8. Neue Wahrheiten

Tobias räusperte sich und schnaufte einmal durch. "Es war ein paar Tage, bevor der Professor verschwand", begann er dann mit möglichst selbstsicherer Stimme. "Da waren Anne und ich im Historischen Institut, um ihn zu treffen."
"Mm-hmm", brummte O'Connors und kritzelte etwas in seinen Notizblock, den er ganz plötzlich aus seinem Jackett gezogen und vor sich aufgeschlagen hatte.
"Ja - es war nämlich so", erzählte Tobias mit Unschuldsmiene weiter, "dass der Professor zuvor eine Rundmail verschickt hatte und zu einer speziellen Sprechstunde einlud, in der er sich und sein Seminar vorstellen wollte." Während er dies sagte, hatte Tobias zu tun, den Blickkontakt mit Anne zu vermeiden. O'Connors durfte nicht das Gefühl haben, dass er sich hier eine Geschichte für sie beide ausdachte. Er hoffte nur, dass Anne von sich aus schnell schaltete und im richtigen Moment mit dem Kopf nickte oder etwas beipflichtete, falls der Agent nachfragte.

O'Connors blickte von seinem Notizblock auf und fragte: "Und diese Einladung... die ging über die Uni-Mail raus?" Er schaute zu Tobias und auch zu Anne. Beide nickten fast gleichzeitig, wie abgesprochen. Was das schnelle Schalten bei unangenehmen FBI-Verhören anbetraf, brauchte Tobias sich keine Sorgen über seine Freundin machen. Die war schließlich nicht von gestern.
"Wir fanden das natürlich super und hatten in der Woche auch Zeit", erklärte Tobias weiter. "Also gingen wir dahin."
O'Connors kritzelte fleißig etwas auf seinem Notizblock.
"Nun war es so", fuhr Tobias fort, "dass gar nicht so viele Teilnehmer von dem Seminar gekommen waren, was wir aber eigentlich ganz gut fanden. So hatten wir ihn mehr für uns."

"Mm-hmm", gab der FBI-Agent erneut von sich, schrieb etwas auf seinem Notizblock und sah dann auf. "Wieviel andere Studenten waren denn noch da?" Sein Blick wanderte von Tobias zu Anne und wieder zurück.
"Drei andere noch", sagte Anne plötzlich und versuchte, möglichst selbstsicher zu gucken.
"Genau", sagte Tobias sogleich und nickte leicht mit gelassener Miene. Innerlich schmunzelte er sich eins. Anne war jetzt soweit, dass sie seine Aussage im entscheidenden Moment bestätigen konnte.
"Und wissen Sie vielleicht zufällig noch die Namen dieser Studenten?", fragte O'Connors sie beide mit hochgezogener Augenbraue.
Tobias zog den Mund schief und zuckte mit einer Schulter. "Leider nein", sagte er in einem bedauerlichen Tonfall.

O'Connors schnaufte und meinte dazu: "Ah ja - wirklich schade. Das wäre natürlich wichtig gewesen, um Ihre Aussage mit denen abzugleichen."
Jetzt zog Anne den Mund schief und meinte: "Tja - was sollen wir machen? Vom Sehen her kannte ich die, aber wie die heißen...". Sie zuckte mit den Achseln.
Das Gesicht des Agenten verfinsterte sich leicht. Er presste seine Lippen zusammen und kritzelte etwas in sein Notizbuch.

"Jedenfalls...", setzte Tobias an, denn er wollte seine angefangene Story weitererzählen, "waren die Anderen aber recht bald gegangen - weil ja auch nicht viel los war - und so konnten wir den Professor noch in ein Gespräch mit uns verwickeln."
"Schau an...", meinte O'Connors missmutig. Allmählich glaubte er, diese Beiden wollten ihn für dumm verkaufen.
"Ja - er war total nett", fuhr Anne nun fort, "und er wollte sich auch auf Deutsch mit uns unterhalten. Um es zu üben. Das fand ich super."

"Und dann erzählte er ihnen von Silent Hill, oder wie?", fragte der FBI-Mann ungläubig.
Tobias nickte selbstsicher. "Ja. Wir hatten ihn gefragt, mit welche Art von Sekten wir im Seminar rechnen können und mit welcher er sich zuletzt befasst hatte." Tobias schluckte und machte eine kurze Pause. "Und da erwähnte er dann diesen Ort...", fügte er dann mit düsterem Tonfall hinzu.
O'Connors schaute ihn argwöhnisch an.
Tobias schaute ihn mulmig an und fuhr mit Angst in der Stimme fort: "Ja und dann geschah etwas Seltsames..."
Der FBI-Agent musterte ihn interessiert. Dem jungen Mann schien es zu frösteln.

"Sobald er das nämlich erwähnte", fuhr Tobias fort, "wurde er plötzlich nervös und wirkte verunsichert. Für einen Moment schaute er sogar aus dem Fenster."
"Ah ja", meinte O'Connors nur, schlug den nächsten Zettel seines Notizblockes auf und kritzelte etwas auf die neue Seite. Als er Anne anschaute, nickte die sogleich langsam dazu.
"Er ging dann kurz in sich", berichtete Tobias weiter, "und dann vertraute er sich uns an: dass er sich mit Silent Hill nicht hätte beschäftigen sollen, weil es gefährlich ist. Dass jemand hinter ihm her ist, der wohl vom Orden ist..." Tobias räusperte sich. "All so ein krudes Zeug gab er von sich."

Er schüttelte sich einmal, als war ihm das immer noch unheimlich. Dann schaute er zu Anne mit einem weißt-du-noch-Blick, die ebenso unwohl dreinschaute und ihm wissend zunickte.
O'Connors dachte sich seinen Teil. Wenn das alles so gewesen sein sollte, warum zum Teufel hatten diese Beiden so etwas dann nicht damals erwähnt???
Tobias schaute ihn wieder an, zuckte mit der Achsel und sagte: "Na ja - uns war das etwas spooky und da sind wir dann gegangen. Aber als wir erfuhren, dass der Professor spurlos verschwunden ist... Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie unheimlich das für uns war?" Er schüttelte sich erneut und schnaufte angestrengt.
Auch Anne schaute missmutig drein.

Der FBI-Agent ließ sich davon nicht erweichen. "Und was hat es jetzt mit der Entführung auf sich?", wollte er nun wissen.
Tobias räusperte sich. "Na ja", sagte er dann, "das hat schon damit zu tun, was in uns vorging. Dass der Prof plötzlich verschwunden war - das konnte doch kein Zufall sein! Anne und ich wurden das mulmige Gefühl nicht los, dass er wohl doch Recht hatte mit seiner Paranoia. Wir wussten dann auch gar nicht, was wir machen sollten oder ob wir das jemandem sagen sollten." Tobias schnaufte und ergänzte: "Schließlich wollten wir nicht als Panikmacher oder Schwarzseher dastehen."
"Hhm", brummte O'Connors verärgert, "mit dem, was sie jetzt wissen, dürfte ihnen ja klar sein, dass das ein taktischer Fehler war! Das FBI wäre damals schon auf das entsprechende Umfeld von Hayden gekommen. Vielleicht hätten wir den Professor sogar aufgespürt!"

Anne zog skeptisch eine Braue hoch. 'Ach - können Drohnen jetzt etwa auch schon Welten wie die Otherworld durchsuchen?', dachte sie sarkastisch. Dorthin hätte das FBI nämlich gelangen müssen, was doch zu bezweifeln war...
Tobias schaute verärgert und wusste nicht, was er auf diese dreiste Aussage antworten sollte. Der Typ wollte Anne und ihm doch nicht etwa noch das Verschwinden des Professors unterschieben?!
Anne, die Tobi's grummelndes Schweigen kannte, sah sich gezwungen, nun fortzufahren. "Nun ja - wir hatten halt Angst, verstehen Sie?", sagte sie mit leicht zitternder Stimme. "Was ist, wenn es diese Leute wirklich gibt und die mitkriegen, dass wir was gesagt haben. Oder mit dem Prof gesprochen haben. Was dann?!"
O'Connors zog eine Augenbraue hoch, doch sein Mitgefühl hielt sich in Grenzen.

"Außerdem", fuhr Anne fort, "hatten wir ja überlegt, zur Polizei zu gehen. Aber bevor wir das tun wollten, brauchten wir einen Anhaltspunkt, um ganz sicher zu gehen, dass da was nicht stimmt."
Der FBI-Agent schrieb gerade etwas in seinen Block. Bei Anne's Worten hielt er inne und schaute sie interessiert an. "Sicher gehen?", hakte er unverständlich nach.
Tobias schluckte und schaute nervös zu Anne. Die wollte anscheinend eine gewisse Sache beichten...
"Na ja...", druckste Anne herum, "das war damals meine Idee. Zu schauen, ob wir selbst etwas herausfinden können, meine ich..."
O'Connors streckte sich und schaute Anne tadelnd an. Ein solches Verhalten hatte bisher noch nie zur Aufklärung eines Falles beigetragen. Ihm schwante nichts Gutes...
"Ich ging also nochmal zum Historischen Institut", berichtete Anne weiter und wechselte einen nervösen Blick mit Tobias. "Die Hilfskraft musste ja die Unterlagen des Professors haben, dachte ich. Na ja - und so kam es dann zu der Sache... mit der Tasche..."

Der Agent beugte sich vor. "Sie meinen die Aktentasche des Professors, oder?!", fragte er grimmig und zeigte auf die noch immer auf dem Tisch liegende schmale Tasche mit grünem Samtbezug.
Anne nickte langsam und versuchte, möglichst viel Reue in ihrem Blick hineinzulegen. "Ja...", meinte sie leise und seufzte. "Was das angeht, hatten Sie richtig vermutet." Sie atmete einmal durch, knetete ihre Hände und ergänzte seufzend: "Ich hab die Tasche an mich genommen. Ich hab die Hilfskraft damals abgelenkt und schnappte mir diese Aktentasche."
O'Connors wurde rot, als er Anne's Worte begriff. Urplötzlich haute er mit der flachen Hand auf den Tisch. "Verdammter Mist, das kann doch wohl nicht wahr sein!", brüllte er laut.
Durch das Knallen und die lauten Worte zuckten Tobias und Anne auf ihren Stühlen zusammen. Hinter dem Plexiglasfenster schauten die Polizeikommissare besorgt in den Raum und überlegten, ob sie nicht besser hineingehen sollten.

Agent O'Connors schüttelte seine Hand, bewegte seinen Kopf und schien sich darauf zu konzentrieren, wieder ruhiger zu werden. "Verdammt, Miss Mollner", sagte er im nächsten Moment etwas leiser mit zusammengebissenen Zähnen, "das war das Dümmste, was Sie machen konnten - ist ihnen das klar!"
Anne nickte schnell und reuig. Sie schluckte nervös und hatte eine Träne in den Augen. "Das... das weiß ich selbst", wagte sie es mit zittriger Stimme zu sagen. "Es war ein Fehler - ja. Danach  wurden wir nämlich entführt - vermutlich wegen der Tasche." Sie wischte sich Tränen aus den Augen und schaute nach unten.
Tobias räusperte sich. "Hören Sie, lassen Sie Anne bitte damit in Ruhe", gab er höflich aber bestimmt von sich. "Das Ganze wühlt sie immer noch zu sehr auf."

Der Agent schaute ihn nur einmal kurz an. "Das tut mir herzlich leid", sagte er ohne rechtes Mitgefühl, "aber diese Sache ist ein wichtiges Detail, dem ich nachgehen muss. Also, Miss Mollner, was war in der Aktentasche? Sie haben doch sicher hineingeschaut, oder?"
Anne schluckte und nickte. Sie sammelte sich kurz, nahm den Augenkontakt mit dem Agenten wieder auf und antwortete: "Da war... ein Buch drin. Ja - ein Tagebuch des Professors. Ich hab hineingesehen und fand Details über Silent Hill."
"Ah ja", meinte O'Connors und kritzelte etwas in seinen Notizblock.
Anne sah kurz zu Tobias, der ihr zunickte. "Außerdem...", begann sie nachzusetzen, "außerdem war da noch so eine Art Talisman drin. Aus silbernem Metall... so wie dieser Dolch."

O'Connors schaute interessiert auf. "Achso?!", fragte er ungläubig. "Wie genau hat der ausgesehen?"
Anne atmete einmal tief ein und aus. Dann erwiderte sie: "Ziemlich klein und rund. Und er hatte ein Symbol..." Sie schluckte und erschauerte halb. Das musste sie nicht vortäuschen, denn der Talisman des Professors war ja ein sehr reales Artefakt gewesen, das sie kennengelernt hatten. Leider mit ziemlich unangenehmen Nebeneffekten...
"Was für ein Symbol?", hakte O'Connors sofort nach.
Anne schürzte ihre Lippen, bevor sie weitersprach. "Es war ein rundes Zeichen mit allerlei Symbolen... In der Mitte waren drei kleine Kreise..." Anne schluckte und dachte an den Moment, als sie das Ding in der Hand gehabt hatte. 'Nicht dran denken!', mahnte sie sich.

Der FBI-Agent schaute zum ersten Mal nicht misstrauisch drein. "Was sagen Sie da?", gab er von sich. Er hielt inne und holte erneut den kleinen Hefter aus seiner Aktentasche. "War es vielleicht dieses Symbol?", fragte er Anne, zog dabei ein Blatt Papier hervor und legte es auf den Tisch.

Als Tobias und Anne das Zeichen sah, fröstelte es ihnen beiden unangenehm. "Ja...", meinte Anne schmallippig, "genau das ist es...". Tobias hustete nervös.
"Hhm", meinte O'Connors nachdenklich und packte das Blatt Papier wieder weg. "Seltsam, dass wir diese Gegenstände damals nicht in der Tasche gefunden hatten", gab er dann von sich.
Tobias stöhnte genervt auf. "Die werden die Entführer genommen haben, was denn sonst", begehrte er auf.
"Ah - ja klar, die Entführer...", meinte O'Connors mit ironischem Tonfall dazu. "Die tauchten dann bei ihnen auf, oder wie?!"
Anne nickte. "Ja - wegen der Tasche." Als der FBI-Agent fragend eine Braue hob, seufzte sie und ergänzte: "Ich sagte ja - es war ein Fehler, sie an uns zu nehmen. Dadurch mussten diese Leute auf uns aufmerksam gewesen sein." Sie schnaufte einmal durch und fügte hinzu: "Und haben uns dann entführt."

Der FBI-Agent guckte wieder skeptisch und kritzelte etwas in den Block. "Und wie soll das Ganze abgelaufen sein? Immerhin waren Sie beide urplötzlich verschwunden."
Anne schluckte und schaute nervös. "Was weiß ich, wie die das gemacht haben", meinte sie mit unruhiger Stimme, "aber ich wurde plötzlich in meinem Zimmer ohnmächtig und wachte irgendwann später woanders auf." Sie konzentrierte sich bei diesen Worten auf den misstrauischen Blick von O'Connors und versuchte nicht an das zu denken, was wirklich geschah...
"Mm-hmm", brummte O'Connors, wandte seinen Blick betont langsam seinem Notizblock zu und kritzelte etwas hinein. "Und wie war das bei Ihnen, Mr. Simmrow?"
"So ähnlich", antwortete Tobias tonlos ohne zu zögern, "ich hatte irgendwas gehört und verlor meine Sinne. Als ich aufwachte, war ich dann in einer völlig fremden Umgebung." Diese Beschreibung kam der Wahrheit sogar ziemlich nahe, wenn man es wortwörtlich betrachtete...

Der FBI-Agent musterte ihn mit seinen blauen Augen und nickte ein wenig. "Und wo genau hat man Sie hingebracht?", wollte er dann von Anne und Tobias wissen.
"Kann man nicht so richtig sagen", meinte Anne. "Alles was wir sahen, war so ein ziemlich merkwürdiger Raum..."
"Und da war diese Frau", hakte Tobias sogleich ein und schaute O'Connors mulmig an. "Sie stellte sich uns vor und wollte wissen, was wir mit dem Professor zu schaffen hatten."
Anne schluckte nervös. Harmloser hätte man Dahlia Gillespie nicht beschreiben können...
"Sie meinen also die Frau auf dem Bild war bei den Entführern damals?", hakte O'Connors nach. "Und sie hat ihnen gesagt, dass sie Dahlia Gillespie sei?"
Anne und Tobias nickten langsam und bedächtig.
"Interessant...", erwiderte der FBI-Mann daraufhin und kritzelte eine weitere Notiz in seinen Block.

"Tja - und als sie merkte, dass wir nicht wirklich was vom Prof wussten", fuhr Tobias zögernd fort, "ließen ihre Leute uns frei."
O'Connors blickte interessiert auf. "Einfach so, oder wie?!", fragte er ungläubig nach.
Tobias räusperte sich und antwortete: "Na ja - das war dann schon so, wie wir es damals der Polizei sagten. Sie betäubten uns, wir wurden ohnmächtig und wachten erst in einem fahrenden Lieferwagen auf."
"Genau", setzte Anne sogleich ein, "und dann wurden wir nahe der A 20 bei Brandshagen ausgesetzt. Sie hatten uns die Handys abgenommen und daher blieb uns nichts Anderes übrig, als uns zu Fuß irgendwie nach Greifswald durchzuschlagen."
Der FBI-Agent nickte scheinbar zustimmend dazu. Diesen Teil der Aussage kannte er bereits aus den Polizeiprotokollen vom Oktober 2018. Diese zu-Fuß-Geschichte blieb für ihn allerdings immer noch äußerst fragwürdig...

"Außerdem hatte uns diese Dahlia gedroht, ja kein Wort über das Ganze zu verlieren", fügte Tobias noch hinzu. "Sonst befänden wir uns ruckzuck wieder in ihrer Gewalt."
"Ah ja", meinte O'Connors, "und deshalb haben Sie sich dann eine ganz eigene Story ausgedacht, richtig?"
Tobias nickte. "Genau", erwiderte er möglichst selbstsicher. "So war's. Was sollten wir machen? Wir hatten halt Angst - so einfach ist das."
O'Connors brummte abschätzig und kritzelte etwas in seinen Block. Eine Zeitlang wurde es nun still in dem Verhörraum. Nur das Kritzeln von O'Connors' Stift war zu hören.
"Hören Sie", meinte Tobias schließlich, "wir haben ihnen jetzt alles gesagt, was wir wissen. Können wir nicht vielleicht gehen?"

Der FBI-Agent sah auf und musterte die Beiden still. Schließlich stellte er noch ein, zwei harmlosere Fragen über ihr Umfeld. Dann sagte er die entscheidenden Worte: "Okay - ich denke, das wäre erst einmal alles."
Er stand auf und wies auf die Tür. "Kommen Sie mit, ich übergeb' ihnen den Jungs da draußen. Und keine Sorge wegen ihrer damaligen Falschaussage: das werde ich mit den Cops klären. Da Sie den Orden nicht kennen, war ihre damalige Angst berechtigt und muss bedacht werden."
Anne und Tobias standen erleichtert auf und schauten O'Connors nach seinen Worten regelrecht freundlich an. Allzugern gingen sie mit ihm zur Tür des Raumes. Nur weg aus diesem Verhörzimmer!

___

Im vorgelagerten Büro kam der höhere Polizeibeamte sofort auf Agent O'Connors zu und tauschte sich mit ihm aus. Dadurch standen Anne und Tobias etwas allein am Tisch beim Plexiglasfenster. Anne drehte Tobias zu sich und wisperte: "Das Blut auf dem Dolch stammt von Alessa. Deshalb diese Erscheinungen, oder?!"
Tobias nickte und flüsterte: "Ja - ganz Recht, das muss es sein. Denk an das Blut im Talisman, das eine ganze Otherworld um uns herum erschaffen hatte." Er schluckte und schaute nervös zu Anne, die ihn schaudernd ansah. "Und das bisschen am Dolch hat ausgereicht, um uns für einen kurzen Moment in diese schreckliche Realität zu ziehen...", fügte Tobias mit verschwörerischem Flüsterton hinzu.
Anne schluckte und blinzelte nervös. Wie gefährlich so wenig Blut von diesem unheimlichen Mädchen sein konnte! Wenigstens hatten sie nun eine plausible Erklärung für das Ganze.

"Aber wie kam das Blut auf den Dolch?", fragte Anne leise.
Tobias zuckte mit den Achseln. "Keine Ahnung", wisperte er. "Das kann wohl nur der Professor beantworten. Oder vielleicht die Person, die den Dolch an sich genommen hatte..." Tobias erschauerte und verlegte sich lieber aufs Schweigen.
Anne wusste genau, wen er meinte. Dahlia! Der Dolch muss damals mit dem Professor zusammen in den Strudel gestürzt sein, den sie zum Schluss gesehen hatten. Und da Dahlia ebenfalls durch ihn entkommen ist, wird sie sich später den Dolch angeeignet haben...
Man konnte nur hoffen, dass es nun wenigstens keine weiteren Erscheinungen geben würde und dass O'Connors bald wieder mit dem Dolch abreiste...

Tobias dachte ähnlich. Dann sahen beide wieder zu dem FBI-Agenten, der mit den Polizisten scheinbar gerade Details zu der Aussage der Befragten austauschte. Der Polizeikommissar Kalkowski schaute mehrfach demonstrativ verärgert zu ihnen hinüber. Offensichtlich mochte auch die deutsche Polizei keine nach Jahren veränderten Aussagen...
Mit einem Mal meinte der leitende Polizeibeamte auf Englisch zu O'Connors: "Hier draußen auf dem Flur wartet übrigens die Frau des Professors auf Sie."
Anne und Tobias horchten auf. Die Ehefrau von Jonathan Hayden war hier in Greifswald???
"Verdammt...", gab O'Connors von sich. Der Polizeibeamte hakte verwundert nach, wie es denn kam, dass die Frau des Vermissten so einfach bei seinen Ermittlungen auftauchte.
"Sie hat Beziehungen", grummelte O'Connors missmutig. "Nach Washington", fügte er unwillig  hinzu.

Anne und Tobias tauschten einen verwunderten Blick, während der FBI-Agent klarstellte, dass er Mrs. Hayden nicht daran hindern konnte, sich einfach an ihn dranzuhängen.
"Okay - alles klar", meinte der Polizeioffizier und schaute O'Connors mitleidig an. "Dann wissen Sie ja, wie Sie mit der Dame umgehen müssen..." Er ließ die Aussage so stehen.
O'Connors seufzte und ging schweren Schrittes auf die Tür zum Flur zu. Als Anne und Tobias die deutschen Polizisten fragend ansahen, nickte der höhere Polizeikommissar nur. "Ja - sie können auch gehen", meinte er nur. "Aber die Sache mit Ihrer Falschaussage wird noch ein Nachspiel haben - das kann ich Ihnen schon mal versprechen!" Die Beiden sahen sich mulmig an, nickten nur kurz und gingen dann O'Connors sogleich hinterher. Nur endlich raus hier!

Draußen auf dem Flur sahen sie den Agenten mit einer älteren Dame stehen. Verblüfft betrachteten Anne und Tobias die zierliche Frau. Die Gattin von Jonathan Hayden! Sie hätten nie gedacht, sie mal zu Gesicht zu bekommen.
Die schlanke Frau war relativ groß und hatte längere, wellige Haare, die sie unverblümt offen trug und die auch nicht gefärbt, sondern einen klaren Grauton hatten, der das einstige Blond überstrahlte. Sie trug eine Brille mit kleinen Gläsern auf ihrer zierlichen Nase und hatte ein blaues Sommerkleid an, mit einem kleinen Jäckchen über der Schulter. Sie wirkte auf den ersten Moment ziemlich gebildet. Während O'Connors mit ihr sprach, schaute sie ihn sehr aufmerksam an und nickte immerzu beiläufig.

"Das sind die Studenten übrigens", sagte der FBI-Mann in diesem Moment und drehte sich mit ausladender Hand zu Anne und Tobias um.
Mrs. Hayden schaute sogleich zu den Beiden und ließ vor Verblüffung den Mund kurz offen stehen. Dann fasste sie sich wieder und kam gleich darauf auf Anne und Tobias zu.
"Das ist Dr. Samantha Hayden", sagte O'Connors zu ihnen. Die beiden Studierenden starrten die Frau nervös an. Was sollten sie ihr nur sagen?!
"Nennen Sie mich bitte einfach nur Mrs. Hayden", sagte die Frau mit gebrochenem Deutsch und brach dadurch das Eis. Ohne zu zögern schüttelte sie Anne und Tobias die Hand.
"Ähh - freut mich...", kam es Tobias über die Lippen. "Ha... hallo...", stammelte Anne unsicher.

"Mr. O'Connors hat mir schon berichtet von Ihnen", sagte Samantha Hayden im nächsten Moment. Sie hatte eine warme, angenehme und etwas rauchige Stimme, wie Anne und Tobias feststellten. "Ich möchte Sie bitten", meinte Mrs. Hayden als Nächstes und schaute ernster, "wenn Sie irgendetwas wissen von meine Mann - please... please... sagen Sie es dem FBI." Ihre Augen glühten nun vor Traurigkeit. "Ich weiß, dass er in eine gefährliche Sache verstrickt war, daher zögern Sie nicht, wenn Sie etwas darüber wissen...." Sie schluckte, schien zu überlegen und ergänzte noch: "Bitte... bitte..."
Anne wurde es flau ums Herz, als sie den glimmenden Blick der Frau sah. 'Sie hat immer noch Hoffnung, ihn zu finden!', erkannte sie schmerzhaft. Ihr kamen die Tränen.

Agent O'Connors bemerkte, wie unwohl sich Anne und Tobias fühlten. Er trat an Samantha Hayden heran und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. "Mrs. Hayden, die Beiden haben eigentlich alles soweit gesagt, was sie wissen", sagte er mit einem möglichst beruhigendem Tonfall. "Sie haben mir wirklich weitergeholfen. Alles Andere wird sich finden."
Samantha Hayden schaute unsicher zu O'Connors und nickte. "Okay - yes", meinte sie zaghaft. "Danke sehr", sagte sie dann zu Anne und Tobias und nickte ihnen einmal zu. Die wussten beim besten Willen nicht, was sie darauf erwidern konnten.
O'Connors blieb noch an der Seite von Mrs. Hayden stehen und stützte sie am Arm. Sie begann zu weinen und wirkte etwas zusammengesackt. Der Agent bedeutete Anne und Tobias mit einem schrägen Kopfnicken, dass sie verschwinden sollen. Geknickt wandten die Beiden sich daraufhin langsam zur Seite und steuerten die Flurtreppe an.

Einige Augenblicke später gingen Anne und Tobias schweigend die Straße entlang. Selbst als sie das Polizeirevier hinter sich gelassen hatten und schon längst ein paar Kreuzungen weiter waren, sagten sie immer noch kein Wort. Händchenhaltend gingen sie geknickt und schwermütig immer nur einfach weiter. Ab und zu seufzte einer von Beiden mal. Keiner wusste, was er zu dem heutigen Tag noch sagen sollte. Zu verschieden waren die Eindrücke gewesen. Erst die pure Lebensangst durch die Otherworld-Erscheinungen, dann das stressige Verhör mit diesem aggressiven O'Connors und jetzt noch die arme Frau von Professor Hayden und diese Kinder, die einem nur leid tun konnten. Das Ganze begleitet von der ständigen Präsenz des Ortes Silent Hill, der wie ein unheimlicher Schatten all diese Dinge miteinander umgab.

Sie wollten damit überhaupt nichts zu tun haben, doch dieses Mitgefühl für die entführten Kinder und Samantha Hayden meldete sich bereits wie ein schlechtes Gewissen aus der Tiefe und machte ihnen diese Entscheidung schwer.
Aufgewühlt und niedergeschlagen gingen Anne und Tobias nach Hause.



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