◊ 1.Kapitel ◊


Die Bogensehne gespannt.
Den Herzschlag meiner Beute im Ohr.
Die Sinne eines Bären im Besitz.
Ich zielte auf die Brust der verletzten Hirschkuh vor mir, die hinkend durch den nassen Sumpf wanderte. Ihr braunes Fell war stumpf und man sah ihre Rippen, die sich deutlich darunter abzeichneten. Ich hatte sie schon seit drei Tagen im Visier, hatte sie verfolgt und gewartet, bis ihre Kräfte schwanden.
An ihrem Fell erkannte ich, dass sie alt war. Sie musste schon viele Kälber geboren haben und würde bald sterben, entweder durch meinen Pfeil oder durch ein Raubtier, für das sie durch ihr lahmes Hinterbein eine leichte Beute wäre.
Die Hirschkuh knapperte an ein paar kläglichen Gräsern. Das Moor hob sich mit seinen orange-braunen Gräsern aus der üblichen Landschaft heraus wie ein Meer aus Halmen, die wie Wellen sanft im Wind wogten. Die trockenen Stängel boten mir eine Gute Deckung – der einzige Grund, wieso ich überhaupt so nahe an meine Beute herankam.
Ich schlich mich näher an sie heran, bedacht, dass man meine Schritte im Wasser nicht hörte. Der warme, modrige Geruch des Sumpfes umwaberte mich. Ich schauderte, als ich mich hinsetze, um das Tier nicht zu verschrecken. Nach Fäulnis stinkendes Wasser drang durch meine Kleidung.
Meine Pfeilspitze zielte auf das goldbraune Fell des Tieres, direkt hinter den Vorderlauf, wo sich das Herz befand. Ich zog die Sehne auf, bis der Pfeil meine Nase berührte und meine Muskeln brannten. Mein Atem verstummte, als ich wie erstarrt so verharrte.
Zack.
Ich ließ los. Die Sehne meines Bogens schrammte über meinen Arm und riss ein Loch in den schmuddeligen Ärmel aus Fell. Ein großes Stück Pelz platschte neben mir ins Wasser und ich spürte, dass der Bogen auch meine Haut erwischt hatte. Es musste bluten, doch um mich darum zu kümmern, hatte ich keine Zeit. Die Hirschkuh war aufgestoben, sodass das Wasser in alle Richtungen spritzte. Frösche quakten entsetzt, als meine Beute panisch durch das Schilf rannte. Ihre Beine zitterten und bebten. Mehrmals knickten sie unter dem Gewicht ihres schwachen Körpers zusammen. Ich sah, wie sie taumelte und das Gleichgewicht verlor. Dann, mit einem lauten Platschen und aufspritzendem Wasser, kippte sie um und blieb strampelnd liegen.
Ich eilte sofort zu ihr, um sie von ihren Schmerzen zu erlösen, doch als ich ankam, war sie schon fast tot. Ihre Flanke bebte, als sie um Atem rang, und ihre Hinterbeine zuckten schwach. Ich kniete mich neben sie und schaute ihr in die klugen, braunen Augen. Danke, sagte ich in Gedanken zu ihr. Danke, dass du mich ernährst, mir dein Fleisch und dein Leben gibst. Ihre Augen funkelten kurz, als würde sie mir zustimmen, dann erlosch das Leben aus ihnen und sie wurden kalt und stumpf.
Es war Bärenverhalten, das ich aufwies. Das stumme Danken einer Beute für das Leben, das sie ließ, um das des Jägers zu stärken. Ich, Amila, war bei Bären aufgewachsen. Ich wusste nicht genau, wann ich geboren worden war, doch ich war fünfzehn Zyklen alt, fünfzehn mal vier Zykluseszeiten. Nanuk, meine Bärenmutter, war älter als ich. Und Robby, mein jüngerer Bruder, fast doppelt so groß wie ich. Ich musste grinsen bei dem Gedanken an Robbys unverständigen Blicke, wenn er meinen Bogen begutachtete und zu sagen schienen: Wieso jagst du mit so was? Du hast Zähne und Krallen, Amila! Er schien nicht zu kapieren, dass es eben nicht so war.
Robby war Nanuks einziges Junge.. Bei der Erinnerung an seinen dunklen Pelz mit der hellen Halskrause musste ich grinsen. Er würde sich sicher über meine Beute freuen.
Ich kramte in meiner von Wasser durchweichten Ledertasche, in der ich zwei zusammengeflickte Riemen hatte. Mit ihnen schnürte ich die Beine der Hirschkuh zusammen. So konnte ich sie zum Flussufer bringen, wo Nanuks Bau war. Beim Gedanken an den Weg, denn ich jetzt noch zurücklegen musste, wurde mir schlecht. Meine Beine und Arme schmerzten. Die letzten Tage war ich nur kreuz und quer durch die Wildnis gestrolcht, um diese eine Beute zu verfolgen.
Ohne zu klagen schulterte ich die Lederriemen und begann, die Hirschkuh aus dem fauligen Wasser zu ziehen. Sie musste unbedingt ans trockene Land, sonst wäre sie nicht mehr zu genießen.

Ich war schon den ganzen Tag gelaufen und langsam wurde es Mittag. Aus der nassen Sumpflandschaft war eine einigermaßen trockene, mit kurzen Gräsern, Büschen und Birken bewachsene Hügellandschaft geworden geworden. In der Ferne sah ich die drei auffällig großen Birken, die Nanuks Territorium markierten. Meine Kleidung trocknete in der warmen Sonne des Frühlings und wurde steif vor Dreck und Matsch, der erhärtete.
Auf meinem Weg sah ich öfters die Spuren von Grizzlykrallen an Baumstämmen, die zweifelsohne von einem großen Männchen stammen mussten. Die Rinden waren zerfurcht und an der Anzahl der Krallenspuren vermutete ich, dass dieser Grizzly schon lange hier leben musste. Ich war auf der Hut und machte mich daran, schnell am Territorium des Bären vorbeizukommen. Doch obwohl ich ständig Ausschau hielt, ließ sich keiner blicken. Bärenreviere waren oft groß, also war die Wahrscheinlichkeit, dass genau jetzt einer hier aufkreuzen würde, sehr gering.
In Gedanken dachte ich an meine Kindheit, an das Leben mit den Bären. Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, in dem Nanuk mich entdeckt hatte. An das Gefühl von Angst, Trauer und Verlassenheit. Wie Kälte begann, meine Haut taub zu machen und ich weinte, weil es dunkel wurde. Selbst als dann die Wölfe heulten und die Eulen kreischten kam noch niemand, um ich zu holen. Mich zu retten. Und dann war sie da gewesen: Nanuk. Dieser große, dunkle Schemen, der sich vom sternenbesetzten Himmel abhob. Ihre funkelnden Augen, als sie mich betrachtete. Und dann plötzlich ihr warmer Atem auf meiner kalten Haut gewesen und ihre raue Zunge hatte mir über das verweinte Gesicht geleckt. Der Schlag ihres Herzens, als ich mich in ihr Fell klammerte, und das Ziehen meiner Kleider, als sie mich hochhob, waren tief in meinem Kopf verankert. Und dann all die wundervollen, behüteten Tage, die ich mit ihr verbracht hatte. Ganze zwei Zyklen, bis ich fünf Zykluse alt gewesen war. Ein normales Bärenjunge wäre da schon fast selbstständig gewesen, doch ich war es noch lange nicht. Nanuk hatte es begriffen, mich weiter umsorgt und behütet. Hatte mir beigebracht, wo man die schönsten wilden Zwiebeln fand. Hatte mir gezeigt, wie man sich in den Fluss stellen musste, sodass die Lachse leichte Beute waren. Mit zehn Zyklen war ich das erste Mal alleine losgezogen. Und da hatte ich sie entdeckt: Menschen. Meine Art. An der Stelle, wo sich der Fluss verzweigte, lebte ein ganzer Haufen von ihnen. Ich hatte sie entdeckt, weil sie Feuer hatten. Der Rauch war weit zu sehen gewesen. Ich war fasziniert gewesen, als ich zusah, wie sie Steine aufeinanderschlugen und Funken umhertanzten, bis aus einem einfachen Haufen Reisig ein loderndes, wärmendes Feuer geworden war.
Ich hatte es auch versucht, so oft, bis ich überall Quetsch- und Schürfwunden hatte, doch am Ende hatte es mit zwei Feuersteinen geklappt. Von da an zog ich es vor, mein Fleisch zu braten. Rohes Fleisch verabscheute ich fast. Ich hatte mich immer mehr von Nanuk abgeschieden. Ich schlief bei ihr und war oft in ihrer Nähe, doch untertags wahr ich meistens fort, um die Menschen zu beobachten. Sie waren schräge Wesen, sie viel anders als ich und Nanuk. Doch sie sprachen meine Sprache. Die Sprache, die ich aus meinem Alten Leben mitgenommen hatte. Ich war mit drei Zyklen ausgesetzt worden. Doch ich hatte meine Sprache nie vergessen. Sie hatte etwas an Vertrautes an sich, das ich nicht aufgeben wollte.
Meinen ersten Bogen hatte ich einer Gruppe Schützen geklaut, die am Rande eines Fichtenwaldes gejagt hatte. Dann, als dieser während eines Winters zerbrach, hatte ich angefangen, selbst Bögen zu bauen. Mein gesamtes Leben basierte auf Erfahrungen, die ich gemacht hatte.
Ich hatte öfters Gespräche der Menschen aufgeschnappt, doch mit den Worten „Rabenclan" oder „Schamane" wusste ich heute noch nichts anzufangen.
Am liebsten spionierte ich den hochgewachsenen Schützen hinterher, die mit ihren Bögen Jagd auf alle Arten von Wild machten. Ich war beeindruckt gewesen, als ich beobachtet hatte, wie ein Mann einen Vogel vom Himmel schoss. Seitdem hatte ich geübt und geübt. Doch obwohl ich sie so lange beobachtet hatte, hatte ich noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt.
Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit – und schon war es passiert. Ich spürte die Anwesenheit des Grizzlys, noch bevor ich ihn sah. Die Äste der Fichte raschelten, als der riesige Körper des Bären durch sie hindurchbrach. Ich erstarrte, als er auf mich zugetrabt kam. Der Geruch von Hirschblut musste ihn angelockt haben. Muskeln spielten unter seinem Pelz und Narben zierten sein Gesicht. Er baute sich vor mir auf und ich schrie, als ich seine gelben Zähne sah. Stinkender Atem schlug mir ins Gesicht und ich ballte meine Hände so fest, dass meine Nägel kleine, halbmondförmige Abdrücke in der Haut hinterließen.
Der Bär knurrte und warf den wulstigen Kopf hin und her. Er wollte mich vertreiben. Nein. Ich umklammerte die Riemen noch fester. Ich hatte tagelang meiner Beute nachgespürt, hatte schon lange kein Fleisch mehr gegessen und brauchte das wertvolle Fell und das Horn der Hufe, besonders auch die Knochen. Aber er war stark und so groß!
Ich duckte mich langsam, um ihn nicht zu verärgern. Unterwürfig senkte ich den Kopf und machte mich klein, um zu zeigen, dass ich einen Rückzieher machte. Der Bär richtete sich auf die Hinterbeine, stieß ein kehliges Brüllen aus und zog die Lefzen hoch, sodass ich seine Zähne sehen konnte. Mein Herz schlug so schnell, dass ich glaubte, gleich würde es aus meiner Brust ausbrechen. Der Riese setzte seine gewaltigen Tatzen wieder auf den Boden, dann preschte auf mich zu.
Ich rannte, ließ die Hirschkuh liegen und warf den Bogen ab. Ich wusste, dass ich niemals so schnell wie er sein würde, auch das Klettern auf Bäume würde mir nichts helfen. Ich raste einfach davon, in der Hoffnung, irgendwo etwas zu finden, eine Höhle vielleicht, wo ich mich verstecken konnte. Der Boden des Waldes bebte von den Pfoten des Grizzlys und meine Brust schmerzte vom schnellen Laufen. Ich würde es niemals zu Nanuk schaffen, bis dahin hätte mich das Ungetüm hinter mir längst eingeholt. Überleg dich was!, dachte ich panisch. Wenn ich schlappmachte, würde der Grizzly mich töten. Auch meinen Bogen hatte ich nicht bei mir, ich hatte ihn abgeworfen wegen des Balastes, der mich am Rennen hindern würde.
Ein Ast verfing sich in meiner Hose und ich stürzte auf den Boden. Meine Ellenbogen wurden aufgeschrammt und ich schluckte Erde. Spuckend versuchte ich, mich aufzurappeln, doch eine Pranke schlug genau dort zu, wo die Hose an einem Ast hing. Das Holz splitterte und Erde spritzte, ich keuchte und hustete und versuchte aufzustehen, doch der Bär war schon über mir und schnappte zu.
Ein Brüllen.
Erde, die aufspritze.
Blut.
Aber es war nicht meines.
„Nanuk!", schrie ich überrascht und erschrocken, als meine Bärenmutter sich auf den ausgewachsenen Grizzly warf und ihm die Zähne in die Schulter rammte. Der Lärm war so ohrenbetäubend, dass ich glaubte, taub werden zu müssen. Oh, bitte, tu ihr nicht weh!, bat ich panisch, als ich sah, wie der Grizzly rasend vor Wut auf Nanuk einschlug. Die zwei Kolosse rangen miteinander. Ihr Atem rasselte vor Anstrengung in ihren Kehlen und ich zuckte zusammen, als ihre Pranken jeweils auf den Körper des anderen Donnerten. Nanuk holte aus und iher Pranke krachte in seine Schläfe. Blut spritzte, als sie abermals zuschlug und auf seine Kehle zielte. Starr vor Angst sah ich, wie der Koloss umgerissen wurde. Der Boden bebte, als sein schwerer Körper umkippte. Ich hatte keine Angst um mich, sondern um Nanuk. Weil ich sie in Gefahr gebracht hatte.
Als der Koloss benommen den Kopf schüttelte und das Blut am Boden sah, drehte er frustriert die Ohren hin und her. Nanuk stellte sich schützen vor mich, brüllte heißer und kehlig und zog die Lippen hoch, sodass man ihre Zähne sah. Ihr dunkler Pelz war gesträubt und der des Männchens ebenfalls, doch es sah ein, dass ich es nicht wert war, und blieb knurrend stehen. Langsam wandte der Grizzly den Kopf, drehte sich um und trat den Rückzug an, als wäre nichts geschehen.
Nanuk knurrte mich an und ich erschrak, doch ich hatte es ja verdient.
„Es tut mir leid", sagte ich und vergrub das Gesicht in ihrem dicken Pelz. „Es tut mir leid, Nanuk, wirklich. Ich habe ihn nicht bemerkt." Der Blick, den sie mir zuwarf, schien zu sagen: Wieso bringst du dich immer in Gefahr?
Ich schluchzte, der Schock kam nun doch.
„Lass uns heimgehen, bitte, Nanuk", schluchzte ich und wischte mir eine Träne ab. „Ich will zu Robby." Obwohl Nanuk es nicht mochte, wenn ich in Menschensprache sprach, akzeptierte sie es. Sie musste spüren, dass es mir ein Gefühl von Sicherheit gab.
Ich stieg auf ihre Schultern, dort, wo sich ein großer Wulst aus Muskelmasse befand, und krallte mich in ihrem dicken Pelz fest. Es war schön, sie nach drei Tagen widerzusehen.
Nanuk brachte mich zurück zur Höhle – ohne meine Beute. Obwohl ich am liebsten vor Wut und Frust geschrien hätte, sah ich ein, dass es zu gefährlich war, zurückzukehren. Das Grizzlymännchen war sicher dort, um sich an meiner Beute zu laben, und einen weiteren Kampf wollten weder ich noch Nanuk riskieren.



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