Sie ist...sie sie doch mal an!"
„Es ist nicht ihre Schuld, was passiert ist, Fay. Du könntest Freunde gebrauchen, die dir beistehen", murrte sie knapp, dann wandte sie sich an mich. „Lass dir von ihr erklären, welche Tätigkeiten es gibt, die du erlernen kannst, und dann kommst du morgen, wenn die Sonne aufgeht, zu mir. Verstanden?" Sie wartete keine Antwort ab, sondern marschierte schnurstracks aus der Höhle. Es herrschte ein ungemütliches Schweigen, dann seufzte Fay.
„Kriegst du eigentlich auch mal den Mund auf?", fragte sie barsch. Ich funkelte sie wütend an.
„Ist das bei euch so eine Marotte? Jeden Neuankömmling mit dieser speziellen ‚Clanbegrüßung' gleich wieder davonzujagen?" Ich musterte sie trotzig.
„Marotte wohl weniger." Fay musterte mich spitz. „Immerhin kommt nur selten jemand, der sich ausgerechnet vom Rabenclan an ein Bäumchen binden lässt." Ich sah sie verblüfft an. Fay grinste. „Denkst du, ich weiß das nicht?", brummte sie in genervtem Ton. „Das ganze Lager ist informiert. Und ich würde das da", sie zeigte mit einem Finger auf mein Tattoo, „am Besten gleich mit ordentlich viel Lehm zuschmieren. Wahrscheinlich ist Kipsuni sowieso schon dabei, dir eine Deckfarbe dafür zu mischen. Der Rabenclan ist nicht gerade unser bester Freund."
Ich erwiderte nichts sondern sah mich in der Höhle um. Auf der rechten Seite lag ein dickes, gemütlich aussehendes Schlaffell in einer Grube und verschiedene Dinge wie Werkzeuge oder Kleider lagen ordentlich daneben.
„Das ist übrigens meins", kommentierte Fay. „Wenn du schon wo schlafen willst, dann nimm deine Seite." Ihr Gesicht mit den Sommersprossen wirkte wütend, obwohl es rot und voller getrockneter Salztränen war.
Ich sah auf die linke Seite. Auch hier lag ein Fell, aber ansonsten war alles kahl.
„Ich hätte wissen müssen, dass ich dich an der Backe habe. Als heute morgen das Fell reingeschleppt wurde, war ich gleich misstrauisch." Fay rümpfte die Nase. „Aber was soll man schon machen?"
„Glaub mir, mir wäre es auch lieber, zu Hause zu sein", erwiderte ich unbeeindruckt.
„Ach, du hast ein Zuhause?", meinte Fay schnippisch.
„Jetzt hör mal!" Ich war aufgesprungen und meine Nackenhärchen sträubten sich. Ich funkelte sie wütend an. „Ich weiß, was mit deinem Bruder passiert ist, und ich kann mir nur vorstellen, wie schrecklich das für dich ist. Aber ich habe selbst Probleme und kann es nicht gebrauchen, dass du mich so behandelst. Und dabei ist es mir egal, welche Probleme du hast – glaub mir, ich habe selber genug!"
Fay sah mich an, als hätte ich sie geschlagen. Ihr Kinn hatte sie trotzig nach vorne geschoben, doch ich erkannte, dass ihre Augenwinkel feucht wurden. Sie sah mich verbissen an.
„Ich hab gelauscht", stieß sie dann hervor. „ An Tarpas' Höhle. Ich weiß, welche Bestien dich großgezogen haben, ich hab alles gehört! Ich war gleich misstrauisch, als du mit Kipsuni zu Tarpas marschiert bist, und wie es scheint, habe ich Recht behalten!" Sie schüttelte wütend den Kopf. „Du bist nicht besser als diese Bestien, die Lorus umgebracht haben!"
„Es war ein Steinschlag!", protestierte ich, doch Fay unterbrach mich.
„Es ist alles eure Schuld!", presste sie heraus. „Eure Schuld! Wärst du nicht gekommen, dann wäre der Felssturz nie passiert! Der Bär hat ihn ausgelöst, als er den Stamm losgetreten hat! Deshalb ist Lorus tot! Wegen diesen Bestien und wegen dir!" Sie schluchzte. „Geh doch einfach, wenn du nicht bleiben willst. Ich denke, der Rabenclan wird schon seinen Spaß an dir haben, wenn du erst in ihre Schussweite kommst." Fay sprang auf, streifte sich wütend den Dreck von ihrer Kleidung und marschierte derart verspannt aus der Höhle, dass ihre Handgelenke zitterten. Ich starrte ihr nur nach und biss mir vor Wut auf die Lippe. Wie ich mich nur in den Menschen getäuscht habe, dachte ich verärgert.
Lorus' Bestattung fand am Abend statt, als es schon dunkel war. Mit Fackeln gingen wir alle zusammen den Felspfad hinauf bis zu den Felsplateaus. Auf einem kleinen Felsvorsprung wurde sein Leichnahm, in eine Decke gewickelt, abgelegt und mit Kräutern bestreut, die wundervoll rochen. Kipsuni verstreute Harz darauf, dann gab sie Tarpas ihre Fackeln. Der Anführer trat nach vorne und löste Kipsnuni ab.
„Es ist eine Tragödie, dass Lorus so früh von uns gehen musste", sprach er leise, aber doch kraftvoll. „Er war noch jung und stark, aber eins ist sicher: Er verweilt in seinem Totem. Ja, er hat seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Aber das Totem lebt in uns, nicht in einem Anhänger an einer Schnur, die wir als Zeichen der Bewährung erhalten. Und alle, die ihn gekannt haben, werden spüren, wenn er in der Nähe ist."
Obwohl ich Lorus nie gekannt hatte, stimmte mich die ganze Sache sehr traurig. Als Tarpas mit einer sanften, streichelnden Bewegung das Harz Feuer fangen ließ, traten die Gerüche der Kräuter erst richtig aus. Das Feuer war so groß, dass es mich blendete, und ganz fein drang der Geruch von brennendem Fleisch in meine Nase – allerdings nicht so viel davon, dass mir übel werden konnte.
Da gab das Feuer auf einmal ein knackendes Geräusch von sich, dass alle beteiligten zusammenzucken ließ. Es stieg höher auf, als wolle es nach den Sternen greifen, und im selben Augenblick formten seine Flammen eine Gestalt. Es war kein Mensch, dafür war es viel zu klein. Eine kleine schnauze formte sich, dann lange, breite Ohren und muskulöse Beine.
Bilde ich mir das nur ein?, dachte ich und bekam den Mund kaum zu, so überrascht war ich. Das konnte nicht passieren – es war unmöglich. Aber trotzdem formten die Flammen die Gestalt eines Feldhasen, so wie die, die ich manchmal in Nanuks Territorium gejagt hatte. Der feurige Pelz des Hasen zuckte, als er die Menschen musterte, und ich glaubte, dass er irgendjemanden suchte. Dann blinzelte er, drehte die Löffel und spannte die Muskeln zum Sprung an. Im selben Moment zerfegte ein Windstoß die Flammen und der Hase verschwand mitten im Sprung – und alles war, wieder so, wie es einige Momente zuvor schon gewesen war. Thymian- und Salbeigeruch, Flammen, Menschen, Sterne. Kein Hase.
Die letzte Szene zu schreiben war irgendwie traurig. Das ist ja Fassung C des Buchs, in Fassung B hat Lorus nämlich überlebt und war einer meiner Lieblings-Charas. Allerdings passt die Handlung nicht mehr zusammen, wenn Lorus überlebt. :-(
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