Prolog I - Der geheimnisvolle Gefangene

Silent Hill, Alchemilla Krankenhaus
1972

Still ruhte der gefesselte Mann mit dem Kopf nach unten auf dem unbequemen Stuhl. Nichts um ihn herum bekam er mit. Das war vielleicht besser so, denn der Raum war ein fensterloses Drecksloch - erschreckend dunkel und in tristen grauen Wänden gehalten. Dank der fragwürdigen Medizin, die er Tag für Tag erhielt, nahm er aber selbst in wachen Phasen nicht viel wahr. Doch im Moment döste er vor sich hin, schlief einer ungewissen Zukunft entgegen.

So merkte er auch nicht, als sich quietschend der eiserne Türgriff nach unten bewegte. Im nächsten Moment ging die Metalltür leicht knarrend auf und zwei Gestalten betraten das unwirtliche Zimmer. Ein Mann und eine Frau mittleren Alters, jeder mit einer Taschenlampe in der Hand. Sie stellten sich vor den am Stuhl gefesselten Mann hin und betrachteten ihn.
Der Mann runzelte die Stirn und fragte: "Was macht der hier, Dahlia? Ist dieser Typ das Besondere, das du mir zeigen wolltest?"
Die Frau schmunzelte leicht: "Yes, Michael", antwortete sie gedehnt und mit einer sonoren Stimme. "Er wird uns helfen, die andere Hälfte von Alessa wiederzubekommen", ergänzte sie mit Überzeugung.

Der Mann, der einen weißen Arztkittel trug, blieb skeptisch. "Inwiefern soll der dabei helfen?", wunderte er sich.
Die Frau ließ sich nicht einschüchtern. "Sein Blut, Michael, sein Blut", meinte sie mit einem fast magischen Tonfall. "Er stammt aus einer altgedienten Indianersippe. Sein Indianerblut ist von besonderem Wert." Sie ließ die Worte wirken und fügte dann fast euphorisch hinzu: "Damit wird der Zauberspruch gelingen. Alessas zweite Seelenhälfte wird etwas fühlen und hierher zurückkommen."

Michael besah den Mann mürrisch, der unverändert mit Kinn auf der Brust vor sich hin schlief. Dessen kurze, blonde Haare und die Hornbrille mit einem rötlich-gelblichem Muster ließen eher auf einen gebildeten Mann schließen. Einen Indianer stellte er sich grundsätzlich anders vor.
Er brummte. Dahlia wird ihn schon nicht ohne Grund hier gefangen halten. "Mag sein", sagte er schnippisch. Etwas verärgert, drehte er sich dann der Frau zu und meinte: "Aber jetzt hör mir mal zu, Dahlia: Ich habe dir nicht die Ersatzschlüssel vom Krankenhaus gegeben, damit du hinter meinem Rücken hier ständig irgendwelche Leute unterbringst." Er zeigte mit seiner Hand hinter sich. "Reicht es nicht schon, dass wir Alessa hier verstecken?!"

Dahlia drehte sich ihm ebenfalls zu und grinste schelmisch. "Aber mein Lieber", säuselte sie gedehnt und funkelte ihn versöhnlich an, "bisher ist uns noch niemand wegen Alessa auf die Schliche gekommen. Und was ihn angeht", sprach sie weiter und zeigte auf den Gefangenen, "wenn selbst du bis jetzt noch nichts von ihm wusstest, scheine ich ihn doch gut versteckt zu halten... nicht?!"
"Hhm", brummte ihr Begleiter nur und wandte sich wieder dem Gefangenen zu. "Wie lange hast du ihn denn eigentlich schon", interessierte ihn plötzlich. 
Die Frau legte für einen Moment ihren Kopf schief und erwiderte dann säuselnd: "Ach - sagen wir einfach, es ist schon eine kleine Weile..." Sie wartete auf eine Reaktion darauf, doch der Mann neben ihr fragte nicht weiter nach.

Sie grinste in sich hinein und dachte sich ihren Teil. Michael Kaufmann stand dem Orden zwar sehr nahe, aber er musste nicht alles wissen. Und was ihren Gefangenen anging, hatte überhaupt niemand etwas zu wissen. Dass er ihr z.B. schon viel öfter zum Nutzen war. Dass er bereits längst etwas Großes für Gott vollbracht hatte...
Dahlia betrachte den Gefesselten und schaute verstohlen nach rechts. Ihr Begleiter hatte keine Ahnung, wie nah er einem großen Geheimnis war. Nur sie kannte die Verbindung zwischen diesem Mann und Alessa. Und deswegen wusste sie auch, das ihr Plan funktionieren wird. O ja - die andere Hälfte von Alessa wird zurückkommen. Auf SEIN Blut wird sie garantiert reagieren...

"Dann sollten wir demnächst die anderen Teile für den magischen Spruch zusammenbringen", sagte Michael in diesem Moment.
Dahlia nickte. "Ja - so werden wir es tun", erwiderte sie in einem beschwörenden Tonfall. "Und mit dem heiligen Blut dieses Mannes wird es gelingen."
Ihr Begleiter nickte ihr zu, als billigte er alles, was sie besprochen hatten. Dann machten sich beide daran, den Raum zu verlassen.

Nachdem sie mit dem Fahrstuhl wieder in der ersten Etage waren, eilte Dahlia sofort ohne weiteren Wortwechsel davon.
Michael Kaufmann sah ihr stirnrunzelnd nach. Täuschte er sich oder verheimlichte Dahlia irgendetwas? Er kam nicht dazu, dem Gedanken nachzugehen. Plötzlich ging hinter ihm die Fahrstuhltür auf und eine junge Krankenschwester stürzte aufgeregt auf den Gang und direkt auf ihn zu.
"Dr. Kaufmann, bitte", sprach sie ihn weinend an und zerrte an seinem Kittel.

Erschrocken wandte der Arzt sich um. "Lisa", rief er überrascht aus, "was zum Teufel machen Sie hier oben???"
"Bitte, bitte", schluchzte die blonde Krankenschwester, "ich kann das nicht mehr." Sie zerrte immer noch an seinem Kittel.
Michael Kaufmann schlug ihre Hand weg. "Sind Sie verrückt?", empörte er sich. "Sie sollen die Patientin doch um keinen Preis allein lassen!"

Lisa verkrampfte ihre Hände und weinte weiter. "Aber ich kann das einfach nicht mehr", schüttete sie ihr Herz aus, "dieser halbtote Zustand und dann all die Fliegen und Maden im Zimmer..." Sie schluchzte und hielt sich eine Hand vors Gesicht. "Bitte, Dr. Kaufmann, entbinden Sie mich von dieser Aufgabe", flehte sie.
Michael Kaufmann packte die Krankenschwester am Arm und zerrte sie an eine etwas ruhigere Ecke des Flurs. Dort zischte er flüsternd: "Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich kann nicht andauernd die Krankenschwester des Mädchens wechseln. Glauben Sie, eine ihrer Kolleginnen wäre der Aufgabe besser gewachsen? Sie wissen schon zu viel, Lisa. Beißen Sie die Zähne zusammen und stehen das durch!"

Die Krankenschwester Lisa beruhigte sich etwas. Doch nur scheinbar, denn gleich darauf schüttelte sie energisch den Kopf und es platzte aus ihr heraus: "Aber wie ist das überhaupt möglich? Warum stirbt dieses Kind nicht? Warum???"
Dr. Kaufmann musterte sie eindringlich. "Weil es ein Geschöpf Gottes ist", sagte er ernst und mit voller Überzeugung. Die blonde Krankenschwester schluckte und schüttelte nur den Kopf. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

Michael Kaufmann griff plötzlich in seine Tasche und drückte ihr verstohlen ein kleines Päckchen in die Hand. "Nimm dies", meinte er gönnerhaft, "das macht das Ganze erträglicher."
Lisa wusste sofort, was es war. Sie wusste auch, dass der Arzt nicht mehr für sie tun würde. Und er konnte so unausstehlich werden, wenn er nicht bekam, was er wollte...
Sie seufzte, wischte sich die Tränen aus den Augen und rückte ihre leicht verrutschte Haube wieder zurecht. "Also gut", meinte sie niedergeschlagen, "dann werde ich wieder nach unten gehen." Sie wandte sich missmutig vom Arzt ab und ging geknickt und mit gesenktem Haupt wieder zum Fahrstuhl. Sie graute sich vor dem Anblick des total verbrannten Mädchens und all der Insekten im Raum, doch das Päckchen würde es tatsächlich etwas besser machen.

Dr. Kaufmann sah ihr noch einen Moment nach und schnaufte einmal durch. Langsam wurden ihm hier einige Beteiligte zu nervös. Es wurde Zeit, dass sie mit der Wiederherstellung von Alessa vorankamen. Dieser Gedanke brachte ihn wieder zu Dahlia's Gefangenen. Er eilte zur nächstbesten Schwester und ordnete an, ihm alle Utensilien für eine Blutentnahme bereitzulegen...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top