Kapitel 10 - Hunter
Glücklicherweise schien Jayda nach ihrem Misstrauen in ihn von heute Morgen wieder besser gelaunt zu sein. Sie trug in ihren Händen einen Schokoladenkuchen aus dem Supermarkt, der unter einer durchsichtigen Plastikhaube bei jedem Blick verlockender aussah. Zwar hatte er ihr nicht sagen wollen, dass er heute Geburtstag hatte, aber bei dem Angebot im Diner hatte er es gezwungenermaßen tun müssen.
Nun waren sie auf dem Rückweg zum Haus, jede Menge zu Essen in seinem Rucksack, das sicherlich für ein paar Tage reichte. Die Sonne schien noch immer, was zu einem großen Teil zu Hunters guter Laune beitrug, neben dem Kuchen natürlich.
„Wir sollten uns gleich den Rest des Hauses ansehen. Vielleicht finden wir ja noch mehr Überraschungen wie die Badewanne", schlug Hunter vor und als er zu Jayda blickte, nickte sie.
„Ja, vielleicht gibt es sogar ein richtiges Bett", schwärmte sie und obwohl sie auf ihren Sofas nahe beim Kamin ganz gut schliefen, wäre ein Bett eindeutig besser.
„Das wäre fantastisch!", rief sie aus und lachte sogar ein kleines bisschen. Hunter musste grinsen. Es war schön, dass sie in ihrer aktuellen Lage dennoch Momente fanden, in denen sie so etwas wie Glück verspürten.
Auf einmal drängte sich wieder einmal ein unangenehmer Gedanke in sein Hirn. Jayda war genau wie er von zu Hause weggelaufen und er fragte sich, was wohl ihr Grund dafür gewesen war. Allerdings wagte er es nicht, sie danach zu fragen, denn dann würde sie zweifelsfrei von ihm ebenfalls eine Antwort haben wollen, die er ihr auf keinen Fall geben wollte. Zumindest nicht die Wahrheit, aber er glaubte nicht, dass er ein sonderlich guter Lügner war.
Kopfschüttelnd vertrieb er den Gedanken und sah überrascht auf, als plötzlich vor ihm das Tor zum Haus aufragte. Um ein Haar wäre er dagegen gelaufen, so sehr war er in Gedanken vertieft. Das Efeu, das die Streben umwucherte, war nur wenige Zentimeter von seiner Nasenspitze entfernt, er konnte den durchdringenden Duft der Pflanze riechen und eilig trat er einen Schritt zurück.
Jayda kicherte unterdrückt, bevor sie das Tor mit einem leisen Quietschen öffnete. Das Efeu raschelte, als es bewegt wurde, was sich irgendwie ein klein wenig unheimlich anhörte.
Sie passierten das Tor und als er zum Haus blickte, wirkte es ganz und gar nicht mehr so gruselig und angsteinflößend wie gestern. Tatsächlich schien es eine einladende Unterkunft zu sein und Hunter spürte so etwas wie das wohlige Gefühl, wenn er nach Hause kam. Aber vermutlich nur, weil er schon seit vielen Jahren dieses Gefühl vermisst hatte.
Sie betraten das Haus und brachten das Essen geradewegs in die Küche. Sie stellten es auf dem großen Holztisch ab, den Kuchen genau in die Mitte. Fragend sah er zu Jayda, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte und lächelte.
„In den nächsten Tagen haben wir auf jeden Fall keinen Hunger", sagte sie. Hunter nickte und auch er freute sich, zumindest dieses Problem für eine gewisse Zeit vergessen zu können.
„Okay, sehen wir uns mal um", sagte er, machte eine Kopfbewegung, dass sie ihm folgen sollte und verließ die Küche. Wieder im Flur ging er geradewegs zu der Treppe, Jayda dicht hinter ihm.
Im ersten Stockwerk lagen das Klo und das Bad, hier hatten sie nur ein Zimmer noch nicht betreten. Sie erreichten die letzte Stufe und Hunter wandte sich nach rechts, wo am Ende des Flurs noch eine verschlossene Tür lag.
„Ich bin ein bisschen nervös", gestand er, ging aber dennoch zielstrebig auf die Tür zu. Was sollte denn schon dahinter sein? Unwillkürlich musste er an einen Schaukelstuhl denken, den es so oft in Gruselfilmen gab und der sich wie von selbst anschaukelte. Er grinste in sich hinein, denn mit Sicherheit gab es solche Klischees hier nicht.
An der Tür angelangt warf er einen Blick über die Schulter zu Jayda, die ihn ausdruckslos ansah. Er spürte, dass auch sie ein wenig nervös war.
„Ich... ich mache die Tür mal auf", sagte er auf einmal unsicher und legte die Hand auf die metallene Klinke. Sie fühlte sich kühl auf seiner Haut an und als er sie nach unten drückte ertönte ein knarzendes Geräusch, so als wäre der Mechanismus im Schloss ein wenig eingerostet. Dennoch konnte er die Tür aufdrücken.
Er machte sich auf alles gefasst, ein unheimliches Kinderzimmer mit Teddybären und Puppen, die ihn anstarrten oder ein Schlafzimmer mit einem alten Gemälde der Hausherrin, aber nichts von dem konnte er erkennen. Es war einfach nur ein leerer Raum, staubige Holzdielen auf dem Boden und vergilbte Tapete an den Wänden. Lediglich die dreckigen, ursprünglich weißen Vorhänge hingen noch vor den beiden Fenstern. Enttäuscht trat er einen Schritt hinein, wobei die Holzdielen leise knarrten.
„Oh, kein Bett", bemerkte Jayda und trat neben ihn.
„Wir haben ja noch ein paar Räume vor uns", erwiderte er und wandte sich um. Sie folgte ihm zurück in den Flur und schloss die Tür wieder hinter sich. Sofort waren sie von einer dämmerigen Dunkelheit umgeben, denn obwohl gegenüber am anderen Ende des Flurs, neben dem Treppenaufgang Platz für ein Fenster gewesen wäre, war dort keines. Da alle Türen geschlossen waren, drang kaum Tageslicht hinein. Nur kleine Strahlen zwängten sich unter den Türen hindurch, die jedoch nicht viel bewirkten.
„Okay, gehen wir weiter", sagte er und betrat die Treppe, die weiter nach oben führte. Sie lag neben dem leeren Zimmer und führte u-förmig nach oben, sodass sie genau über dem Treppenaufsatz im ersten Stock auskamen.
Die Zimmer in diesem Flur waren identisch angeordnet wie im ersten Stock. Hinter der Tür, die unten zum Plumpsklo führte, lag eine kleine, aber leere Abstellkammer und über dem Bad und dem leeren Zimmer befanden sich ebenfalls leere, verstaubte Zimmer. Jayda seufzte.
„Ich befürchte, wir müssen uns weiter mit den Sofas zufrieden geben", sagte sie, woraufhin Hunter nickte.
„Könnte sein, aber ein Stockwerk haben wir ja noch", erwiderte er, allerdings klang seine Stimme wenig hoffnungsvoll. Eigentlich war es ja eher ungewöhnlich, dass man beim Auszug seine Möbel nicht mitnahm, sodass das Wohnzimmer unten sicher eine Ausnahme war.
Sie stiegen auch die letzte Treppe nach oben und fanden wieder drei Räume. Eine kleine, leere Abstellkammer, daneben einen leeren Raum. Hunter spürte schon, dass auch der letzte Raum leer sein würde, doch als er die Klinke herunter drückte und einen Blick hineinwarf, zuckte er vor Überraschung zusammen. Jayda neben ihm zog scharf die Luft ein und drängte sich an ihm vorbei in den Raum hinein.
Es war eine zwar verstaubte, aber ziemlich gut gefüllte Bibliothek. An den Wänden waren bis zur mittig einsetzenden Dachschräge überall Regale mit Büchern darin aufgestellt, zwei weitere Reihen Regale befanden sich in der Mitte des Raumes, sodass sie kleine Gänge bildeten. Vor den zwei Regalen in der Mitte stand ein runder Holztisch mit zwei mit grünem Polster überzogenen Stühlen daran.
„Wahnsinn, das habe ich echt nicht erwartet", stieß Hunter aus und ging zu einem der Regale in der Mitte. Sie ragten bis in den Dachstuhl hinauf und er erkannte eine Leiter, die oben am Regal auf einer Schiene verlief, sodass man sie am Regal entlang schieben konnte.
Sein Blick schweifte über die Buchrücken und er erkannte, dass es jede Menge Fachbücher waren. Sie sahen zum Teil sehr alt aus, mit braunem Einband, der wirkte, als würde er unter seinen Fingern zu Staub zerfallen, wenn er ihn berührte.
„Geistererscheinungen im zwanzigsten Jahrhundert. Dämonologie Band 2", las er vor und augenblicklich stellten sich seine Nackenhaare auf. Anscheinend hatte hier mal jemand gelebt, der sich sehr für Geister, Paranormales und Spukerscheinungen interessierte. Aber warum hatte er all seine Bücher zurückgelassen?
„Ganz schön unheimlich, was?", fragte er Jayda, die ebenfalls durch die Regalreihen schlenderte.
„Ja, schon", erwiderte sie und tauchte genau in diesem Moment neben ihm auf.
„Lass uns wieder runter gehen, ich habe schon ganz viel Staub in der Nase", sagte sie. Hunter nickte zustimmend, denn auch wenn diese Bibliothek sicherlich beeindruckend und unerwartet hinter der letzten verschlossenen Tür war, wollte er sich nicht wirklich mit den Büchern beschäftigen. Er glaubte nicht wirklich an Geister, auch wenn er sich zugegebenermaßen bei ihrer Ankunft in dem Haus gegruselt hatte.
„In den Keller gehen wir aber nicht, oder? Weil... ich habe Angst vor Kellern", sagte Jayda auf einmal, als sie gerade wieder unten im Flur ankamen. Hunter grinste, denn diese Angst vor Kellern konnte er nur zu gut nachvollziehen. Sie waren meist dunkel, feucht und mit gruseligen Schatten werfendem Sperrmüll vollgestellt.
„Nein, den können wir auslassen, denke ich", sagte er und hörte, wie Jayda erleichtert aufatmete.
Sie gingen wieder ins Wohnzimmer, wo Hunter sich auf seinem Sofa niederließ. Allerdings lag noch sein ganzes Zeug herum, das er heute Morgen achtlos aus dem Rucksack geschüttelt hatte. Missmutig machte er sich daran, es aufzusammeln.
„Ich gehe kurz an die frische Luft", sagte Jayda auf einmal, was ihn überrascht aufsehen ließ.
„Gib mir zwei Minuten, dann komme ich mit dir", erwiderte er, denn sicherlich würde ihm ein wenig Sonnenlicht ganz gut tun.
„Nein! Ich meine... ich brauche ein paar Minuten für mich", rief sie panisch aus, was Hunter erschrocken zusammenfahren ließ.
„Okay, dann... warte ich hier", murmelte er, grinste aber gleichzeitig. Jayda war noch immer schwer einzuschätzen, denn sie war sehr verschlossen. Er sah, wie sie eilig aufstand und ohne ein weiteres Wort das Wohnzimmer verließ.
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