12. Kapitel


Es war ein Schrei, der tief in mir etwas auslöste. Ich wusste es selbst nicht zu deuten, doch ich warf alles, was ich mit mir trug, ab, und raste durch die Schlucht. Meine Füße brannten, denn die Steine waren eiskalt. Hätte ich mich dazu überreden lassen, auf der Jagd zum Schutz Schuhe anzuziehen, wäre ich jetzt sicher viel schneller.
Der Schrei war verstummt, doch das machte mir nur noch mehr Angst. Meine Mutter durfte nicht in Gefahr sein. Gerade hatte ich sie wiederbekommen – konnte es sein, dass ich sie jetzt schon wieder verlor? Ich quetschte mich durch die Spalten, so schnell es ging. Steine zerkratzten meine Arme, ich schlug mir mehrmals die Hüfte an und ich biss mir vor Schmerz auf die Zähne, als ich mir einen Schnitt an der Schulter einholte. Der Stoff war komplett aufgeschlitzt und Blut tropfte heraus. Innerlich verfluchte ich die Näher dafür, dass sie die Ärmel schon unterhalb des Ellbogens hatten enden lassen. Trotzdem durfte ich nicht langsamer werden.
Ich sprang durch den letzten Abschnitt der engen Spalte und landete auf dem dämmrigen Schluchtenboden. In der Dunkelheit sah Asrales ganz anders aus.
Ein leises Stöhnen war zu hören, panisch und hoch. Alles in mir verkrampfte sich, als ich ihre Gestalt hinter einem verdorrten Busch sehen konnte. Sie lag am Boden und versuchte, sich mit dem Tasten der Hände zu orientieren.
Dann sah ich ihn. Er war nur eine große, dunkle Gestalt, die sich auf meine Mutter zubewegte. Er hat sie entdeckt, schoss es mir durch den Kopf. Er wird ihr wehtun – er darf nicht...
Bevor ich weiter denken konnte, sprang ich schon. Asrale stöhnte, als sie hörte, wie Rofus' Schritte immer näher kamen. Dann war es an Rofus, laut aufzuschreien, als ich auf seinem Rücken landete und meine Fingernägel in seine Haut grub. Der Rabenclan-Anfürer fluchte und packte meine Handgelenkte, um sie von seinem Hals zu reißen, doch ich hielt mich erbittert fest. Er schrie, als ich ihm die Nägel noch tiefer in die Haut bohrte, und riss meine Hände mit einem Ruck von seiner Kehle. Ich hatte keine Chance gegen ihn, als er seine Hände mit einem Festen griff um meine Arme schloss und mich auf den Boden warf. Spitze Steine bohrten sich in meinen Rücken und zerkratzten meine Haut. Mein Kopf schlug hart auf den Kieseln auf und ich stöhnte, als ich bunte Punkte vor meinen Augen tanzen sah. Rofus griff sich and den Hals, von dem Blut tropfte. Ich hatte ihn blutig gekratzt.
„Du...", zischte er und ein weiterer Blutstropfen fiel auf den Boden. „Wie hast du...deine Leiche sollte jetzt an einem Baum hängen!" Bei seinen Worten zuckte ich zusammen und Asrale schrie.
„Tu ihr nichts, tu ihr nichts, tu ihr nichts!", kreischte sie, unfähig, etwas zu tun.
Dann sah ich ihn. Erl. Er kam aus dem Felsspalt getrottet. Er musste den Schrei gehört haben, denn er wirkte hektisch. Trotzdem war er völlig überrascht, Rofus und mich anzutreffen. Als er das Blut bemerkte und Asrale schreien hörte, wurde ihm schlagartig bewusst, was passiert war. Er machte Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen, doch ich starrte ihn vielsagend an, dann blinzelte ich zu Asrale. Wenn er sich Rofus zeigte, wäre alles aus. Solange Rofus dachte, nur ich wäre mit Asrale in Verbindung, bestand keine Gefahr für Erl. Er musste Asrale irgendwie wegschaffen.
Ich nahm alle Kraft zusammen und sprang Rofus noch einmal ins Gesicht. Das hatte er nicht erwartet, so benommen wie ich gewesen war. Ich packte eine seiner dicken, schwarzen Haarsträhnen und riss kräftig daran. Er fluchte und heulte auf, als ich ihm die Nägel über die alten, blutenden Wunden zog. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Erl Asrale aus der Schlucht führte. Würde ich lange genug durchhalten können?
„Du verdammtes Gör!", brüllte Rofus und zog mir seinerseits die Fingernägel über die Arme, aber er brachte mich nicht dazu, loszulassen. Ich würde ihn angreifen, bis meine Mutter in Sicherheit. Vielleicht war ich nicht so stark wie er, aber ich hatte die Wildheit eines Bären in mir.
„Glaub mir, das wirst du bereuen!" Als Rofus einen unvorhersehbaren Schlenker noch vorne machte, kippte ich fast von seinem Rücken. Er verlor das Gleichgewicht und ich landete ein zweites Mal hart auf dem Boden. Ein plötzlicher Schmerz in meinem Brustkorb ließ mich meinen Griff lockern und Rofus streifte ihn sofort ab. Meine Rippen! Hoffentlich hatte ich mir keine Rippe gebrochen!
„Es reicht!" Wutentbrannt wälzte sich Rofus auf die Knie und stand auf, das Gesicht rot vor Zorn und den Hals blutig. Ich packte einen Stein, ehe er auch nur einen Schritt auf mich zugehen konnte, und schleuderte ihm den Brocken auf die Brust. Der Anführer stöhnte laut auf und keuchte vor Wut, doch da hatte ich schon einen zweiten auf seinen Kopf geworfen. Der Stein war kleiner, aber trotzdem hinterließ er eine blutende Wunde. Als ich den dritten werfen wollte, stürzte Rofus sich auf meine Hand, verdrehte sie und zwang mich dazu, den Stein fallen zu lassen. Ich schrie auf, als ein stechender Schmerz durch mein Handgelenk schoss, und trat ihm gegen den Bauch. Er taumelte zurück und knickte in die Knie, doch dann stand er wieder auf. In der Faust hielt er nun selbst einen Stein und kam wutentbrannt auf mich zu. „Du kleines Miststück, du..."
Er kam nicht dazu, weiterzusprechen. Eine flinke Gestalte landete auf seinem Rücken, schlug ihm den Stein aus der Hand und warf ich auf den Boden. Ich erkannte Erl, obwohl die Gestalt eine Marder-Maske aus Leder trug. Rofus schrie auf, als sich die beiden Männer am Boden wälzten. Ich rutschte ein bisschen zurück, als sie sich an mir vorbeirollten. Plötzlich schaffte Rofus es, sich loszureißen, und starrte mich nach einmal wutentbrannt an. Das Blut, dass ihm von der Stirn tropfte, rann ihm in die Augen.
„Das wirst du büßen, du Miststück", knurrte er, doch als Erl Anstalten machte, sich erneut auf ihn zu stürzen, ergriff er die Flucht. Ich hörte nur noch das Hallen seiner Schritte durch die Schlucht, ehe auch diese verstummten.
Erleichtert und erschöpft ließ ich mich nach hinten sinken und lag einfach nur auf dem Boden. Dann spürte ich Erl, der mich vorsichtig an der Schulter zog und mir half, aufzustehen. Er nahm die Maske vom Kopf und steckte sie in seine Tasche. Trug er die immer mit sich herum?
„Du hast ihn ja ganz schön zugerichtet", meinte er ernst und ich grinste müde.
„Niemand legt sich mit der Tochter einer Bärin an."
Erl nickte nur, untersuchte kurz die Kratzer an meinem Arm und nickte dann in Richtung der Spalte, in die auch Rofus verschwunden war.
„Schnell, Amila, bevor er mit Verstärkung zurückkommt."
Ich nickte nur und versuchte, den pochenden Schmerz an meinen Rippen zu ignorieren. Erl bemerkte es natürlich sofort und musterte mich besorgt.
„Alles gut?"
„Geht schon. Ich hab mir nur die Rippen angestoßen." Erl blinzelte mich an.
„Wenn es für dich in Ordnung ist, schaue ich es mir nachher an."
„Ja, bitte." Erleichtert bahnte ich mir einen Weg durch die engen Spalten. „Wohin hast du meine Mutter gebracht?"
„Sie ist in Sicherheit, keine Sorge. Weiter vorne in der Schlucht ist eine kleine Höhlung, dort liegt sie. Du musst mir helfen, sie aus der Schlucht zu schaffen", sagte er. Ich nickte und ließ mir durch eine enge Spalte helfen. Diese verdammte Rippe!
Erl hatte Asrale gut untergebracht. Dort, wo ich in die Schlucht gekommen war, lag gut versteckt unter ein paar Büschen eine kleine Höhle. Sie war so niedrig, dass meine Mutter nur darin liegen konnte. Als sie unsere Schritte hörte, stöhnte sie erleichtert auf.
„Amila! Amila! Amila!"
„Ich bin hier", wisperte ich und gab ihr die Hand, um sie aus der Höhle zu ziehen. Als sie draußen war, fiel sie mir schluchzend um den Hals und ich hielt sie völlig überrumpelt fest.
„Es ist alles gut", versicherte ich erneut. „Mir ist nichts passiert!" Allerdings ertasteten Asrales Finger die Kratzer an meinen Armen und sie blickte mich aus blinden Augen sorgenvoll an.
„Ich kümmere mich um sie, Asrale", beruhigte Erl sie. „Jetzt müssen wir aus der Schlucht."
„Ja." Asrales Stimme klang zittrig, als wir ihr aufhalfen. Ich ging zu meinen Sachen, die noch immer unverändert auf dem Schluchtenboden lagen. Meinen Bogen schulterte ich, den Köcher hängte ich mir wieder um und die beiden Beutestücke nahm ich wieder auf. Dann half ich Erl, Asrale in Sicherheit zu bringen.

Wir wählten einen notdürftigen Unterschlupf für sie aus. Er befand sich im Dachsclan-Terrain, etwas abseits der Schlucht. Unter einer kleinen Felswand wuchsen ein paar Dornenbüsche, die einen kleinen Kreis um einen geschützten Platz aus Erde bildeten. Ich und holte Äste und baute ihr ein schräges Dach, dass ich mit Blättern und Dornengestrüpp tarnte. Erl stieg währenddessen noch einmal in die Schlucht und versuchte, schnell noch Asrales Fell und ein paar andere Sachen zu bergen. Als er zurück war, stand ihm die Sorge auf die Stirn geschrieben.
„Ich war immer äußerst vorsichtig, wenn ich mich zur Schlucht geschlichen habe", murmelte er. „Ich hab nur kleine Dinge genommen, das meiste – Pilze und Beeren – habe ich selbst gesucht. Ich weiß nicht, wie er herausfinden konnte, dass sie hier lebt." Er schüttelte frustriert den Kopf, dann forderte er mich dazu auf, ihm meine Kratzer zu zeigen. Er säuberte meine Wunden mit einem Stück Pelz, das er in Wasser getränkt hatte. Dann kaute er ein Paar Blätter und presste den Saft auf die Kratzer an meinen Armen. Zuletzt sah er sich meine Seite an.
„Eine deiner unteren Rippen dürfte geprellt sein", stellte er fest und ich war unheimlich erleichtert, dass nichts gebrochen war.
„Geht es dir auch gut?", hakte ich nach.
„Ich bin jünger und kräftiger als Rofus. Mir ist nichts passiert. Er wird keinen Verdacht schöpfen. Von Schamanen nimmt er an, dass sie sich nicht wehren können. Er wird eher Verdacht hegen, ein Dachsclan-Krieger hätte dich verteidigt." Er zuckte mit den Schultern, aber ich ließ mich nicht täuschen. Ich hatte schon lange bemerkt, dass er sein linkes Bein nicht so gut belastete.
„Du solltest aufpassen, dass du in Rofus' Gegenwart nicht humpelst", gab ich zurück und Erl hielt kurz Inne, ehe ein Grinsen über sein Gesicht huschte.
„Keine Sorge."
Als ich das Kaninchen häutete und er es über einem kleinen Feuer briet, wurde es schon finster. Asrale aß widerwillig davon, doch ich merkte, wie sehr es sie ekelte.
„Amila." Erl sah mich ernst an. „Du solltest zurück. Du bist zwar ein Lehrling, aber man wird sich Sorgen machen." Ich nickte erschöpft. Es war besser, zurückzukehren.


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