59. Tiefgründig

Hallo meine Lieben, eine meiner Leserinnen hat sich einen tiefgründigen Beitrag von mir gewünscht.

Aufgrund dessen, was ich gestern Abend erlebt habe, möchte ich diesem Wunsch sehr gerne nachkommen, bedanke mich jedoch zunächst wie immer für die große Resonanz zum letzten Kapitel.

Dieser Beitrag wird etwas anders sein als gewöhnlich und ich werde euch zu Beginn einige Dinge kurz erläutern, damit er die Zusammenhänge besser versteht.

Ich möchte euch bitten, diesen Blogeintrag bis zum Schluss zu lesen, denn er wird eine krasse Wendung erfahren, so wie es oftmals in meinen Geschichten, die ich mir ausdenke, der Fall ist. Dies hier ist jedoch keine ausgedachte Geschichte, sondern die Realität.

Ich stelle euch hier eine Auszug aus der Wikipedia-Seite zur Verfügung, damit ihr wisst, was die Blue Knights und Red Knights sind, über die ich gleich erzählen werde.

Die Blue Knights (deutsch blaue Ritter) gründeten sich 1974 als Vereinigung Motorrad fahrender Polizeibeamter in den Vereinigten Staaten. Das Hauptquartier des Blue Knights International Motorcycle Club befindet sich in Bangor (Maine). Der Clubname wurde von einer zu dieser Zeit im US-amerikanischen Fernsehen ausgestrahlten gleichnamigen Serie, die von Polizeibeamten handelte, abgeleitet.

In den folgenden Jahren verbreitete sich diese Idee in den gesamten USA, Kanada und Australien. 1989 wurde die Idee nach Europa getragen, wo es in vielen Ländern Chapter (selbständige Unterabteilungen) gibt. In Deutschland gibt es 39 Chapter. Mit über 24.000 Mitgliedern in über 600 Chaptern weltweit sind die Blue Knights einer der größten Motorradclubs. Neben den Blue Knights sind noch eine Reihe weiterer Law Enforcement Motorcycle Clubs (LEMC) bekannt und aktiv.

Die Ziele der Blue Knights sind die Förderung des Motorradtourensports, Förderung der Völkerverständigung und der weltweiten Einigung sowie die finanzielle und materielle Unterstützung von gemeinnützigen, mildtätigen und sozialen Einrichtungen, Organisationen und Stiftungen. Ferner fördern sie die Sicherheit im Bereich des Tourenfahrens, durch Verbesserung und Anschaffung von passiven Sicherheitseinrichtungen (z.B. Protektoren) und geben praktische Unterstützung in Fragen der aktiven Fahrsicherheit.

Mitglied in einem Chapter kann werden, wer Polizeibeamter, Zollfahndungs- oder Justizvollzugsbeamter ist, ein Motorrad besitzt und über die entsprechende Fahrerlaubnis verfügt. Ausnahmen von dieser Regel sind zulässig. Die Mitglieder haben die Möglichkeit, mit ihren Familien an lokalen, nationalen und internationalen Treffen und Begegnungen teilzunehmen und solche zu veranstalten.

Ein verwandter und befreundeter Club ist der Red Knights International Firefighters Motorcycle Club, der Club für motorradfahrende Feuerwehrleute. *

Als Zeichen der Zusammengehörigkeit innerhalb eines MCs gilt, dass ein Emblem, das sogenannte Colour (im Englischen Backpatch genannt), das auf der Rückseite der Kutte (Lederweste) getragen wird. Es besteht üblicherweise aus einem zentralen Bild (Center Crest) sowie darüber- und darunterliegenden Schriftzügen (Toprocker, Bottomrocker), die die Namen und geografische Herkunft des Clubs angeben.**

Das Colour bekommt der Anwärter nach Ablauf seiner „Probezeit". Bei den Knights, egal ob Blue oder Red, beinhaltet die Übergabe dieses Colours einen Ritterschlag mit einem Schwert. Dazu muss derjenige vor dem Präsidenten des Clubs niederknien – wie in guten alten Ritterzeiten.

Die Aufnahme eines Members in den Motorradclub ist jedes Mal etwas sehr Besonderes, denn sie findet auch stets bei größeren Veranstaltungen statt.

Mein Mann und ich sind Mitglieder der Blue Knights. Gestern Abend waren wir mit einigen andern Mitgliedern unseres Chapters zur Einweihung des neuen Clubhauses bei einem befreundeten Chapter der Red Knights eingeladen. Anlässlich dieser Veranstaltung wurde aus dem Chapter der Red Knights jemand zum Ritter (Fullmember) geschlagen.

Jemand, den wir im letzten Jahr auf dem Sommerfest der Red Knights kennengelernt haben. Damals war auch mein Mann noch Anwärter, er hatte genau wie Till, der junge Mann, der gestern zum Ritter geschlagen wurde, noch kein Colour auf dem Rücken. Die beiden machten damals im August aus, dass sie den jeweiligen Ritterschlag des anderen nicht verpassen wollten.

Till war da, als mein Mann im Herbst letzten Jahres, bei unserem traditionellen Oktober-Rock zum Ritter geschlagen wurde. Wir haben zusammen gefeiert und gelacht.

Da die Motorradsaison und damit auch die Feste der jeweiligen Clubs im Spätherbst zu Ende gehen, haben wir uns seit diesem Tag nicht mehr gesehen. Erst gestern wieder, als er seinen Ritterschlag empfing.

Till konnte dafür nicht niederknien, denn er saß in einem Rollstuhl.

Als ich ihn sah, da ist mein Herz in zwei Teile zerbrochen und ich fand im ersten Moment keine Worte. Mehr als ein „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Colour", brachte ich nicht hervor.

Es war schrecklich, diesen jungen Mann, 19 Jahre alt, in diesem Rollstuhl zu sehen. Till ist Gott sei Dank nicht querschnittsgelähmt, aber ihm fehlt ein halbes Bein. Der Unterschenkel des linken Beines wurde durch einen Motorradunfall zerstört. Außerdem kann er im Moment seinen linken Arm und die Hand nicht richtig bewegen.

Es hat einen Moment gedauert, bis ich dazu fähig war, zu ihm hinzugehen und mit ihm zu reden.

Der Satz „Wie geht es dir?", schien mir plötzlich so unpassend, so schwergewichtig zu sein.

Über eine Stunde habe ich beobachtet wie er in seinem Rollstuhl mit seinen Kumpels am Feuer saß.

Bei den Red Knights ist es Tradition, dass zu jeder Party ein großes Lagerfeuer auf dem Grundstück gemacht wird, denn mit Feuer kennen sich die Feuerwehrleute aus.

Schließlich sind mein Mann und ich gemeinsam zu Till gegangen, um mit ihm zu reden.

Er hat sich über unser Kommen sehr gefreut und auch darüber, dass wir seinen Ritterschlag miterlebt haben. Wir haben mit Cola darauf angestoßen, weil er keinen Alkohol trinken durfte.

„Es war zwar ein bisschen anders, als ich es mir vorgestellt hatte", sagte mein Mann, worauf Till uns genaueres über den Unfall erzählte.

Er war nicht schuld an dem Unfall, das war der Autofahrer, der frontal in das Motorrad hineinfuhr, als Till eine Linkskurve mit ganz normaler Geschwindigkeit nahm. Das Auto kam auf seine Spur.

Warum? Ich kann nur vermuten, dass der Fahrer mit seinem Handy gespielt hat oder sich einfach überschätzt hat. Vielleicht war er auch zu schnell, aber das ist im Prinzip egal, weil es Tills halbes Bein nicht mehr wiederbringen wird.

Doch der junge Mann gibt nicht auf. Er wird morgen nochmals am Arm operiert. Die Ärzte versuchen einen Nerv umzulegen, damit alles wieder voll bewegungsfähig wird. Später wird er eine Beinprothese tragen, mit der er dann auch laufen kann.

Till ist noch genauso liebenswert wie damals im August, als wir ihn kennenlernten. Er hat noch immer dasselbe, strahlende Lächeln, die warmen haselnussbraune Augen, die kurzen, hellbraunen Haare.

Er hat sich nicht verändert, er sitzt nur momentan in einem Rollstuhl. Aber die positive Aura, die von ihm ausgeht, ist bewundernswert. Er ist stark und trägt seine Kutte, die man ihm im November, als der Unfall passierte, ins Krankenhaus brachte mit Stolz. Das Colour war schon drauf, nur den Ritterschlag hat er sich gestern erst abgeholt.

Till sagte einen ganz essentiellen Satz: „Ich bin froh, dass ich heute da bin und so hier sitze, und dass ich überhaupt noch am Leben bin. Es hätte schlimmer kommen können."

Er erzählte, dass er die Kutte jeden Tag, wenn er im Krankenhaus aus seinem Bett raus ist, angezogen hat. Die Schwestern haben sie ihm automatisch gereicht, weil sie verstanden haben, was das für ihn bedeutet und dass es sich positiv auf seine Genesung auswirkt. Er hat nach drei Monaten größere Fortschritte gemacht, als andere nach einem Jahr.

Als wir uns verabschiedeten, um nach Hause zu fahren, gab ich Till einen Cent.

„Das ist dein Glückscent, ich wünsche dir alles Glück der Welt, du schaffst das", habe ich zu ihm gesagt.

Er hat mich fest an sich gedrückt, sich bedankt und den Glückscent in die Brusttasche seiner Kutte gesteckt.

„Der bleibt da auch", hat er gesagt, „für immer."

Mit einem lachenden und einem weinenden Augen bin ich weggegangen. Das weinende Auge war traurig, weil so einem netten, lieben Menschen solch ein Schicksal auferlegt wurde, das lachende Auge hat sich gefreut, weil er unglaublich stark ist und nicht aufgibt.

Der gestrige Abend ist für mich ganz anders verlaufen als gedacht. Ich habe keine lockere Party gefeiert, sondern eher nachgedacht.

Manchmal sollten wir alle einfach nachdenken, darüber, dass das Leben ein Geschenk ist und wir uns oft über Dinge aufregen, die es nicht wert sind. Wir sollten darüber nachdenken, dass es egal ist, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht, ob ein Mensch äußerlich perfekt ist oder nicht. Denn es macht ihn nicht aus. Ihr würdet euch 100 pro in Tills Lächeln verlieben und in seine nette, liebevolle Art, in seinen Humor, der ungebrochen ist – dass ihm ein halbes Bein fehlt, das ist „nur" das Überbleibsel seines Unfalls aber es ist nicht das, was ihn ausmacht.

Ich denke, einen Beitrag dieser Art werdet ihr nie wieder von mir in meinem Blog lesen, aber das musste einfach raus, weil es mich unglaublich beschäftigt hat und noch immer beschäftigen wird. Ich denke, der Beitrag war auch für meine Leserin, die sich etwas Tiefgründiges wünschte, tiefgründig genug.

LG, Ambi xxx

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*Quelle: Wikipedia

**Quelle: Wikipedia

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