◊ 5.Kapitel ◊
Das erste, was ich roch, war der stechende Geruch von Salbei und Thymian. Meine Handgelenke brannten höllisch. Mein Kopf schmerzte, als hätte irgendjemand darin herumgeknetet, und als ich die Augen öffnete, fuhr ein schmerzhaftes Stechen in meine Augenhöhlen. Ich hatte das Gefühl, brechen zu müssen, und rappelte mich mühsam auf, damit ich meinen Bauch halten konnte. Erst jetzt sah ich die dicken, aus weichem Stoff gemachten Bandagen, die um meine wunden Handgelenke gewickelt waren. Mein ganzer Körper war verschwitzt und in ein dickes Fell gehüllt, dessen ursprüngliche Gestalt ich nicht kannte.
Du bist wie sie, hallten Rofus' Worte durch meinen Kopf. Ich schüttelte ihn, um diesen dummen Satz zu vertreiben.
Der Geruch von Rauch drang in meine Nase, vermischt mit etwas anderem... Es riecht nach Vogelfleisch!, erkannte ich. Der Geruch des Geflügels war unverkennbar. Erst jetzt hob ich den Kopf, um zu sehen, wo ich mich befand. Mir entfuhr ein kleiner Schrei, als ich eine in einen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt sah. Aus dem dünnen Stoff ragten zwei faltige Arme, die aussahen wie knorrige Äste oder Wurzeln, und die Finger umklammerten einen dünnen Holzlöffel, mit dem sie in einem Topf rührte. Das Tongefäß stand auf einer Art Gestell über einem kleinen Feuer, dessen Rauch einen verbrannten Geruch verströmte – allerdings wurde der vom Geruch des Salbeis, Thymians und Baldrians übertrumpft.
Ich lag in einer kleinen Höhle, die eigentlich ziemlich geräumig war, aber aufgrund der Kräuterbündel, die wie Wurzeln von der Decke hingen, ziemlich beengend wirkte. Die Wände waren glattgeschliffen, nur ein paar Vorsprünge und Spalten waren vollgestopft mit grünen Blättern, Fell oder Wurzeln.
Ich selbst lag in einer kleinen Nische, die so eng war, dass ich mir fast den Kopf gestoßen hätte. Die Wände hatten ein ganz eigenes grau, dass irgendwie nicht wie das von Felsen aussah. Ich zog meinen Arm hervor und betrachtete die Kleidung, die ich trug. Sie war so weich und leicht, dass ich eine ganze Weile nur erstaunt den Stoff begutachtete. Doch dann sprach die verhüllte Gestalt.
„Es ist schön, dass du wach geworden bist", meinte sie und ich erkannte sofort, dass es eine Frau war. Ihre Stimme war dermaßen hoch, dass ich verwundert aufblickte, als sie weitersprach: „Gerade rechtzeitig, jetzt, wo die Suppe doch fertig ist." Sie rührte noch ein letztes Mal in dem dampfenden Topf, dann griffen ihre knorrigen Finger nach den zwei Henkeln und holten ihn vom Gestell. Sie holte eine weitere Tonschale hervor, die mit blauen Schnörkeln verziert war und matt glänzte. Mit einem leisen Zischen goss sie die Flüssigkeit in die Schale. Ich beobachtete still, wie die weißliche Brühe in die Schale floss, ehe sie mir diese reichte. Ich rührte mich nicht.
„Nimm nur", forderte sie mich auf. „Ich werde dich schon nicht vergiften. Das ist nur Suppe. Du weißt doch, was das ist, oder?"
Ich sagte wieder nichts.
„Na gut, dann erkläre ich es dir. Das ist einfach heißes Wasser, Salz, Knoblauch, wilde Zwiebeln, ein Rebhuhn und ein paar Kräuter, die ich dir sicher nicht aufzählen werde, weil du davon sowieso nichts verstehst. Ist das genug für dich, oder muss ich dir jetzt vor Augen eine neue kochen?" Sie hielt mir wieder die Schale hin und seufzte, als ich sie nicht annahm. „Wirst du sie jetzt wohl nehmen! Oder hast du keine Lust, zu erfahren, wo du bist? Denn ich werde dir nur antworten, wenn du dieses Zeug trinkst!"
Widerwillig streckte ich eine Hand nach der dampfenden Schale aus und zuckte zusammen, als sie mir die Finger verbrannte. Ich betrachtete die schwimmenden Knoblauchstücke und erkannte die Zwiebeln, die leicht hin und her schwappten, als ich das Gefäß an die Lippen hob und vorsichtig trank. Die warme Suppe schmeckte intensiv nach Fett und Kräutern, aber ihr etwas herbes Aroma beruhigte meinen Magen, der wild zu knurren begonnen hatte. Ich gab der Frau langsam und wortlos die Schale zurück.
„Gut, dass du getrunken hast. Hattest du nötig", erklärte sie. „Hast du noch Hunger? Ich habe noch genug von diesem Zeug übrig, falls du es willst. Verzeih mir, aber der Geschmack ist für mich immer nebensächlich, wichtig ist die Wirkung." Ihr Mantel verdeckte noch immer ihr Gesicht. Ich sah sie verunsichert an. Wenn sie dir schaden wollte, dann hätte sie es längst getan, und dich nicht in einer warmen Höhle in ein Fell gewickelt, redete ich mir Mut zu. Langsam öffnete ich den Mund.
„Wer...bist du?", brachte ich heraus und die Frau hielt inne, als hätte ich sie gerade gefragt, ob sie ein Hirsch sei.
„Oh, du kannst ja doch sprechen", stellte sie fest. „Fast habe ich geglaubt, du wärst stumm, oder einfach nur zu dumm, um zu reden."
„Das bin ich aber nicht." Mit etwas mehr Selbstvertrauen betrachtete ich sie.
„Hm, ja, das habe ich auch gemerkt." Sie ließ ein leises Lachen hören. „Übrigens, um deine Frage zu beantworten: Mein Name ist Kipsuni." Ich war überrascht, als sie zu ihrer Kapuze griff und sie sich vom Kopf zog. Langes,Langes, zu einem Zopf geflochtenes silbergraues Haar wurde zu einem Zopf geflochten sichtbar.sichtbar. Ihn ihren wässrig-blauen Augen blitzte Schelm auf und auf ihrem Gesicht lag ein freundliches, einladendes Lächeln. Ihre Zähne waren blendend weiß und klein und sie hatte hohe, breite Wangenknochen. Ihre Augen waren von einem Nest aus Falten umgeben und ihre Haut war gebräunt, wirkte aber dünn und trocken.
„Was tue ich hier?", fragte ich wieder. „Wie bin ich hergekommen? Was ist..."
„Beruhige dich!" Sie hielt einen Finger an die Lippe, um mir zu deuten, dass ich leise sein sollte. „Ich bin dir wohl eine Erklärung schuldig, aber du hältst dafür den Mund." Sie hielt kurz Inne. „Also gut", meinte sie. „Ich bin, wie gesagt, Kipsuni. Ich bin die Schamanin dieses Clans."
„Clans?", unterbrach ich sie und erntete dafür einen strengen Blick ein.
„Ja. Weißt du das denn nicht? Hier, in diesen Wäldern, leben fünf Stämme. Fürs erste reicht es wohl, dass du weißt, dass sie sich Dachsclan, Rabenclan, Eschenclan, Lachsclan und Widderclan nennen."
„Und wo bin ich?"
„Du befindest dich im Dachsclan, mein Kind." Kipsuni strich sich eine gekräuselte Strähne ihres Haares zurück.
„Aber...aber wie bin ich hierher gekommen?", stammelte ich.
„Gestern Abend haben ein paar unserer Jäger beobachtet, wie unser benachbarter Clan, der Rabenclan, auf seinen Rentieren auf das karge Schotterland geritten ist. Und als sie später wiedergekommen sind, um herauszufinden, was da los war, haben sie dich gefunden. Du warst schwach, hattest nichts getrunken und gegessen und von deinen Handgelenken fangen wir gar nicht erst an. Also habe ich mich um dich gekümmert. Du hast einen ganzen Tag geschlafen – und den Rest kennst du ja."
Als ich schwieg, um das alles zu verarbeiten, nahm sie eine Hand voll Sand aus einem Topf und löschte damit das Feuer. Erst dann sah sie wieder zu mir.
„Wie heißt du, Kind? Oder hast du gar keinen Namen?" Sie sah mich stirnrunzelnd an. „Das glaube ich kaum. Wenn du überlebt hast, kannst du damals ja nicht allzu klein gewesen sein, und jedes anständige Kind hat einen Namen. Jetzt ist bloß noch die Frage, ob du dich an ihn erinnerst."
„Ich bin doch nicht blöd", erwiderte ich. Kipsuni musterte mich interessiert, dann lächelte sie.
„Was ist?", fragte ich skeptisch und lugte flüchtig auf den Suppentopf. Kipsuni musste meinen Blick bemerkt haben, denn sie schenkte mir abermals Brühe ein.
„Ich bin nur erstaunt, wie tief deine Stimme ist. So rau und eindrucksvoll." Sie gab mir die gefüllte Schale wieder in die Hand und ich schlürfte vorsichtig die Suppe, damit ich mich nicht wieder verbrannte.
„Wieso sollte sie nicht so sein?", fragte ich verwirrt.
„Die meisten Mädchen in deinem Alter haben eine...hohe Stimme. Nur Männer haben tiefe Stimmen."
„Klinge ich so wie ein Mann?", fragte ich mit gerunzelter Stirn.
„Nein, aber anders. Tief für ein Mädchen, wie du eines bist", meinte Kipsuni wieder. „Aber lassen wir das. Fühlst du dich besser? Du musst doch Kopfschmerzen haben, oder?" Ihre Worte erinnerten mich an den dumpfen Schmerz, der in meinem Schädel pulsierte.
„Ein bisschen", gab ich zu. Sie nickte nur, als hätte sie meine Antwort schon vorausgeahnt und holte einen kleinen Tonkrug hervor, in dem eine dunkle Flüssigkeit schwamm.
„Es sind Mohnsamen und ein paar andere Dinge drin, aber die Wirkung des Mohns ist betäubend. Nimm nur ein oder zwei Schluck, und wenn es nicht hilft, dann sag es mir. Es könnte allerdings ein bisschen dauern, denn zaubern kann ich nicht."
Ich nickte, nahm gehorsam die Schale und legte sie an die Lippen, in Erwartung, wieder die aromatischen Kräuter zu schmecken. Ich verzog die Lippen, als ein süßlich-bitterer Geschmack über meine Zunge strömte und hätte den Sud am liebsten ausgespuckt, denn seine Kälte machte ihn nicht gerade besser. Doch als ich Kipsunis warnenden Blick sah, schluckte ich und schaffte halb würgend noch einen zweiten Schluck, ehe ich die Flüssigkeit wieder abstellte und versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken, der in mir aufstieg.
„Genug des Dramas", bemerkte Kipsuni kühl, als sie mich beobachtete. „Ich will jetzt einige Dinge von dir erfahren und du wirst mir meine Fragen ehrlich beantworten, ansonsten kannst du mir keine Fragen deinerseits stellen. Und die wirst du stellen, oder du kannst zusehen, wie du allein zurechtkommst, inmitten eines fremden Clans." Clan?, dachte ich verwirrt, aber ich hielt den Mund, als Kipsuni weitersprach: „Hast du das verstanden?"
„J-ja", brachte ich heraus und empfand tiefe Ehrfurcht vor dieser alten Frau.
„Gut. Und glaub ja nicht, du könntest lügen. Denn glaub mir, ich weiß, wenn jemand lügt!" Sie sah mich so streng an, dass ich schlucken musste.
„Ja", antwortete ich wieder gehorsam.
„Gut." Besänftigend erwiderte sie ein mattes Lächeln. „Meine erste Frage lautet, von welchen Menschen du aufgezogen wurdest."
Ich sah sie verdattert an. Doch ich erwiderte nur: „Von keinen."
„Die Wahrheit, habe ich gesagt."
„Ich sagte, dass ich von keinen Menschen aufgezogen wurde", bekräftigte ich. „Ich dachte, du erkennst, ob jemand lügt." Ich sah sie trotzig an. Kipsuni verzog die Augenbrauen, dann seufzte sie.
„Ja, du sagst die Wahrheit, soviel steht fest. Aber wenn es kein Mensch war, wer war es dann, der dich aufgezogen hat?"
Ich fühlte mich unwohl, als sie so in meiner Vergangenheit herumbohrte.
„Muss ich es denn sagen? Würde dir das so viel helfen? Das letzte Mal, als Menschen meinen Bruder gesehen haben, haben sie versucht, ihn umzubringen", sagte ich.
„Dann ist dein Bruder ein Tier, oder?", stellte Kipsuni fest.
Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „J-ja. Aber woher...?"
„Was sollte es sonst sein, wenn es kein Mensch ist?", meinte sie schmunzelnd. „Es ist zwar selten, aber trotzdem möglich. Ein kleines Raubtier wie ein Fuchs wäre möglich vielleicht auch ein Dachs."
„Nein." Ich sah sie ernst an. „Das stimmt nicht."
„Nicht?", fragte sie und grinste. Wahrscheinlich glaubte sie, ich würde es einfach nicht zugeben wollen. Ich biss mir auf die Lippe und antwortete:
„Ein Grizzly."
Es herrschte eine solche Stille, dass mir unbehaglich zumute wurde. Ich sah Kipsuni an, in Erwartung, dass sie wieder alles schon geahnt hatte – aber so war es nicht. Sie sah mich an, als würde sie erwarten, dass ich jeden Moment mit „Das war ein Scherz!" rausplatzen könnte.
„Ein...?", stieß sie hervor, doch ich unterbrach sie.
„Als ich klein war, wurde ich von einem Grizzly gefunden und großgezogen. Ich lebe auch heute noch bei meiner Bärin. Mein Bruder wurde vor etwas mehr als zwei Zyklen geboren."
„Grizzly", hauchte Kipsuni, als könne sie es nicht verstehen. „Das ist unmöglich...wie kann ein Bär dich großziehen? Sie sind die größte Gefahr für einen Menschen hier!"
„Sie sind nicht so", erwiderte ich sofort. „Sie sind besser als Menschen – sie sind einfühlsam und treu und gutherzig. Sie umsorgen sich."
Kipsuni schien sich wieder gefasst zu haben, denn sie brachte in mattes Lächeln hervor.
„Du bist unglaublich, Kind." Sie schüttelte wieder den Kopf. „Einfach unglaublich." Dann rappelte sie sich auf und versuchte ein halbherziges Lächeln. „Und dein Name...?"
Ich zögerte kurz. Ihre wässrigen Augen musterten mich und ich sah Interesse, Sorge und Neugier darin aufblitzen. Ihr konnte ich vertrauen, wurde mir klar.
„Amila", erwiderte ich da. „Mein Name ist Amila."
Kipsuni wechselte meine Bandagen an den Händen, gab mir noch einmal den süßlich-bitteren Mohnsamen-Sud und ließ mich drei Schalen mit Suppe trinken, ehe sie mir ein Gewand aus Fell gab.
„In dem Zeug kannst du doch unmöglich raus. Da ist für Kranke und außerdem ist es dir zu groß. Zieh das an, das müsste passen." Das tat es auch. Die Hose schmiegte sich an meine Beine wie eine zweite Haut und war eher funktionell, auch das Oberteil passte perfekt, lediglich die Ärmel waren etwas zu kurz. Das Leder fühlte sich gut an und als Kipsuni mir das Haar zu einem Zopf flocht, fühlte ich mich gleich viel besser.
„Danke", brachte ich hervor und setzte mich auf den Höhlenboden. Ich hatte es bis jetzt noch nicht einmal gewagt, aus der Höhle zu schauen.
Kipsuni glättete mit ihren Händen den weichen Umhang und flocht sich einen neuen Zopf. Mit den Worten „Wir gehen" wollte sie sich zum Ausgang der Schamanenhöhle wenden.
„Gehen?" Ich sah sie nach einer Erklärung suchend an.
„Denkst du, du kannst einfach ins Lager kommen, ohne vorher mit dem Anführer gesprochen zu haben?" Kipsuni sah mich an, als wäre es das logischste der Welt.
„Ich bin nicht gekommen, ihr habt mich hergeholt", verbesserte ich sie leise.
„Das einzige, was du tun musst, ist, respektvoll zu sein. Rede ihn mit ‚Sie' und ‚Ihr' anstatt ‚du' an. Schaffst du das? Ich finde, das ist alles bloß Rumgewinsel, weshalb ich es auch nicht brauche, aber das Oberhaupt solltest du respektvoll ansprechen."
Ich nickte leise. „Und um was geht es?"
„Um das da", meinte Kipsuni und deutete auf meinen Knöchel mit dem Tattoo. „Du kommst eindeutig aus dem Rabenclan, wo du doch das Federtattoo trägst."
„Aus dem Rabenclan?", rief ich entsetzt. Kipsuni sah mich verwirrt an.
„Oh, stimmt, du weißt ja nichts von den Tattoos und den Augenfarben, richtig?"
Ich sah sie verständnislos an.
„Jeder Clan", sagte Kipsuni ganz langsam, als wäre ich begriffsstutzig, „hat eine Augenfarbe. Nur eine. Keine Mischfarbe, keine zweifarbigen Augen, nur die eine Augenfarbe. Und ein Tattoo."
Ich griff instinktiv zu der Rabenfeder, die meinen Knöchel zierte.
„Jaja, du begreifst", meine Kipsuni, als sie bemerkte, was ich tat. „Hast du eigentlich oft dein Spiegelbild begutachtet?"
„Nicht oft", gab ich zu. Im Fluss konnte ich mich nicht betrachten und außerdem war der Fakt, dass ich dunkles Haar hatte, mir eigentlich fast genug.
„Dann wird es dich wahrscheinlich überraschen, dass deine Augen das Problem sind", meinte Kipsuni und sah mich prüfend an.
„Meine Augen?" Rofus' Worte kamen mir in den Sinn. Sie ihr in die Augen...
„Weißt du, jeder Clan hat eine Augenfarbe. Das siehst du doch bei mir schon. In meinem Clan haben alle blaue Augen – ich denke nicht, dass du jemand anders treffen wirst."
„Und der Rabenclan...", reimte ich mir zusammen, doch Kipsuni unterbrach mich.
„Braun, ja. Das ist auch egal. Falls du aufgenommen wirst, dann kannst du das alles noch lernen."
„Falls ich aufgenommen werde?", echote ich. „Ich glaube, du verstehst nicht. Ich will gar nicht bleiben. Ich kann gar nicht. Mein Bruder schwebt in Gefahr. Was ist, wenn der Rabenclan ihn findet, Kipsuni?"
„Ist er noch jung?", hakte die Schamanin da nach.
„Ich...äh, ich denke schon. Er ist noch nicht ausgewachsen", gab ich als Antwort, obwohl ich nicht recht verstand, welchen Unterschied das machte.
„Bären zu töten ist zwar ein Akt der Kraft und des Mutes, allerdings kommt es recht selten, dass jemand ein Jungtier tötet. Kein Fleisch, kein Fell, kein Ruhm, verstehst du?", erklärte mir Kipsuni.
„Aber der Rabenclan hat versucht, ihn zu töten, als wir bei ihrem Fest aufgekreuzt sind", warf ich ein.
„Ja, er ist ja auch ein Bär." Ich konnte spüren, dass Kipsuni es immer noch nicht ganz glauben wollte. Und ich verstand einfach nicht, wieso dass ein Grund sein sollte, ihn zu töten.
„Und wieso haben sie uns verfolgt?", hakte ich nach. „Sie hätten ihn doch ziehen lassen können, als..."
„Das, mein Kind, ist wohl dein Werk", sagte sie hart.
„Wegen meinen Augen?"
„Ja. Falls es dir aufgefallen ist – sie sind zweifarbig. Gemischt, verstehst du? Du hast braun, grün, ein wenig blau und sogar golden darin. Ein schönes Gemisch." Der letzte Satz war sarkastisch gemeint.
„Und was heißt das?"
„Dass du aus verschiedenen Clans kommst, du Dummerchen!" Kispuni zeigte auf meine Brust. „Du bist ein Mischling. Nach unserem Gesetz sind die verboten." Auf einmal wirkte sie mitleidig. „Du wurdest ausgesetzt. Ausgesetzt, weil dieses Verhalten nicht toleriert werden kann." Sie seufzte, als wolle sie gleich mit einem ‚tut mir leid' anfangen, doch es kam nicht. Ich blinzelte sie an und wartete fast darauf, dass es nur ein weiterer sarkastischer Scherz war, aber Kipsunis Mitleidige Miene ließ das nicht zu.
„Aber...aber...meine Eltern...", begann ich leise, doch ich verstummte.
„Es ist eine Qual für jedes Elternteil, wenn ein Mischling durch verschiedene Augenfarben gekennzeichnet ist. Es kommt öfters vor, dass der Mischling aussieht, wie es ein reinrassiger Clanmensch tut. Aber du..."
„Dann hat Rofus die Wahrheit gesagt", hauchte ich und spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte. Ich hatte mich bis jetzt so sehr an diesen Hoffnungsfaden geklammert – an die Möglichkeit, dass Rofus mich einfach angelogen hatte, um gehässig zu sein – dass es nun fast so war, als würde man mich ein zweites Mal an einen Baum fesseln und dort zurück lassen.
Auf einmal spürte ich Kipsunis Hand auf meiner Schulter und zuckte zusammen, als ihre Wärme durch meinen Körper strömte. Ich war noch nie so berührt worden, nicht einmal von Nanuk. Diese Berührung jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Ich denke nicht, dass deine Mutter oder dein Vater das gewollt hat", meinte Kipsuni seufzend. „Die meisten Eltern, die auf solche Weise ein Kind verlieren, sind danach nicht mehr sie selbst."
„A...aber...", hauchte ich, doch ich verstummte und schluckte. „Aber wenn ich zurück bin...meine Eltern müssen es doch erfahren..."
„Deine Eltern sind unbekannt, mein Kind." Kipsuni schüttelte den Kopf. „Es...es..." Dann verstummte sie abrupt und stand auf. Ihre Hand verließ den Platz an meiner Schulter und ich blickte zu ihr auf, als sie über mir stand.
„Sieh, mein Kind – du hast jetzt die Chance, bei den Clans zu leben. Du kannst bei deiner Art sein und der Rabenclan darf dich hier nicht jagen. Wenn du es nicht tust und zu den Bären zurück kehrst, dann wird der Rabenclan so lange Jagd auf dich machen, bis er dich hat. Verstehst du das jetzt endlich?"
„Die Moorlandschaft ist groß", protestierte ich, doch Kipsuni schnitt mir das Wort ab.
„Und sie ist von den Clan eingeschlossen", sagte sie hart. „Das heißt, dass du dort früher oder später gefangen bist. Viel Schutz gibt es ja nicht, außer den vereinzelten, winzigen Wäldchen." Sie sah mir in die Augen. „Ich bin sehr gut darin, Menschen einzuschätzen, Kind. Und bei dir sehe ich eindeutig das Verlangen, verstanden zu werden. Du musst die Bären nicht hassen, du kannst sie weiterhin lieben. Aber du bist alt genug. Was, wenn sie dich nicht mehr tolerieren? Dann bist du allein." Damit hatte sie all die Sorgen ausgesprochen, die mich schon so lange plagten. Was, wenn Nanuk mich nicht mehr in der Bärenhöhle schlafen ließ? Wenn Robby so groß war, dass er nichts mehr von mir wissen wollte?
„Und mein Bruder?", fragte ich.
„Wenn er auftaucht, werde ich dafür sorgen, dass ihm nichts geschieht. Unser Anführer Tarpas wird das auch verstehen."
„Aber ich konnte mich nicht von ihm verabschieden", murmelte ich und im selben Moment wurde mir klar, dass ich meine Entscheidung schon getroffen hatte.
„Und wenn du ihn jetzt suchst?", meinte Kipsuni mit hochgezogener Augenbrauche. „Was denkst du, wird passieren? Glaubst du, er würde akzeptieren, dass du einfach fortgehst?" Nein, das würde er nicht.
„Meinst du, er denkt jetzt, dass ich fort bin? Für immer? Vielleicht sogar tot?" Den Satz auszusprechen verlangte mir viel ab.
„Er wird es so leichter akzeptieren – ansonsten würde er wahrscheinlich denken, dass du ihn abschiebst", tröstete Kipsuni mich. „Es reicht, Amila. Glaub mir, du tust das richtige. Du würdest ihm nur wehtun, wenn du dich ihm noch einmal zeigst. Du willst ihn doch wohl nicht der Gefahr der Clans ausliefern, oder?"
„Natürlich nicht!"
„Dann wird ihm das, was dir passiert ist, eine Lehre sein." Am liebsten hätte ich sie angebrüllt, als ich sie so sprechen hörte. Vor allem, weil ich wusste, dass sie recht hatte.
„Gut", gab ich mich geschlagen. „Gehen wir zu deinem Anführer."
Kipsuni klang erleichtert, als sie „Komm" sagte und mich zum Ausgang ihrer muffigen Höhle brachte.
Ich vergaß für einen kurzen Moment alle meine Sorgen. Ich hatte mir das Lager bei weitem nicht so schön und idyllisch vorgestellt, wie es war. Kipsunis Höhle befand sich auf einer Anhöhe und eine Felsenrampe führte in die Grube, die das Lager bildete. Hinter der Schamanenhöhle erhob sich eine fast senkrechte Felswand, die nur durch einen Steinpfad passierbar war. Rechts unter ihrer Höhle waren für mich unzählig scheinende andere Höhlen in das Gestein gebohrt worden. Dort, wo keine Felswand lag, umgab eine Mauer das gesamte Lager. Sie bestand aus Baumstämmen, Ästen und Moos, mit dem man die Löcher abgedichtet hatte. Das musste eine Heidenarbeit gewesen sein.
Im Zentrum des Lagers war ein großer Felsvorsprung, der von der Felswand ausging. Darunter konnte ich den schwachen Schein eines Feuers sehen, obwohl es Tag war, und überall wuselten Menschen herum.
Auf der linken Seite der Grube, wo überall Felsen aus der Erde stachen, war reges Treiben und mehrere Feuerstellen waren im Gange. Etwas neben dem zentralen Platz war unter ein baar Felsen ein Unterschlupf eingerichtet worden, zu dem sogar ein Trampelpfad führte. Ich konnte die feinen Rinnsale eines Bachs erkennen, der sich trotz der vielen Äste einen Weg durch den Wall gebahnt hatte und irgendwo ganz unten das Lager wieder verließ.
„Beeindruckend, oder?", hörte ich Kispuni hinter mir. Ich brachte nur ein nicken zustande.
„Was ist das alles?", stammelte ich und ließ meinen Blick über das Lager schweifen.
„Ich erkläre es dir, wir kommen gleich an allem vorbei." Sie zeigte auf den Fels-Unterschlupf. „Das da ist Tarpas' Höhle."
„Und das?", fragte ich und deutete auf den Felsvorsprung.
„Das ist unser Zentrum. Die Wände des Vorsprungs sind voller Geschichten, die unsere Vergangenheit erzählen." Sie lächelte, als sie meinen beeindruckten Gesichtsausdruck sah. „Dort brennt ein großes Feuer und wir finden uns dort ein, um zu essen."
„Ihr esst alle zusammen?", keuchte ich. „Aber ihr seid so viele...!"
„Das, was wir jagen, kommt dorthin." Kipsuni zeigte auf den Teil mit den Felsspitzen und den vielen Feuern. „Dort wird es verarbeitet. Die Menschen, die das tun, nennen sich Fleischer." Sie drehte sich um und zeigte dann die Felswand hinauf. „Dort oben kommen die Felle hin. Die Felsen werden warm, wenn die Sonne darauf schein, und unsere Gerber gerben dort die Felle."
„Ihr bekommt so viel Fleisch, dass ihr jeden Tag davon essen könnt?", meinte ich ungläubig.
„Wir haben ein paar gute Jäger und wir stellen Fallen. Das ist unsere Spezialität. Außerdem essen wir ja nicht nur Fleisch. Oder hast du das getan?", meinte sie glucksend. „Wir essen ja auch Beeren, Wurzeln, Knollen, Pilze, Honig, Pflanzen und Fisch. Irgendwo dort drüben", erklärte sie und deutete über einen schier endlosen Mischwald, der das Lager umgab, „irgendwo dort ist der große Fluss. Wir haben eine gute Fischstelle."
Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Dass sie sich alle die Arbeit teilten, war unglaublich.
Wir gingen die Felsrampe hinab ins Lager. Die Menschen, die dort arbeiteten, sahen gar nicht wirklich auf, als wir vorbeikamen. Das war gut so, denn es wär mir peinlich gewesen, wenn sie mich alle angeglotzt hätten. Schon genug von ihnen musterten mich skeptisch, aber da ich neben Kipsuni ging, schienen sie nichts sagen zu wollen.
Als wir am Zentralpunkt vorbeikamen, wäre ich am liebsten stehen geblieben. Während man von oben nur Gras und Flechten sah, war er von unten geradezu imposant. In langen Kreisen zogen sich dort Bilder und Erzählungen wie eine Schlange über die Wand und lange Holzstämme und -stümpfe bildeten die Sitzgelegenheiten.
„Das ist unglaublich", hauchte ich und wurde etwas rot, als ich an die windschiefen Unterschlüpfe dachte, die ich mir auf Jagdzügen baute.
„Du gewöhnst dich daran", antwortete die Schamanin mir nur und führte mich weiter in Richtung Tarpas' Höhle. Jetzt konnte ich auch das große Loch sehen, dass in den Wall hineingemacht worden war. Daneben war etwas, das wie ein großer, aus Zweigen und Ästen gemachter Deckel aussah.
„Und Tarpas ist die ganze Zeit in der Höhle?"
„Was?" Kipsuni musste kichern, als ich sie das fragte. „Nein, natürlich nicht. Von Beruf ist er einmal ein Wächter gewesen..."
„Ein Wächter?"
„Das ist jemand, der sich um die Sicherheit des Lagers kümmert. Auch jetzt tut er das noch. Er wartet schon auf uns", erklärte sie geduldig. „Sieh, jetzt müssen wir..." Sie kam nicht weiter. Ein geller Schrei hallte über die Lichtung und ich fuhr herum. Mein ganzer Körper war angespannt. Kipsuni reagierte nicht ganz so wie ich, ihr Kopf ruckte nur in Richtung des Geräusches. Im Lagereingang stand ein Mädchen. Es war etwas kleiner als ich, musste aber in etwa genau so alt sein. Die kurzen rot-blonden Haare standen ihr wild vom Kopf ab und um ihre braunen Augen waren Sommersprossen zu sehen. Sie trug ein eng anliegendes Gewand, an dessen Brustteil mehrere Schlaufen zu sehen waren, und einen Gürtel, an dem eine kleine Tasche hing. Ich konnte sogar von hier sehen, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie wirkte unglaublich zerbrechlich und war kreidebleich. Die Arbeitenden hörte mit dem, was sie gerade getan hatten, auf, und blicken auf das Mädchen. Und dann sprach es.
„L-Lorus!"
An alle, die das Kapi vorher schon gelesen haben: Ja, ich hab zwei zusammengefasst und die Handlung geändert.
An alle, die es nicht getan haben: Vergesst die obere Zeile xD
Ein Fakt: Der Name "Kipsuni" kommt von dem Wort "Kitsune". Ich finde, er passt gut zu ihr.
Quizfrage: (hat leider auf die letzte keiner geantwortet)(okay, es ist erst 2 Tage her)(ich sollte mit den Klammern aufhören)
GLAUBT IHR, DASS AMILA AUFGENOMMEN WIRD ODER DENKT IHR EHER NICHT?
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