19. Kapitel


„Nein." Ich starrte nur ungläubig auf die dunklen, kalt schimmernden Wassermassen. Ließ mich auf den Boden sinken, ungläubig, wütend, verzweifelt. „Nein. Nein, das kann nicht sein." Ich blinzelte, als wäre das alles ein schlechter Traum, den ich damit vertreiben konnte. „Nein, nein, NEIN!" Das letzte Wort schrie ich aus mir heraus, voller Wut und Verzweiflung und Angst vor dem, was als nächstes kommen würde. Ich stand auf und machte ein paar Schritte auf den Vorsprung hinaus und mir wurde schlecht, als ich sah, wie tief es da hinabging.
Rufe schallten durch den Weg, den wir schon gekommen waren. Ich hörte wie aus weiter Entfernung das Scharren der Elchhufe und das Geräusch von Stiefelsohlen, die auf dem Felsen aufkamen. Als ich mich immer noch ungläubig umdrehte, sah ich Robby, der mit gesträubtem Pelz zu mir auf den Vorsprung kam. Dort, wo er vor kurzem noch gestanden hatte, war nun Rofus. Hinter dem Rabenclan-Anführer stiegen die Zwillinge, die schon bei meiner Gefangenname dabei gewesen waren, und Hibikue ab.
Als Robby bei mir angelangt war, drückte er seinen Kopf gegen meinen Bauch und hob seine Vorderpfote an, um die Schulter nicht zu belasten. Bei dem Gedanken daran, dass Rofus ihn angeschossen hatte, brodelte es in mir.
„Wer hätte gedacht, dass es so einfach wird?", meinte Rofus und genoss die angespannte Stimmung, die nun herrschte. „Überall hättet ihr fliehen können, aber ausgerechnet zu diesem See?" Er machte ein paar Schritte an den Abgrund und schaute hinab. „Der Geistersee, hm." Er sah wieder zu mir. „Weißt du, dass es früher als Mutprobe galt, hier hinunter zu springen? Viele Junge Männer haben das getan, oh ja, sehr viele. Und wäre es nicht mittlerweile verboten, würden es heute noch viele tun. Aber ausgerechnet ihr? Ihr wollt dort springen?" Als ich an die Wassermassen dachte, wurde mir schlecht. Ich konnte nichts erwidern, die Angst lähmte mich komplett. Rofus grinste, als er das bemerkte. „Nun, irgendwie schade, dass das alles so enden muss." Er blickte zu Robby. „Vor allem, da dein kleiner Bruder ja nichts damit zu tun hatte, oder?"
Ich ballte die Fäuste, als er das sagte.
„Ich habe schon einmal jemanden angeschossen, weil er ihm wehtun wollte", spuckte ich ihm ins Gesicht. „Doch bei dir würde ich nicht auf die Schulter zielen, glaub mir."
Während sich Hibikue hinter Rofus verkrampfte, amüsierte sich der Rabenclan-Anführer nur über meine Worte. „Oh, verstehe. Nun, ich denke, das beruht auf Gleichseitigkeit." Er deutete auf meinen Bruder. „Ein Konflikt, den er hier genauso wenig überleben wird wie du."
„Was hab ich dir jemals getan?", platzte ich heraus und machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Was habe ich jemals falsch gemacht, damit du mich hassen musst?"
„Falsch gemacht? Das fragt sich ein Mischling wirklich?" Rofus lachte. „Allein, dass du lebst, ist gegen das Gesetz und gegen die Geister..."
„Die Geister?", blaffte ich. „Oh, du glaubst nur an das Gesetzt, nicht an die Geister! Die Geister sind nicht das Gesetz, aber das scheinst du nicht zu verstehen."
„Sei still!", brüllte Rofus und ballte die Fäuste. „Du weißt gar nichts. Du weißt nichts über mich und Asrale, nichts, nichts, nichts!"
„Du wolltest sie umbringen", knurrte ich so leise, dass nur er es hören konnte. „Du hast sie geblendet und verstoßen, du widerliches..."
„Rede nicht so mit mir!" Rofus ganzer Körper bebte. „Nicht mit deinem...Vater, du Miststück!"
Es war, als würde die Zeit stillstehen. Ich blinzelte ihn nur an, wollte etwas erwidern. Er war verrückt, durchgedreht, gestört, ein Mörder...aber nicht mein Vater. Er durfte nicht mein Vater sein.
„Tja, da stehst du nun und begreifst nicht, oder?" Ich konnte Rofus' Augen nicht ablesen, ob überhaupt noch ein Funken Vernunft in ihm war, bemerkte die Reaktion seiner Clangefährten kaum.
„Natürlich", murmelte ich. „Deshalb..." Deshalb wusste Erl nicht, wer der Vater ist, als er zurückkehrte.
„Ich bin dein Vater", wiederholte Rofus und verkrampfte sich, „aber ich wünschte, ich wäre es nicht. Als ich angefangen habe, Asrale zu lieben, habe ich mich von den Geistern abgewandt. Und ausgerechnet meine Tochter musste die Merkmale eines Mischlings besitzen! Was hat es geholfen, dass ich dir das Rabenclan-Tattoo habe machen lassen? Dein Augen haben sich ja doch nicht verändert, nicht wahr?" Er funkelte mich an. „Und immer, wenn ich versuche, meine Fehler wieder gut zu machen...", knurrte er leise, „kommst du dazwischen."
„Deine Fehler?", stöhnte ich. „Ich bin für dich ein Fehler? Du bist mein eigener Vater und wolltest mich von Anfang an umbringen! Du wolltest meine Mutter umbringen! Dich schert es nicht, wer dabei zu schaden kommt! Weißt du was? Damit hast du dich mehr von den Geistern abgewandt, als irgendjemand anderer es je gekonnt hätte! Das verdammte Gesetz sind nicht die Geister, aber du bleibst lieber dem Gesetzt treu und löschst dein Familie aus, als dass du das einzig richtige tust und..."
„Ich werde das einzig richtige tun", knurrte Rofus. „Ich habe mich in Asrale verliebt, ja. Und wärt ihr nicht geboren worden, dann wäre nichts passiert!" Ihr...?
„Was meinst du...?"
„Ja, ihr! Ihr, ihr Miststücke, die mein Leben zerstört haben! Und das wird vom heutigen Tag an ein Ende haben!" Rofus hatte seinen Bogen schneller hervorgezogen, als ich reagieren konnte. Schon stand er vor mir, die scharfe Spitze des Pfeils auf meine Brust gerichtet.
„Es...es hat keinen Sinn...", brüllte er. „Es ist das einzig richtige, was ich tun kann!"
„Hör zu!", rief ich und hielt besänftigend die Hände nach oben. „Du musst nicht..."
„SCHWEIG!" Er ließ los. Der Pfeil löste sich lautlos von der Sehne und kam auf mich zugerast. Ich spürte Robbys Atem in meinem Nacken und als plötzlich seine Tatze auf meinem Rücken landete und mich zu Boden drückte, stand er auf den Hinterbeinen und brüllte Rofus drohend an. Er hatte den Pfeil nicht gesehen. Das Geräusch, dass der Schaft machte, als er in Robbys Brust traf, würde ich niemals vergessen.
Er stand einfach da, als wäre nichts geschehen, und blinzelte überrascht. Mein Atem stockte, als ich ihn so ansah und es fühlte sich an, als wäre mein Kehle zugeknotet.
Völlige Stille – und dann fiel er. Ich schrie, als sich seine Tatze von meinem Rücken löste, er taumelte und rücklings in die Tiefe stürzte. Ich brüllte. Weinte. Schlug mit den Händen auf den Stein, bis Blut floss. Schrie seinen Namen, wieder und immer wieder, während ich spürte, wie heiße Tränen über meine Wangen flossen. Das wellenschlagende Wasser unterhalb des Vorsprungs beruhigte sich wieder, regte sich nicht. Nichts tauchte auf.
Mein ganzer Körper bebte vor Schmerz, als ich mich zu Rofus umwandte. Tränen rannen mir über die Wangen und ich konnte die Schreie nicht stoppen, die unaufhörbar aus meiner Kehle strömten.
Rofus kam langsam auf mich zu, die Augen ungläubig vor Wut aufgerissen. Sein ganzer Körper zitterte vor Wut, als er zu mir an die Felskante kam. Vielleicht hatte er erwartet, dass ich schwach sein würde, ausgelaugt, ohne Antrieb. Doch er hatte genau das Gegenteil heraufbeschworen.
„MÖRDER!" Mit einem gellenden Schrei sprang ich auf und stürzte mich auf ihn. „MÖRDER, MÖRDER, MÖRDER!" Mir war es egal, wie er umkommen würde. Und wenn ich mit ihm zusammen in den Tod stürzen würde – mir war es recht.
Ich stürzte mich auf Rofus, packte seine Kehle und fiel mit ihm zusammen um. Er versuchte, mich von ihm wegzuzerren – vergeblich und unnütz. Er hatte meinen Bruder umgebracht. Er hatte ihn kaltblütig ermordet – nein, er wollte mich ermorden, nicht meinen Bruder!
Ein Ruck durchfuhr uns beide und ein Schmerzensschrei entkam mir. Ein unbeschreiblicher Schmerz durchschoss mich, lähmte mich, machte mich Bewegungsunfähig. Ich stand auf, langsam und taumelnd und suchte mein Gleichgewicht. In Rofus' Augen spiegelte sich Überraschung, bis unsere beiden Blicke auf Hibikue trafen. Er hatte den Bogen noch in der Hand, hatte den Pfeil losgelassen.
Ich taumelte wieder, als ich mir den Pfeil in meinem Rücken bewusst wurde. Versuchte, dass Gleichgewicht zu halten, zu Rofus zu gehen und mich wieder auf ihn zu werfen. Doch plötzlich, als ich etwas warmes meinen Rücken hinunterlaufen spürte, konnte ich nicht mehr. Nicht mehr laufen, gehen, stehen – und ich viel. Der Fels war verschwunden, kalte Luft peitschte mir um die Ohren. Verschwommen sah ich über mir den Felsen, Rofus' Gesicht, der mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen auf mich starrte, und dann war da nur mehr Wasser. Eiskaltes Wasser, dass mich verschlang und mich lähmte. Ein Aufprall, dessen Wucht mir den Pfeil tiefer ins Fleisch trieb. Und Schwärze, gähnende, dunkle Schwärze.

Da ist es. Das traurigste Kapitel, welches ich je geschrieben habe. Ich sage euch, ich hätte fast geheult.

Welcher treuer Amila-Leser hat es bis hierher geschafft? Bis ins Finale? Bitte schreibt es in die Kommis!!


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