Chips

Letztes Jahr. Blaulicht. Mittags.
Derya ging neben mir her. Vor uns lief der Mann in weiß mit Klemmbrett auf den Krankenwagen zu. Derya stieg ein. Ich stand draußen und sah einfach nur das Blaulicht an oder besser gesagt sah ich zu wie ich selber das Blaulicht ansah. Ich hatte den ganzen Tag mir selber zu gesehen.
Auf einmal berührte mich ein Sanitäter am Oberarm. Sanft. Kaum eine Berührung.
Er hatte rotbraune Haare und grüne Augen, aber von der Sanftheit war nichts in seinem Gesicht zu sehen. Zwar auch kein Hass oder Abscheu. Es war etwas verzerrt zu einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Genervtheit.
,,Setz dich nach vorne."
Ich kletterte die Treppen hoch und setzte mich. Er stand noch an der Tür und hatte gewartet bis ich eingestiegen war und dann schlug er die Türe zu.
Unsanft. Mit einem lauten Knall. Draußen hörte ich seine gedämpften Schritte um den Krankenwagen herumgehen.
Es herrschte eine unangenehme Stille. Ich konnte weder der Stille noch meinen Gedanken entfliehen. Es fühlte sich an als ob der Wagen immer weiter schrumpfen würde. Plötzlich wurde die Fahrertür geöffnet und ein Windstoß fegte die Stille weg.

,,Hast du nicht gemerkt, dass sie sich das Leben nehmen wollte?", ertönte seine tiefe, ruhige und mit Vorwürfen gefüllte Stimme, der seinen Blick nicht von der Straße abwendete.

Entsetzt und mit offenem Mund saß ich da. Meine eigenen Vorwürfe laut ausgesprochen zu hören von jemand Fremden, war als würde man erstochen werden.
,,Ich...ich hatte-ich wusste...nein..."
,,Nein?"
Er hatte Recht. Ich hätte mehr tun sollen.
,,Ich wusste, dass sie traurig ist. Ich hab gewusst, dass sie leidet. Ich hab versucht sie aufzuheitern...versucht sie glücklich zu machen... Wie kannst du dir darüber nur eine Meinung bilden? Ich hab es versucht und...und vielleicht reichte es nicht sein Bestes zu geben, aber nicht nur meine Schwester wollte sich umbringen. Ich halt das nicht aus... Denkst du ich mach mir keine Vorwürfe? Ich will mich nicht rechtfertigen, denn macht es Sinn sich für etwas zu rechtfertigen, wofür man sich selber Vorwürfe macht? Aber glaub nicht, dass du jemanden der in meiner Lage ist, etwas gutes tust indem du deine Vorwürfe machst", ich war aufgebracht, schaute ihn verzweifelt an und als ich fertig war, war ich kurz davor auszusteigen und mich von der Brücke zu werfen.
,,Ich...ich es tut mir Leid. Nein, ich will dir keine Vorwürfe machen. Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen."
,,I-Ist schon ok. Ist ja nicht so, dass ich mir das Ganze nicht selber vorgeworfen hätte."
,,Meinst du das ernst? Dass du dich umbringen willst?"
,,Manchmal wird es einem glaub ich einfach zu viel. Aber das wäre nicht ich, wenn ich mich nicht dem Problem stellen würde. Mich von einer Brücke runter zu werfen klingt einfacher wahrscheinlich, aber bei dem Gedanken...das ist scheiße nochmal echt angsteinflößend, da kämpfe ich lieber mit meinem Problen Also nein, nein ich will nicht sterben. Ich will leben, aber nicht so.
I

ch gebe Derya nicht die Schuld, das wäre dumm. Ich weiß wieso sie so traurig ist und da haben halt unsere Eltern dran Schuld. Ok... wir lieben sie und sie lieben uns. Aber manchmal können wir auch reines Gift für einander sein. Wieso müssen meine Eltern in so vielen Dingen ganz anderer Meinung sein. Ist ja klar das Eltern und Kinder nie einer Meinung sind, aber nicht auf die Art und Weise. Es sind ganze Weltansichten, Werte und Vorstellungen. Es ist nicht die Frage wo kommt das Besteck und wo die Wäsche hin. Es geht um Themen, wie: Wer sollte entscheiden wen und wann jemand heiraten sollte. Haben Frauen und Männer die gleichen Rechte? Wieso ist der Ruf einer Frau im Gegensatz zum Mann so wichtig? Wieso bist du nicht wie die anderen Mädchen, die in deinem Alter schon einen ganzen Haushalt führen?", ich hatte mich in Rage geredet.
Es war der lange Tag und die Verlockung, dass einer mir zuhören musste, da er nicht aussteigen konnte und als Sanitäter die Schweigepflicht hat, aber ich war selber von mir überrascht. Ich hatte die Wahrheit gesagt und kaum etwas zurück gehalten. Nie hatte ich jemanden gesagt, wie meine Eltern solche Dinge sehen. Aus Scham. Man könnte denken, dass sie ungebildet sind und ich wollte nicht, dass jemand ein falsches Bild von meinen Eltern bekommt. Ich hätte wahrscheinlich viel mehr gesagt, wenn die Fahrt länger gedauert hätte. Er bremste scharf an der Kreuzung

,,Verdammte scheiße. Gott, willse nicht noch langsamer fahren.Tut mir leid. Ich versteh was du sagen willst und ich glaub, dass sowohl du als auch deine Schwester was besseres verdient habt. Versprich mir einfach, dass du dich nicht von Brücken wirfst und auf dich und deine Schwester aufpassen wirst. Und außerdem wer weiß den schon wie ein Haushalt richtig geführt wird? Ich werfe zum Beispiel meine Kleider immer auf meinen Stuhl und das ist für mich richtiger Haushalt. Für meine Mutter ist das die sogenannte faule Scheiße."

Ich konnte nicht anders. Ich lachte laut auf. Der Sanitäter neben mir, der vorhin unhöflich und so aussah als hätte er keine Lust uns zur Psychiatrie zu kutschieren, sah jetzt sympathisch aus und strahlte eine Fröhlichkeit aus, die nicht zur sonstigen trüben Stimmung des Tages, passte.

Der Rothaarige war wie ein Abwehrmechanismus oder ein Verdrängungsmechanismus für mich gewesen. Wenn es so etwas überhaupt gibt. Aber jedes mal wenn ich mich an den Tag erinnerte, erinnerte ich mich zu erst an ihn und verdrängte jedes mal den Gedanken, dass es der Tag war, der auch der letzte Tag meiner Schwester hätte sein können..
Abwehrmechanismen in Momenten wo man sie braucht sind klasse. Verdrängen kann aber leicht gefährlich werden.

Verdrängen ist so eine Sache. Sollte man besser sein lassen. Sachen in sich zu stopfen und zu verleugnen, das es sie gibt, ist nie gut. So ähnlich wie bei Chips. Man stopft sie in sich hinein und verleugnet, dass man einige Kilo zu genommen hat.

Chips...

Rose war bewusstlos geworden und war mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht wurden und lag in einem warmen Zimmer. Zoey ging es etwas besser und sie hatte darauf bestanden gehabt bei ihr zu sein und zu warten bis sie aufwachte. Sie ging aus dem Zimmer raus, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Als sie mit dem gefüllten Plastikbecher wieder zurück kam, bog in dem Moment ein Junge mit seiner Arbeitskleidung um die Ecke.

,,Zoey!", rief er erleichtert aus und lief auf sie zu um sie in eine Umarmung zu ziehen, wobei er das Wasser beinah verschüttete.

,,Ben, oh Gott. I-Ich hatte so Angst. Ich sitze seit einer Stunde hier und sie ist noch nicht aufgewacht. Hast du was zu essen mitgenommen? Ich verhungere."

,,Ne, ich dachte wir fahren jetzt wieder nach Hause. Kannst doch dort was essen. Hab vorhin Chips geholt"

,,Nein, ich kann nicht gehen. Das Mädchen, das mich gerettet hat liegt hier. Sie ist noch bewusstlos."

Ben sah sie besorgt an, doch er dachte er müsste sich bei dem Mädchen bedanken und sich revanchieren.

,,Na gut. Weißt du wer die Typen waren? Hast du ihre Gesichter gesehen? Vielleicht können die Jungs und ich ja was machen."

,,Nein, ich kannte sie nicht. Ich hab auch nichts gesehen. Und verdammt Ben ihr könnt nichts machen. Du bringst dich deswegen nciht unnötig i  Gefahr zum Glück ist uns nichts schlimmeres passiert. Überlass das der Polizei. Lass uns zu ihr gehen."

Zoey klopfte an der weißen Tür und öffnete sie. Sie sah wie Rose mit zerzausten Haaren aufrecht saß, sich den Kopf hielt und zur Tür starrte.

,,Du bist wach", rief Zoey fröhlich.

Hinter ihr machte Ben die Türe zu und trat näher, während Rose den Kopf hob und die zwei Rothaarigen ansah.

Und als wäre es aus einem Munde gekommen, sagten Rose und Ben gleichzeitig: ,,Ach du scheisse."

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