Kapitel 30 - Hunter

Hunter wusste, dass er träumte. Gleichzeitig fühlte es sich sehr real an, viel zu real. Er spürte, dass er schweißgebadet war und er sich unruhig hin und her wälzte, aber aufwachen konnte er auch nicht. Dieser Traum war anders, als all seine bisherigen Träume, irgendwie war er wach und gleichzeitig doch nicht. 

Plötzlich wurde alles um ihn herum schwarz und er glaubte, jeden Moment aufzuwachen, aber er wachte nicht auf. Auf einmal schien er zu fliegen, zumindest dem Gefühl in seinem Bauch nach zu urteilen, bis mit einem Mal seine Sicht wieder klar wurde. 

Panisch blinzelte er, als er erkannte, dass er über den beiden Sofas oben an der Decke schwebte. Panisch tastete er nach Halt, aber seine Hände fanden nur die Zimmerdecke, die ihn wie ein starker Magnet zu halten schien. Er musste immer noch träumen, anders ließ sich das nicht erklären. 

Sein Blick wanderte durch das Zimmer, das nur vom flackernden Schein des Feuers erhellt wurde. Er sah Jayda, die in ihrem Schlafsack zusammengekauert dalag und zu schlafen schien. Als er zu dem anderen Sofa, seinem Sofa, herübersah, zuckte er unsanft zusammen. Er konnte sich selbst sehen. Das war also ganz eindeutig ein Traum! Auch wenn er sich nicht erinnern konnte, dass er schon einmal so einen realen Traum gehabt hatte, musste es doch so sein. 

Unwillkürlich betrachtete er sich selbst, seine blonden Haare, die in alle Richtungen abstanden und seinen schmächtigen Körper, der nur die Hälfte des Schlafsacks auszufüllen schien. Es war ihm unangenehm, sich selbst so zu mustern, sodass er den Blick durchs Zimmer wandern ließ. Es schien alles ruhig zu sein, was sollte also diese merkwürdige Empfindung, außerhalb seines Körpers zu sein. Beziehungsweise sich auf einmal geklont zu haben, denn er konnte seine Hände und seinen Körper nicht nur unten auf dem Sofa, sondern auch hier oben an der Decke eindeutig sehen. 

Plötzlich bewegte sich sein reales Ich unten auf dem Sofa. Hunter spürte, dass sein Geist hier oben unter der Decke hing und das da unten nur sein Körper war, den er beobachten konnte. Es war ein vollkommen bizarres Gefühl, so als wäre der Junge da unten eine Puppe, die auch irgendwie er selbst war. 

Neugierig beobachtete er sich, wie er den Schlafsack zurückschlug und die Beine über die Kante des Sofas schwang. Augenblicklich fühlte er sich angespannt, denn er selbst hatte keine Ahnung, was sein Selbst da unten aufgeweckt hatte. Mit pochendem Herzschlag beobachtete er, wie sich das Flackern des Feuers in seinem blonden Haar widerspiegelte. 

Nach wenigen Sekunden erhob sich sein Körper, sein zweites Ich und ging quälend langsam auf Jayda zu. Sie schien von dem Ganzen nichts mitzubekommen, denn sie rührte sich nicht. Langsam beugte sich sein Körper zu ihr herunter und strich ihr mit dem Finger eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Hunter bekam augenblicklich eine Gänsehaut, denn das würde er niemals tun! 

„Hey, hör sofort auf damit!", rief er seinem Körper zu, denn er wollte sich ganz klar davon distanzieren. Obwohl er selbst seine Worte klar und deutlich hörte, schien niemand der beiden dort unten etwas davon mitzubekommen. 

Sein Körper richtete sich wieder auf und betrachtete Jayda, als sei sie ein Stück Fleisch, das er sogleich verschlingen wollte. Hunter wurde ganz mulmig zumute, denn was auch immer da unten gerade passierte, das war absolut falsch! 

Er versuchte, sich irgendwie von der Decke zu lösen, damit er eingreifen konnte, aber er konnte sich nicht rühren. Es war, als klebte er an dieser Decke fest und musste tatenlos zusehen, was sein Körper anstellte. Langsam ging dieser ein Stück am Sofa entlang, bis er ungefähr in der Mitte, auf Höhe von Jaydas Hüfte, stehen blieb. Sein gieriger Blick war noch immer auf sie gerichtet. 

„Stopp!", schrie Hunter, aber wieder schien nur er selbst sich zu hören. 

Dann ging auf einmal alles ganz schnell. Sein Körper sprang mit einer unnatürlichen Schnelligkeit auf das Sofa, riss Jayda an den Schultern herum und nagelte sie fest. Er saß auf ihrer Hüfte und packte ihre Arme. Jayda schrie und er erkannte die blanke Panik in ihrem Blick. 

„Hunter, was machst du denn da?", keuchte sie, aber sein Körper reagierte nicht auf ihre Worte. Wie im Rausch riss er ihre Arme nach unten, sodass ihre Hände unter seinen Knien gefangen waren und sie absolut hilflos war. 

Hunter versuchte noch einmal, sich irgendwie zu bewegen, um dieses Ding da unten von ihr loszureißen, denn selbst wenn es aussah, als sei er es, war er es ganz eindeutig nicht! Niemals würde er Jayda wehtun. Er konnte nichts tun, außer zu beobachten, was da unten geschah. Jayda weinte und versuchte vergeblich, sich von seinem Abbild zu befreien, aber es schien eine übermenschliche Kraft zu haben, sodass sie sich keinen Millimeter rühren konnte. 

Plötzlich hob sein Abbild die Hände, die Finger hässlich verkrümmt und legte sie um Jaydas Kehle. Hunter wand sich heftig und versuchte mit aller Kraft, sich von seinem Gefängnis unter der Decke zu befreien. Er schrie, aber niemand schien ihn zu hören oder zu sehen. Jaydas Kehle entwich ein Gurgeln, ihre Augen traten groß und voller Angst hervor. Ihr Körper zuckte unter dem seines Abbildes, aber sie schaffte es nicht, sich zu befreien. 

Der echte Hunter spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. 

„Hör auf!", japste er, allerdings vergeblich. Er musste doch irgendetwas tun können! Er durfte nicht zulassen, dass Jayda... dass sie womöglich noch erwürgt wurde! Sie gab nur noch ein Röcheln von sich, ihr Gesicht verfärbte sich langsam aber sicher. 

„Es tut mir so leid, Jayda! Das bin nicht ich!", schluchzte er, denn mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass Jayda glauben musste, dass er es war, der sie da umbringen wollte. 

„Stopp! Lass von ihr ab!", schrie auf einmal eine Stimme. Hunter riss den Blick hoch und erkannte ein Mädchen, ungefähr in ihrem Alter, vielleicht etwas jünger. Sie stand am Kopfende von Jaydas Sofa, eine Hand als Zeichen des Innehaltens nach vorn gestreckt. 

Hunters Herz blieb für einen Moment stehen. War das... war das Amber? Sein Abbild blickte auf und lockerte sichtlich seinen Griff um Jaydas Hals. Sofort rang sie nach Luft und hustete heftig. 

„Du kannst nicht auf diesen Jungen überspringen! Meine Schuld ist noch nicht gesühnt!", rief das Mädchen mit einer eindeutig überirdischen Stimme. Es hörte sich an, als würde ihre Stimme überall sein, sie umgeben und umfangen. 

Hunters Abbild richtete sich auf und für eine Sekunde verschwand es im Schatten. Als es sich wieder nach vorn beugte, gefror Hunter das Blut in den Adern. Dieser nackte, muskulöse Körper, der in einen borstigen, hässlichen Wolfskopf überging, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es war Alastor, der auf Jayda hockte, die geifernde Zunge hing ihm weit aus dem Maul, sodass einzelne Spuckefäden auf Jaydas Gesicht fielen. Diese schrie auf, verfiel aber sogleich in eine Schockstarre, die Augen weit aufgerissen und vollkommen starr. Alastor richtete seinen Blick nun direkt auf das Mädchen. 

„Er ist ein besseres Opfer als du. Ich kann mich eurer beider Schuld bemächtigen", ertönte seine unheimliche, brummend-tiefe Stimme. Hunter bekam sogleich eine Gänsehaut am ganzen Körper.

„Nein! Das ist unmöglich! Erst wenn meine Schuld beglichen ist, kannst du auf jemand Neues überspringen", beharrte das Mädchen, was Alastor nur mit einem kehligen, viel zu lauten Lachen beantwortete. 

„Ich werde mich erst ihr entledigen, dann bist du an der Reihe. Zu lange begleite ich dich nun schon, für dich ist jeder Hoffnung verloren. Du wirst niemals deine Schuld eingestehen", sagte Alastor, stieg aber in diesem Moment von Jayda herunter. Sofort packte diese sich an den Hals und stumme Tränen flossen ihr über die Wangen. 

„Nein! Lass ihn da raus! Nimm mich, bleibe mein Begleiter", versuchte das Mädchen weiter, diesen Dämon zu überzeugen. Allerdings konnte Hunter ihr nicht ganz folgen. Anscheinend wollte Alastor nun nicht mehr an ihr haften, sondern hatte sich ihn als neues Ziel ausgesucht. Warum war sie nicht froh darüber, endlich von ihm befreit zu sein? 

Plötzlich veränderte sich die Miene des Mädchens. Sie fing ebenfalls an zu weinen und schlang die Arme um sich. Ihr schwarzes, kurzärmeliges Kleid raschelte dabei. 

„Ich will versuchen, meine Schuld zu begleichen und frei sein. Ich will nicht in der Hölle schmoren. Bitte gib mir diese Chance! Ich habe in deinem Auftrag schon so vielen Menschen Leid zugefügt", flehte sie mit weinerlicher Stimme. Komischerweise schien das den Dämon ein wenig zu besänftigen. Er ging langsam auf das Mädchen zu und baute sich vor ihr auf. Erst da wurde Hunter bewusst, dass er übermenschlich groß war. Das Mädchen hob den Kopf und sah ihm unverfroren in die gelben Augen. 

„Ich führe dich zu ihr. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich sie befreien und du kannst sie haben. Dann habe ich Buße getan und du versprichst mir dafür, dass ich nicht in die Hölle komme", sagte das Mädchen mit fester Stimme, als würde sie nicht mit einem Dämon verhandeln, sondern mit einem anderen Menschen. Alastor starrte sie einen Moment lang an, dann nickte er, wobei seine Augen blitzten. 

„So sei es. Führe mich in der nächsten Vollmondnacht zu dem Zeugnis deiner Freveltat, befreie sie und übergebe sie mir. Anschließend bist du frei. Ich verlange dafür die Sicherheit, dass du ihn bis dahin nicht davonkommen lässt", sagte Alastor und deutete auf einmal mit ausgestrecktem Finger auf Hunter, der noch immer unter der Decke gefangen war. 

„Gut", sagte das Mädchen und hielt dem Dämon tatsächlich die Hand hin. Ohne zu zögern schlug Alastor ein. Plötzlich umgab ihre Hand und seine Pranke ein seltsames goldenes Leuchten, das jedoch nach so kurzer Zeit schon wieder verschwand, dass Hunter glaubte es sich eingebildet zu haben. 

„Und so ging sie einen Pakt mit dem Teufel ein", tönte Alastor, lachte und löste sich urplötzlich in einem dunklen Schatten auf. 

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