6. Der FBI-Agent

Angespannt saßen Anne und Tobias auf den schmalen Stühlen des Verhörraums und betrachteten nervös den FBI-Mann, der vor ihnen im Raum auf und ab ging. Er ließ sie mit voller Absicht schmoren, da waren sich die Beiden sicher. Allerdings wagte keiner von ihnen, nochmals ohne Erlaubnis das Wort zu ergreifen.

Agent O'Connors ging ein paar weitere Male hin und her, sah ab und zu scharf zu den beiden Studenten hinüber und schien etwas zu überlegen.
Dann trat er an den Verhörtisch und holte etwas aus der größeren Tasche, die auf dem Tisch stand. Mit einer schwungvollen Bewegung knallte er einen buchähnlichen Gegenstand auf die Tischplatte, genau vor Anne und Tobias. "Wissen Sie, was das ist?", fragte er bissig.
Das junge Paar starrte auf eine kleinere, lederne Aktentasche, die einen samtig grünen Bezug hatte. Sie guckten verblüfft, wussten nicht, was sie sagen sollten.

"Ich sag es ihnen", gab O'Connors betont von sich, "das ist die Aktentasche, die man vor vier Jahren in Ihrer Wohnung gefunden hatte, Miss Mollner. Damals - nach ihrer... Entführung." Bei diesen Worten ruckte er mit dem Kopf zu Anne und sah sie durchdringend an.
Anne zog erschrocken die Luft ein. "A...Ach so... ja...", stammelte sie dann. Tobias wurde unruhig.
O'Connors nickte langsam und schaute Anne unfreundlich an. "Ja, ja - so langsam erinnert man sich, was? Vielleicht wissen Sie auch noch, was Sie gegenüber der Polizei und auch dem FBI ausgesagt haben in Bezug auf diesen Gegenstand!"

Anne zuckte leicht. Der Agent schnaufte und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: "Ich sag's Ihnen: Angeblich gehörte diese Tasche den Entführern, die sich in Ihrem Zimmer umgesehen hatten und sie dann vergaßen." Anne blinzelte nervös. Tobias sah zu ihr rüber und suchte fieberhaft Augenkontakt mit ihr, was Anne aber nicht bemerkte.
"Hhm", gab O'Connors von sich und kratzte sich übertrieben am Kinn. "Was nur macht mich an dieser Aussage stutzig..." Er sah mit seinen blauen Augen wieder Anne scharf an, der es eiskalt den Rücken runterlief. "Erst werden Sie urplötzlich aus Ihrem eigenen Wohnzimmer entführt und dann vergessen diese Entführer, die keiner vor oder im Gebäude jemals gesehen hat, ausgerechnet so einen Gegenstand. Äußerst seltsam - finden Sie nicht?!"

Tobias seufzte nervös, als er die Panik in Annes Blick saß. Gleichzeitig lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Er kannte diese lederne Tasche - natürlich kannte er sie! Das konnte nur Eines bedeuten...
O'Connors schien ruhiger zu werden, beugte sich vor, stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab und beäugte die beiden Studierenden abwechselnd. "Glücklicherweise", führte er weiter aus, "hat das FBI damals diese schmale Tasche von der Greifswalder Polizei einsehen und abfotografieren dürfen. Und jetzt zeige ich ihnen mal was..." Er drehte die Aktentasche um und legte seinen Finger an eine Ecke der Rückseite. "Sehen Sie das hier?", fragte er und zeigte auf zwei eingestickte Buchstaben. "Das sind Initialen. J und H. Klingelt es da bei Ihnen?"

Tobias Vorahnung nahm weitere Gestalt an. Auch Anne trat der Schweiß auf die Stirn.
"Es war ja damals noch jemand in Greifswald verschwunden, erinnern Sie sich? Schließlich hatte das FBI Sie doch dazu ebenfalls vernommen." Er betrachtete Anne und Tobias eingehend und schürzte seine Lippen. "Ich rede von Professor Jonathan Hayden. Dieser Name dürfte Ihnen sicherlich noch etwas sagen..."
Anne und Tobias durchzuckte es heiß und kalt. Es ging also tatsächlich um Professor Hayden!
O'Connors beobachtete sie genau und bemerkte ihre Nervösität. Offensichtlich war er mit seinem Riecher genau auf der richtigen Fährte.

"Die damaligen Kollegen haben einfach nicht gesehen, wo man suchen muss", gab O'Connors großsprecherisch von sich. Er zeigte auf die Initialen. "J und H", wiederholte er, "so wie 'Jonathan Hayden'. Aus aktuellem Anlass bin ich daher zu der Frau des Professors gegangen und habe ihr die Fotos gezeigt. Und wissen Sie was? Mrs. Hayden hat diese Aktentasche eindeutig als die ihres Mannes identifiziert. Sie kannte sogar noch den Inhalt der Tasche."
Tobias wurde steif und blass, er versuchte nicht zu atmen. Anne schluckte und konnte ein Blinzeln nicht unterdrücken.

O'Connors stellte sich wieder aufrecht vor ihnen hin und meinte: "Jetzt frage ich mich natürlich, wie ein Gegenstand des Professors in Ihren Besitz gelangt ist, wenn Sie den Professor doch überhaupt nicht kannten oder getroffen haben - wie sie ja damals ausgesagt haben. Vielleicht können Sie mir das mal erklären, bitte!"
Tobias stöhnte und rollte angespannt mit den Augen, Anne senkte den Blick und faltete ihre Hände.
Der FBI-Agent bekam das ein wenig mit und setzte einen bösen Blick auf. "Also - ich warte..." setzte er nach.

Schließlich räusperte Anne sich und meinte zaghaft: "Die... die Entführer damals... Also, wenn die die Tasche hatten... dann haben die vielleicht auch Hayden entführt." Ihre Stimme klang brüchig, den Blick hatte sie dabei immer noch gesenkt. Tobias schaute mitfühlend zu ihr rüber.
"Interessante Theorie, Miss Mollner", meinte O'Connors dazu, "aber jetzt erklären Sie mal, wie dann ihre Fingerabdrücke auf die Aktentasche kommen." 
Erschrocken schnellte Anne's Kopf hoch. 'Erwischt!', dachte O'Connors siegessicher.
"Herrgott, die Entführer werden ihr die Tasche mal kurz zum Festhalten gegeben haben, um was Anderes zu tun", platzte es aus Tobias raus, der Anne in dieser kniffligen Situation beistehen wollte.

Der Kopf des Agenten ruckte zu Tobias und schaute ihn bitterböse an. Anne guckte erschrocken.
"Sorry", meinte Tobias mit etwas leiserer Stimme, "aber das ist alles Jahre her. Sie können doch nicht erwarten, dass wir jedes Detail noch auf Knopfdruck genau wissen. Vielleicht hatte Anne ja die Tasche in der Hand, doch dafür kann es viele Erklärungen geben, oder?!"
Agent O'Connors bewegte seinen Kopf unschlüssig hin und her. "Hhm", brummte er, "das wäre denkbar - in der Tat. Aber ich sag Ihnen Beiden was: ich glaub' Ihnen kein Wort von Ihrer Entführung!"
Anne schaute schockiert, Tobias blinzelte verunsichert.

O'Connors ließ sie mit diesem Gefühl schmoren und wandte sich absichtlich von ihnen ab, indem er zum Fenster ging. "Ich glaub eher, dass Sie sehr wohl den Professor getroffen hatten", sagte er, während er aus dem Fenster schaute. "Aber vielleicht haben Sie ja irgendetwas erlebt, worüber Sie nicht sprechen wollen", sinnierte er. "Etwas sehr Seltsames, das keiner glauben würde."
Annes Herz klopfte bei diesen Worten. Erschrocken sah sie rüber zu Tobias, der ähnlich erstarrt dreinschaute. Worauf wollte der Agent hinaus?!

O'Connors ließ bewusst noch eine längere Pause entstehen, bevor er seine nächste Frage stellte: "Haben Sie schon einmal von einem Ort namens Silent Hill gehört?" Bei diesen Worten drehte er sich langsam am Fenster um und betrachtete seine vorgeladenen Gäste genau.
Annes Augen wurden riesengroß, Tobias schluckte auffällig. O'Connors dachte sich seinen Teil.
"Kann sein", presste Tobias angespannt hervor und versuchte, den Blickkontakt zum FBI-Mann zu vermeiden. "Ist das ein Ort in den USA?"
Der Agent nickte und ging wieder Richtung Verhörtisch. "Ja", sagte er kurz und knapp, "er liegt in Maine."

Tobias spürte, wie die Temperatur in diesem Raum gerade fiel. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass es Anne ähnlich erging. Dieser Agent war tatsächlich auch wegen Silent Hill hier!
"Wir wissen natürlich, dass sich der Professor bis zuletzt damit beschäftigt hat", sagte O'Connors gerade und blieb vor dem Verhörtisch stehen. "Der Ort ist uns aber auch aus anderen, mysteriösen FBI-Fällen bekannt", ergänzte er und musterte Anne und Tobias. Wie erwartet, schauten die Beiden daraufhin interessiert auf.
O'Connors faltete seine Hände und schaute an die Decke. "Wissen Sie", meinte er, "einige Leute, die an diesem Ort waren oder mit ihm zu tun hatten, berichteten von merkwürdigen Erscheinungen..."
Der Puls von Anne und Tobias schlug gleichermaßen in die Höhe.

O'Connors betrachtete sie nun wieder und führte seine Andeutungen weiter aus: "Sie erzählen von Monstern, die hinter ihnen her sind. Oder auch von einer anderen Welt, in der alles gruselig aussieht..." Der Agent kniff seine Augen zusammen und musterte Anne und Tobias genau. Die rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Beide schwitzten auffällig und vermieden Augenkontakt mit ihm.
O'Connors trat bis an die Kante des Tisches heran. "Es ist natürlich so, dass diese Leute nicht gleich mit diesen Dingen an einen herantreten", gab er in einem etwas ruhigeren Tonfall von sich, wobei er die Beiden fast fürsorglich betrachtete.
Anne und Tobias schluckten und schauten nur betreten zu Boden.

Der FBI-Mann musterte sie noch einen Moment lang. Dann begann er langsam im Kreis zu gehen. "Ich frage mich", sagte er dabei mit verschränkten Armen hinter dem Rücken, "ob Sie zwei nicht vielleicht sogar Ähnliches erlebt haben." Er vermied bewusst Augenkontakt mit ihnen und starrte auf den Boden, während er weiter im Kreis ging. Sie sollten nur hören, was er zu sagen hatte: "Es ist schwer über diese Dinge zu sprechen, kann ich mir vorstellen, aber wir wissen ja von unabhängigen Personen, dass solche Dinge im Zusammenhang mit Silent Hill irgendwie auftauchen können", sinnierte er und machte dabei mit einer Hand eine beiläufige Geste.
Anne und Tobias tauschten einen ungläubigen Blick und wollten ihren Ohren nicht trauen. Wusste das FBI etwa über die Vorfälle in Silent Hill Bescheid?

Agent O'Connors hielt an und wandte sich wieder ihnen direkt zu. "Und da nun bekannt ist, dass Professor Hayden in Silent Hill war und sich damit beschäftigt hat, müssen die damaligen Ermittlungen über ihn mit diesen zusätzlichen Fakten neu bewertet werden." O'Connors schnaubte halb verärgert und fuhr fort: "Die damaligen Kollegen haben es nicht für nötig erachtet, derartigen Dingen nachzugehen, doch sehen Sie, ich gehöre einer Abteilung an, in der man auch die scheinbar unerklärlichen Dinge in die Ermittlung mit einbezieht." 

Anne guckte erstaunt, Tobias horchte aber auf. "Was soll das heißen?", wagte er zu fragen, "sind Sie sowas wie die X-Akten oder wie?!"
Das brachte den Agenten ein Stück weit aus der Fassung. "Aber natürlich - war ja klar", rief er verärgert laut aus, schlug die Hände zusammen und schüttelte seufzend seinen Kopf. "Diese Bemerkung musste jetzt natürlich wieder kommen. Ihr Deutschen seid sowas von klischeehaft!" Er schnaubte und sah Tobias grimmig an. Dann ging er einen Schritt auf ihn zu, schwang seinen Arm weit aus und sagte laut mit sarkastischer Betonung: "Ja selbstverständlich bin ich von den X-Akten, was dachten Sie denn! Und wissen Sie was?" fragte er und zeigte mit Finger zum Fenster,  "da draußen in dem Lieferwagen sitzt Agent Scully und wartet auf meinen Bericht!"
Anne sackte halb zusammen vor Schreck, Tobias guckte möglichst entschuldigend. Er wusste selbst nicht, warum er das von sich gegeben hatte. Doch dieses Verhör strapazierte allmählich seine Nerven.

O'Connors schüttelte sich einmal und richtete sein Jackett. Dann hob er drohend den Zeigefinger. "Zur Sache jetzt", schnauzte er, "Sie beide werden mir jetzt genau sagen, was Sie mit Professor Hayden zu schaffen hatten! Und kommen Sie mir nicht mehr damit, dass Sie ihn nicht kennen! Sie haben sich in den letzten Minuten mehrfach durch ihr Verhalten verraten. Sie kannten die Aktentasche und die Erwähnung von Silent Hill und über die unheimlichen Dinge gingen ihnen auch mehr an die Nieren, als gewöhnlich. Also sagen Sie mir jetzt endlich, was Sie dazu wissen!"
Anne und Tobias erschraken und saßen wie gelähmt auf ihren Stühlen.

Der Agent hustete einmal und fuhr fort: "Und was glauben Sie, warum man sich beim FBI plötzlich für Hayden wieder interessiert, hä? Nur zum Spaß, oder wie?! Ich sag's Ihnen: der Mann ist ein Tatverdächtiger und wenn Sie womöglich die letzten Personen sind, die vor seinem Verschwinden mit ihm gesprochen haben, müssen Sie uns alles darüber mitteilen! Andernfalls machen Sie sich der Verschleierung eines Verbrechens schuldig."
"Wie? Was?", rief Anne und schreckte auf dem Stuhl auf. "Tatverdächtiger?", rief Tobias und starrte O'Connors fassungslos an.

Der FBI-Mann schnaufte einmal durch und setzte sich - plötzlich total ruhig und ganz gemütlich - langsam zu ihnen an den Tisch. "Na also", sagte er in einem friedlichen Tonfall und grinste halb, "wie es aussieht, habe ich endlich Ihre volle Aufmerksamkeit."



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