14. Kapitel


Schreckliche Träume suchten mich heim, doch ich träumte nicht von Kimi. Das überraschte mich, denn meine letzten hatten sich fast ausschließlich über das Geistermädchen gedreht – im Kopf hatte ich all das wieder durchgelebt, was ich im Geisterreich erfahren hatte. Und wie die weichen Federn des Kükens meine Hände berührt hatten. Die kleinen, funkelnden Augen, die mich so fixiert hatten, konnte ich nicht vergessen. Aber was ist an dir so besonders, dass sogar die Geister mir auftrugen, dich zu finden?
Als ich aufwachte, war ich schweißgebadet und meine Seite war geschwollen und blau-grün. Die Rippe schien wirklich gebrochen zu sein, denn es tat furchtbar weh, aufzustehen.
Ich befand mich in Kipsunis Höhle, was an sich keine große Überraschung war. Sie hatte mir ein nasses, kühles Tuch auf den Kopf gelegt und meine Wunden gesäubert. Als ich aufstand, saß sie gerade neben einer weiteren Gestalt, die reglos auf einem Fell lag. Mutter...
„Ist sie tot?", keuchte ich, als ich Asrales aschfahles Gesicht sah. Hob sich ihre Brust noch? Oder war sie an der Vergiftung gestorben?
„Amila." Kipsuni hielt mich zurück, als sie sich umgedreht hatte. „Pass auf. Deine Rippe ist..."
„Meine Rippe? Meine Mutter hatte eine Vergiftung und du bist einfach..."
„Und ich bin eine Schamanin, die dir sagt, dass du vorsichtiger sein solltest." Unbeeindruckt umklammerte Kipsuni mein Handgelenk, allerdings war ihr Griff so fest, dass ich es nicht wagte, mich zu befreien. „Du hättest dir das Genick brechen können. Woher hast du überhaupt die Schrammen? Hm?" Sie schnaubte. „Wenn du umkommst, tust du ihr keinen Gefallen."
„Lebt sie noch?" Verzweifelt sah ich auf die Felle. Am liebsten hätte ich sie weggeschoben, um endlich erkennen zu können, ob sie atmete.
„Ich würde keine Leichen bei mir herumliegen lassen", kommentierte Kipsuni kühl und strich mir über die Schulter. „Ich habe sie mehrmals dazu bringen müssen, sich zu übergeben, bevor ich sicher sein konnte, dass sie sämtliche Tollkirschen ausgespuckt hatte." Warte...Tollkirschen?
„Es war kein Pilz?", keuchte ich und Kipsuni schien überrascht, dass ich das fragte.
„Wieso sollte es einer gewesen sein?"
„Dann war nicht ich es, der sie vergiftet hat!" Als ich erleichtert seufzte, protestierte meine Rippe mit einem dumpfen Schmerz. Kipsuni schien zu bemerken, wie ich zusammenzuckte, denn sie legte mir eine Hand auf die schmerzende Rippe. Die Wärme, die davon ausging, linderte meinen Schmerz.
„Aber...aber das ist seltsam", murmelte ich und ein schlechtes Gefühl beschlich mich. „Sie konnte sogar erkenne, dass Namenlos weiblich ist...oh nein, wo ist Namenlos?" Ich hatte sie ganz vergessen, seit Erl mir befohlen hatte, Kipsuni zu holen.
„Namenlos?" Kipsuni verzog das Gesicht, doch dann hellte es sich auf. „Meinst du etwa diesen kleinen Federhaufen hier?" Ich war so erleichtert, als sie auf einen kleinen Berg aus Kleidung zeigte, auf dem Namenlos stolz thronte. Als hätte die Kipsunis Worte verstanden, krächzte sie einmal laut und flatterte ein bisschen, was ihr mit ihren kurzen Stummelflügeln nicht gerade gut gelang.
„Erl hat mir gesagt, ich solle es dir geben, bevor er verschwunden ist. Es scheint dich zu mögen", meinte sie und schmunzelte, als sie sah, wie Namenlos ein wenig zu mir tapste. Die Flugversuche hatte sie aufgegeben, stattdessen sperrte sie nun den Schnabel auf.
„Aber auch nur, weil ich sie gefüttert habe", seufzte ich. Dann betrachtete ich meine Mutter. Ihre Brust hob sich sanft, als sie Ein- und Ausatmete. „Wird sie lange schlafen?"
„Nicht unbedingt. Sie ist müde."
Als ich daran dachte, wie schlecht es ihr gegangen war, beschlichen mich erneut Zweifel. „Aber ich finde es trotzdem seltsam."
„Was?"
„Na, dass sie die Beeren gegessen haben soll", griff ich auf das alte Thema zurück. „Erl meinte, sie spürt solche Dinge. Aber hat ihr die Dinger gegeben?"
„Ich weiß es nicht. Tollkirschen sind hochgiftig und tödlich, jedenfalls in der Dosis, die sie zu sich genommen hat. Allerdings ist sie hungrig und unternährt. Vielleicht hatte sie Hunger und hat einfach auf die Beeren zurückgegriffen. Sie kann ja immerhin nicht sehen, ob es Tollkirschen sind", vermutete Kipsuni. Wut stieg in mir auf, als sie das behauptete.
„Meine Mutter ist blind, aber nicht dumm", blaffte ich trotzig. Im nächsten Moment tat es mir schon leid, sie so angeherrscht zu haben. „Aber ich bin dir dankbar, dass du sie nicht hast sterben lassen."
„Wie konntest du nur annehmen, ich würde so etwas tun?" Kipsuni klang entsetzt und ihre Augen waren tadelnd aufgerissen.
„Das habe ich nicht. Sonst wäre ich nicht zu dir gekommen", versicherte ich ihr. „Aber als du ihr vorher nicht helfen wolltest, war ich einfach...ich hab es nicht verstanden." Ich zupfte ein wenig am Zipfel meiner Jagdkleidung herum, die ich noch immer trug.
„Ja. Aber jetzt ist sowieso alles aus. Asrale muss bleiben und die anderen Clans, auch Rofus, werden davon erfahren." Seufzend strich Kipsuni sich eine graue Strähne aus dem Gesicht.
„Wieso?" Ihre Worte machten mich stutzig. „Wenn man ihr einen guten Unterschlupf baut, könnte sie wieder gehen", meinte ich. „Das ist immer noch ungefährlicher, als wenn Rofus herfährt, dass sie hier ist. Was, wenn der Rat entscheidet, dass sie in den Rabenclan muss? Rofus würde sie umbringen, nicht wahr? Oder wenn sie irgendwo sonst ausgesetzt wird? Dann können wir ihr nicht mehr helfen..."
„Tarpas wird sie nicht gehen lassen", unterbrach mich Kipsuni und strich sich eine silberne Strähne aus dem Gesicht.
„Wieso nicht? Er wird doch einsehen, dass..."
„Ich habe gesagt, er wird sie nicht gehen lassen, Amila!", blaffte Kipsuni mich an und ballte die Fäuste. „Niemals wird er das! Du hättest sehen müssen, wie er Asrale angeschaut hat, als wir sie gefunden haben!", fauchte sie.
„Aber...wieso hat er sie...?"
„Du hast es nicht bemerkt, oder?" Kipsuni lachte matt und öffnete ihre Fäuste wieder. „Er hat sie geliebt, Amila. Als er Anführer wurde, hat er sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie war hübsch und jung. Aber er hat sich gesagt, diese Liebe dürfe nicht sein, denn er kommt aus einem anderen Clan." Sie benetzte hektisch ihre Lippen mit der Zunge.
„Was?" Ich starrte sie ungläubig an.
„Nun, Tarpas hat mir nie davon erzählt, aber ich habe es aus anderen Quellen. Allein die Art, wie er sie bei den Treffen angeschaut hat... Glaub mir, hätte er gekonnt, hätte er Asrale aufgenommen, als sie verbannt wurde. Allerdings kam sie in den Rabenclan. Ich habe Tarpas nicht erzählt, dass auch der sie verbannt hat. Asrale hatte es derzeit in der Schlucht besser, als sie es gehabt hätte, wenn er sie ins Lager holte. Und als er sie gestern wiedergesehen hat – da ist mir klargeworden, dass er sie immer noch genauso auf die törichte und dumme Weise liebt, wie er es vor vielen Zyklen getan hat."
„Besser hatte?", echote ich ungläubig. „Meiner Mutter ging es in dieser Schlucht nicht besser als es ihr hier gegangen wäre! Wie kannst du das nur denken?"
„Was denkst du denn, was passiert, wenn sie hier aufkreuzt?", blaffte Kipsuni zurück. „Wenn der Rabenclan es auf den Drei-Mondes-Treffen erfährt, denkst du, Rofus lässt das einfach so auf sich sitzen?" Ich biss die Zähne zusammen, als mir klar wurde, dass sie Recht hatte.
„Kann es sein, dass er, Tarpas, mein Vater ist?", hauchte ich und versuchte, an sein Gesicht zu denken. Was, wenn mein Vater nie aus dem Rabenclan gekommen war? Was, wenn es in Wirklichkeit der Dachsclan gewesen war?
„Wer dein Vater ist, wird dich nicht ändern. Du bist, wie du bist. Asrales Trauma lässt es nicht zu, sie auszufragen, aber glaub mir: Wenn sie so weit ist, wirst du alles erfahren." Tarpas könnte mein Vater sein, dachte ich. Vielleicht hat er mich deshalb aufgenommen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Würde ich Tarpas jemals mit ‚Vater' anreden können, wenn es so war? Und bedeutete das nicht, dass er, obwohl er meine Mutter liebte, sich all die Jahre als unbeteiligt ausgegeben hatte? Weil er Angst hatte, verbannt zu werden?
Als Namenlos plump angeflattert kam und auf meinem Schoß landete, drückte ich mein Gesicht fest in ihr weiches Gefieder. Kipsuni reichte mir wortlos ein bisschen rohes Fleisch, mit dem ich Namenlos fütterte.
„Ich glaube, ich sollte meine Mutter und Namenlos finden", sprach ich aus, was mich beschäftigte. „Ich habe geträumt. Folge dem Raben, um ihn zu finden, haben die Geister gesagt. Damit ist Namenlos gemeint, auch, wenn ich nicht sofort draufgekommen bin. Jetzt weiß ich nur nicht, welche Rolle sie spielt."
„Hm." Kipsuni schien gar nicht überrascht. „Weißt du, ich habe schon vermutet, dass du einen engen Kontakt zu den Geistern hast. Selbst, wenn ich nicht weiß, wieso. Aber ich spüre das. Ich frage mich nur, wieso du es mir erst jetzt erzählst."
„Ich...konnte es einfach vorher noch nicht", versuchte ich zu erklären. Kipsuni seufzte.
„Schau, ich habe dir deinen Bogen und den Köcher mitgenommen." Sie zeigte auf die beiden Gegenstände, die an der Höhlenwand lehnten. Ich nickte ihr dankbar zu, doch die Sorge um meine Mutter lag mir wie ein Stein im Magen. Wer würde es wollen, sie zu vergiften?
„Du solltest noch ein bisschen schlafen. Du hast einen heftigen Sturz gehabt, und bevor du Schäden davonträgst, ist es besser, dass du hier bleibst", meinte Kipsuni sanft. Ich nickte und fühlte, wie die Müdigkeit an mir zerrte und mich in den Schlaf tragen wollte. Allerdings konnte ich nicht aufhören, meine Mutter anzuschauen. Ich fühlte mich von den Ereignissen komplett überrannt und hatte keine Ahnung, was ich noch tun konnte, um wieder Herr über den Lauf zu werden, den mein Leben nahm.
Als mir die Augenlieder zufielen, stieß ich einen Seufzer aus. Wie gut es tat, sich einfach in den Schlaf sinken zu lassen. Wie schön es war, vergessen zu können...

Ich wurde von Namenlos' Krächzen geweckt und hätte sie dafür am liebsten aus der Höhle gepfeffert. Allerdings stellten sich mir die Nackenhärchen auf, als ich die angespannte Stimmung wahrnahm. Ich hörte meinen eigenen Puls in den Ohren und wusste instinktiv, dass etwas nicht in Ordnung war.
Es war Kipsuni, die mich endgültig misstrauisch werden ließ. Sie hatte sich an mir vorbei zum Ausgang der Höhle geschlichen und verweilte dort, um auf das Lager zu blicken. Dann hörte ich die hektischen Rufe und die Stimme einer Frau, die ihr Kind anwies, in den Höhlen zu bleiben.
„Was ist los, Kipsuni?" Als ich die Frage stellte, zuckte die Heilerin sichtlich zusammen.
„Nichts. Schlaf nur."
„Du lügst mich an", protestierte ich prompt und setzte mich vorsichtig auf. „Es ist doch so, oder?" Jetzt verfluchte ich mein Jagdgewand dafür, so eng zu sein. Man hatte es mir nicht ausgezogen und deshalb schmerzte meine Rippe, als das Leder unangenehm auf sie Druck ausübte.
„Es ist egal, was passiert, Amila", blaffte Kipsuni mich an und ihre Augenbrauen zogen sich zornig zusammen. „Du bleibst hier in der Höhle, ja?"
„Aber ich..."
„Versprich es mir!", meinte Kipsuni harsch. „Ich habe deiner Mutter geholfen und du tust einmal, was ich dir sage!" Sich sah betreten zu Boden, doch als sie abermals energisch verlangte, dass ich ihr zustimmen sollte, nickte ich betreten.
„Ich versprech's", gab ich widerwillig als Antwort und spürte, wie sich alles in mir vor Trotz zusammenzog. Kipsuni nickte nur knapp, dann rannte sie nach draußen.
Es vergingen nur ein paar Momente, ehe auch ich mich aufrappelte. Ein kurzer Blick auf meine schlafende Mutter versicherte mir, dass es ihr gut ging. Als ich aufstand, schmerzte meine Rippe und meine Beine waren steif und ungelenkig. Ich wollte schon aus der Höhle rennen, dann aber schnappte ich mir noch den Köcher und meinen Bogen, bevor ich mich aus der Höhle schleichen wollte. Ein plötzliches Stöhnen aus der Höhle hielt mich auf.
„A...mila...?"
Ich fuhr herum, als meine Mutter sich ein wenig bewegte. „Mutter? Mutter, geht es dir besser?" Ein kurzes Schweigen erfüllte die Luft.
„J...ja." Erleichterung fiel von mir ab, als ich ihre krächzende Stimme erneut vernahm. Ich ließ mich neben sie sinken.
„Wie konntest du nur Tollkirschen essen?", meinte ich barscher als beabsichtigt. „Du wärst fast gestorben..."
„Ich...sie..."
„Sie?"
„J...aaaa...hat gesagt...von dir..."
„Von mir?" Am liebsten hätte ich meine Mutter an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt, um endlich mehr Informationen zu bekommen. Allerdings ertönte erneut der Lärm von Draußen.
„Ich muss gehen. Bin gleich zurück, Mutter."
„P...pass auf dich...dich auf", seufzte mein Mutter noch, ehe ihr die Augenlieder zufielen.
Draußen lag in der Luft eine solche angespannte Stimmung, das ich sie fast greifen konnte. Wo zuvor noch überall Kinder und alte Menschen gewesen waren, sah ich nun nur mehr Jäger oder Wächter. Kräftige Männer und Frauen jagten auf das Zentrum des Lagers zu. Irgendetwas musste passiert sein. Sie..., erinnerte ich mich an Asrales Worte. Es ließ mich keine Zweifel mehr haben, dass sie vergiftet worden war.
Ich pirschte mich vorsichtig bis zum Ahnenfelsen, wo das meiste los war. Eine große Gruppe von Menschen hatte einen Kreis um etwas gebildet, dass auf dem Boden liegen musste. Als ich es schaffte, einen Blick darauf zu erhaschen, stockte ich. Ein kleines, grau-braunes Kaninchen lag dort. Eigentlich war es kein Kaninchen, sondern nur dessen Fell. Es war zerbissen und zerkratzt. Allerdings ließ mir nicht das Fell das Blut in den Adern gefrieren, sondern der überwältigende Geruch, der in der Luft hing. Die anderen Menschen schienen ihn nicht zu bemerken, doch alles in mir schrie diesen einen Gedanken: Robby.
Wie war er ins Lager gekommen? Was hatte er mit dem Pelz vorgehabt? Er hat dich gesucht, schoss es mir durch den Kopf. Bei den Gerberplateaus muss er das Fell gefunden haben. Aber wieso...? Im selben Moment wurde mir klar, wieso er so wild geworden war. Vor wenigen Tagen hatte ich ein grau-braunes Kaninchen erbeutet. Was, wenn es tatsächlich mein Kaninchen gewesen war? Und er hatte meinen Geruch daran wahrgenommen...
„Er ist noch im Lager", sprach da ein großer, junger Mann mit kräftigen Armen, braunem Haar und einer langen Narbe, die sich quer über sein ganzes Gesicht zog. „Wir teilen uns auf. Ihr drei", befahl er und zeigte auf eine Gruppe Menschen, „beginnt am Eingang. Überprüft, ob er von dort gekommen ist." Dann nickte er drei weiteren Menschen zu. „Geht zu den Höhlen und sagt den Kindern, dass sie drinnen bleiben können. Innerhalb weniger Momente dürften wir den Bären haben."
„Ja, Calmus!", erwiderten die Drei knapp und rannten davon. Mir gefror das Blut in den Adern, als Calmus sich zu mir wandte.
„Und du?", knurrte er leise, „Was hast du hier zu suchen?"
„Nichts", sagte ich schnell, doch am liebsten wäre ich ihm ins Gesicht gesprungen, wie ich es schon bei Rofus getan hatte. Als er sich aber abwandte, einen Speer schnappte und verschwand, schüttelte ich den Kopf und konzentrierte mich. Ich musste Robby finden.
Es war laut im Lager, aber trotzdem spürte ich die Verbindung zu meinem Bruder – eine Verbindung, die mich wie ein unsichtbares Seil vorwärts zog. Ich pirschte den Dreien hinterher, die das Tor absuchten. Ich war kaum überrascht, sie dort vor einem geschlossenen Eingang vorzufinden. Natürlich war Robby hier nicht hereingekommen. Er war noch jung, wahrscheinlich hatte er den Abstieg ins Lager gewagt – etwas, das noch kein Bär zuvor getan hatte. Und er tut das alles für mich, obwohl ich ihm unwissend zurückgelassen habe. Der Gedanke war so schrecklich, dass sich alles in mir zusammenzog.
Ein plötzlicher Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Es war Ruf, hoch und schrill vor Angst, doch es war nicht der eines Menschen. Robbys Stimme hätte ich überall wiedererkannt.
Ich raste davon und gab meine Deckung auf. An Tarpas Höhle vorbei, dann am Ahnenfelsen. Mehre Leute kamen vorsichtig herbei, doch ich stürmte einfach an ihnen vorbei ins Fleischviertel.
Am frühen Morgen waberte noch Nebel um die Steinspitzen, die hier den Fleischern als Lagerstellen dienten. Eine kleine Feuergrube rauchte vor sich hin und mischte dem trüben Nebel ein dunkles Grau bei. Hinter mir waren die leisen Stimmen der Jäger zu hören, die sich gegenseitig Befehle zuraunten.
Obwohl meine Rippe unerträglich schmerzte, versuchte ich, noch schneller zu rennen. Ich konnte Robby hören, riechen, spüren.
Plötzlich hielt ich ruckartig an. Ein eiskalter Schauer jagte mir über den Rücken. Fußstapfen. Die frischen Fußstapfen eines Mannes. Und dann sah ich die Beiden.
Robby tänzelte verwirrt und ängstlich im Kreis herum, weil er anscheinend nicht mehr wusste, wo es weiterging. Hinter ihm, verdeckt durch einen Fels, kauerte ein Mann. Es war ein Jäger – Calmus. In der Hand hatte er einen Holzspeer und geduckt fixierte er meinen Bärenbruder. Seine Muskeln zuckten verkrampft, als er den Speer fester umklammerte und ihn sorgfältig auf sein Ziel ausrichtete.
Robby irrte hektisch durch die Steinspitzen, schien die Orientierung aber komplett verloren zu haben. Ich staunte, wie groß er geworden war – Muskeln wölbten sich unter seinem Pelz und seine Tatzen ließen den Boden beben, wenn er sie aufsetze. Im selben Moment hielt er plötzlich Inne, hob witternd den Kopf und drehte die Ohren. Dann traf sein Blick den meinen. Ich sah so viel Freude und Erleichterung in seinen Augen aufblitzen, dass ich am liebsten sofort zu ihm gestürzt wäre und mein Gesicht in seinem dicken Pelz vergraben hätte.Wenn er unaufmerksam ist, wird der Mann ihn töten, ging es mir durch den Kopf, im selben Moment, als sich die Muskeln des Mannes anspannten. Ich packte instinktiv den Bogen und wiederholte den Ablauf von Bewegungen, die ich schon so oft durchgeführt hatte. Adrenalin pulsierte durch meinen ganzen Körper, Blut pulsierte in meinen Ohren. Dann tat ich das, was ich niemals für möglich gehalten hätte.
Ich zielte absichtlich nicht auf den Rücken des Mannes, denn das hätte ihn wohl getötet. Nur auf die Schulter. Als der Pfeil durch die Luft zischte, riss er eine Strähne meines Haares mit sich, doch ich vergaß den kurzen Schmerz und sah gebannt, wie der Mann aufschrie und mit dem Pfeil in der Schulter zu Boden sank. Wenn du zu weit in die Herzgegend gezielt hast, hast du ihn getötet, wurde mir erst jetzt voller Entsetzen klar, doch ich konnte erkennen, dass der Pfeil nur in seiner Schulter steckte.
Calmus krümmte sich am Boden und atmete laut und rasselnd. Der intensive Geruch von Blut lag in der Luft. Kurz starrte ich ihn an – sah den Schmerz in seinen Augen und nahm die Wunde war – doch tief in mir sagte mir etwas, dass ich richtig gehandelt hatte.
Robby starrte den Mann irritiert an, doch dann fiel ich ihm schon um den Hals, spürte sein dichtes, fettiges, warmes Fell. Nahm seinen so vertrauten Geruch war. Seine Brust, die bebte, weil er so schnell gerannt war. Seine Erleichterung, weil er mich gefunden hatte.
„Ich würde niemals zulassen, dass dir jemand etwas antut", sagte ich und vergrub mein Gesicht in Robbys Fell. „Selbst, wenn ich dafür töten müsste." Denn ich wusste, dass er das auch tun würde.
Ich hörte, wie jemand heraneilte und sich neben den Verwundeten fallen ließ. Mehr und mehr Menschen folgten ihr, doch ich sah mich nicht um. Ich genoss es einfach, meinen Bruder lebend zu sehen. All die Ängste wichen von mir, alle, die ich je um ihn gehabt hatte. Ich würde nicht zulassen, dass man ihm etwas tat. Niemals.
„Amila." Tarpas' strenge Stimme ließ mich doch herumfahren. Ich sah ihn einfach nur an, seine zornig zusammengezogenen Augenbrauen, den zusammengepressten Mund. Kipsuni erschien an seiner Seite, würdigte mich jedoch keines Blickes, sondern ging zu dem Verletzten und zog vorsichtig den Pfeil aus seiner Schulter. Er schrie und ich sah das rote Blut. Tarpas nahm Kipsuni den Pfeil ab und hielt etwas hoch, dass ich aus der Entfernung nicht erkennen konnte, aber doch wusste, was es war. Meine Haarsträhne. Es machte mir nichts aus. Ich hatte nie vorgehabt, es zu leugnen. Aber Robby war bei mir.
„Amila, komm in meine Höhle!", befahl Tarpas streng, doch ich rührte mich nicht, sondern packte Robbys Fell und zog ihn sanft in Richtung des Eingangs.
„Amila." Wut, die in seiner Stimme mitschwang.
„Ich werde kommen", versprach ich. „Ich bin kein Mensch, der davonläuft. Ich werde nur nicht zulassen, dass dieser Bär auch nur einen Moment länger hier bleibt und sich in Gefahr begibt."
Ich drehte mich einfach um. Dabei wusste ich nicht, wem ich den Rücken zuwandte. Einem Anführer, einem Vater oder meiner ganzen Art? Hatte ich meine Chance wirklich so leicht verspielt?
Niemand hielt mich auf, niemand wagte es, sich mir und Robby zu nähern. Ich spürte seinen Herzschlag und seine Angst. Ich spürte alles und nichts zugleich. In meinem Kopf herrschte völlige Leere.


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