20. Gefährliche Magie
Während Tobias gerade im oberen Stockwerk telefonierte, befand sich Agent O'Connors nur eine Etage tiefer und untersuchte die Räume des Audimax im Erdgeschoss. Schließlich war er fertig und blickte konzentriert auf die große Treppe. 'Dann müssen sie oben sein', dachte er und ging zügig auf die Treppe zu.
Während er die Stufen hochging, hielt er seine Hand ans Jackett, damit der Dolch ihn nicht beim Gehen pikste. Eine Blutwunde an der Seite konnte er im Moment wirklich nicht gebrauchen...
___
Kaum betrat Tobias den Lernraum, sah er auch schon Laura, die ihn aufgeregt zu sich ran winkte. Zügig, ohne möglichst aufzufallen, ging Tobias an den Tischen vorbei zu ihr hin.
Laura stand bei einer auffallenden Frauenstatue, die genau zentral vor einem langen Regal platziert worden war. "Die alte Dame?", flüsterte Tobias, als er bei Laura war.
"Klar - was denn sonst", flüsterte sie energisch zurück. Sie redeten automatisch leise, denn an allen Tischen in der Mitte des Raumes saßen Studierende und lernten.
"Ich hab auch schon was entdeckt", meinte Laura leise und zeigte leicht diskret auf einen Regalboden direkt bei der Statue. Tobias rückte etwas an sie heran, um an der Statue vorbeizusehen. Dann entdeckte er auch die längliche metallene Box mit einem Schlüsselloch, die etwas von der Statue verdeckt auf dem zweituntersten Regalfach stand.
Laura schmunzelte ihn verschmitzt an. "Die ist wohl keinem richtig aufgefallen, weil sie hier wie ein weiteres Kunstobjekt aussieht, das jemand der Uni gespendet hat", sagte sie verschlagen. "Aber ich kenne diese länglichen Metallkästchen. Die gibt's im Green Lions Antiquitätengeschäft in Silent Hill. Und meist werden darin besondere Gegenstände verstaut..." Sie schaute ihn vielsagend an.
Tobias nickte erkennend. "Ahh - verstehe...", sagte er ebenso vielsagend. "Aber wie kriegen wir das auf?", fragte er dann flüsternd.
"Lass mich nur machen...", meinte Laura und holte aus ihrer Hosentasche eine Minitaschenlampe hervor. "Hier nimm mal und leuchte genau auf das Schlüsselloch."
Tobias nahm ihr die Leuchte ab, runzelte aber die Stirn. Doch dann fasste sich Laura an die Po-Tasche, zog spitzbübisch lächelnd eine Büroklammer dort heraus und begann diese auseinanderzubiegen.
Tobias bekam große Augen. 'Nee - oder?', sagte sein Blick. Doch da stellte sich Laura schon nahe vor das Kästchen, kniete sich hin und befummelte mit der auseinandergebogenen Büroklammer das Schlüsselloch.
Unwohl sah Tobias sich um, aber die anderen Anwesenden nahmen nur halbherzig wahr, das gerade irgendwer am Regal bei der Statue was machte. Brav leuchtete er mit der Minitaschenlampe über Lauras Schulter hinweg auf das Schlüsselloch.
Es dauerte ihm fast eine Ewigkeit zu lang, dann hörte er ein Klicken. Laura blickte mit gewissem Stolz zu ihm hoch. Dann öffnete sie das Kästchen und holte etwas heraus.
Sogleich stellte sich Tobias ganz dicht neben sie, so dass keiner sah, dass Laura etwas in der Hand hielt. Staunend betrachteten sie ihren Fund. Ein metallener Gegenstand, der tatsächlich eine Miniaturausgabe des Leuchtturms darstellte. Er war etwa 50 bis 60 Zentimeter lang. Am oberen Ende - auf der verkleinerten Aussichtsplattform - war das Siegel von Metatron eingraviert. "Wahnsinn...", flüsterte Tobias ehrfürchtig. Nebenbei steckte er sich Lauras kleine Leuchte in die Hosentasche - mehr in Gedanken, als bewusst.
"Komm mit - wir gehen hier um die Ecke und gucken uns ihn in Ruhe an", meinte Laura leise und nickte mit dem Kopf nach links.
Tobias nickte und folgte dann Laura, nachdem er schnell noch den Deckel des Kästchens wieder zuklappte. Gleich darauf ging er am Ende des Regals nach rechts in eine hintere Nische des Raumes. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment betrat Daniel O'Connors den Lernraum und sah sich sofort in alle Richtungen um.
Am Tisch hinter dem Regal bestaunten Laura und Tobias ihren Fund. "Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, wie er funktioniert", sagte Laura und drehte den Turm des Metatron aufgeregt in ihren Händen. Mit forschenden Blicken betrachteten sie den Turm von verschiedenen Winkeln.
"Hab ich Sie also erwischt, Simmrow!", rief da plötzlich jemand hinter ihnen.
Tobias wirbelte herum, Laura tat es ihm etwas langsamer nach.
O'Connors!
"Was haben Sie mit Laura Sunderland zu besprechen, häh?", fragte er argwöhnisch. "Oder mit Samantha Hayden?!" Sein Gesichtsausdruck wurde triumphierend. "Einmischung in eine laufende Ermittlung", sagte er bitter grinsend. "Da nützt Ihnen auch Ihr deutscher Pass nichts."
Tobias musterte den Agenten aufmerksam. "Bullshit...", gab er leise von sich.
O'Connors Blick wurde ernst. Wie aus dem Nichts zog er plötzlich seine Waffe. "Von wegen - Hände hoch! Ich verhafte Sie wegen Behinderung einer laufenden Ermittlung!"
Erschrocken riss Tobias die Arme hoch. Laura erstarrte allerdings und stand nach wie vor mit dem Turm in den Händen da. Das metallene Artefakt fühlte sich seltsamerweise warm an...
Im Raum waren inzwischen alle Anwesenden erschrocken aufgesprungen und betrachteten die Szene. O'Connors zückte mit der anderen Hand seine Marke, hielt sie der Allgemeinheit hin und rief: "Das ist eine Aktion des FBI. Verlassen Sie alle sofort den Raum!" Die laute Ansprache wirkte. Erst langsam, dann immer zügiger strebten die Studierenden Richtung Ausgang und eilten schließlich schnell aus dem Lernraum.
O'Connors widmete sich wieder Tobias zu. "Ich... ich hab doch überhaupt nichts gemacht", wehrte der sich gegen den Vorwurf. "Das klären wir in der Arrestzelle", meinte der FBI-Agent grinsend.
"Toby - schau doch mal", sagte in diesem Moment Laura und trat mit dem Turm in der Hand auf seine Höhe. Das Artefakt leuchtete.
"Heh - was soll das?", ärgerte sich O'Connors. "Was ist das für'n Ding?"
Laura und Tobias konnten nur staunend den Turm betrachten, der plötzlich von innen heraus einen Lichtschimmer abstrahlte. Im nächsten Augenblick entstand am oberen Ende sogar ein Lichtkegel, der sich wie bei einem echten Leuchtturm drehte und durch den Raum leuchtete. Seltsamerweise blieb der Lichtstrahl bei O'Connors stehen und leuchtete auf ihn.
"Heh - machen Sie das aus, Miss Sunderland!", befahl der Agent. Im nächsten Moment ließ er die Marke fallen und griff sich hektisch in sein Jackett. "Autsch - Scheiße ist das heiß!", brüllte er und zog einen leuchtenden Gegenstand hervor, den er schnell von sich warf.
Laura und Tobias erkannten einen Dolch, der glühend leuchtete. Er flog ein Stück durch die Luft und kam schließlich unweit vor ihren Füßen zu liegen. Die Plastiktüte, in der er eingewickelt war, zerschmolz und zerstieb ins Nichts.
Laura riss staunend die Augen auf. "Der Dolch des Bethor!", sagte sie ehrfürchtig.
Auch Tobias erkannte die Klinge sofort wieder. Aber da war noch mehr. Er hörte ein Flüstern. Ein Wispern von tausenden Stimmen, die immer lauter wurden. Wie in Trance nahm er seine Hände runter und ging langsam auf den Dolch zu.
"Heh -Simmrow!", brüllte O'Connors. Er zeigte immer noch mit der Waffe auf ihn, hielt sich aber gequält auch die Brustseite. "HEH!"
Tobias ignorierte ihn und ging weiter auf den Dolch zu. Das Flüstern der Stimmen wurde immer lauter.
"Toby - was ist mit dir?", wunderte sich Laura mit sorgenvoller Stimme.
"Der Dolch ruft mich...", sagte Tobias lediglich mit bedächtiger Miene und beugte sich vor dem leuchtenden Gegenstand stehend nach unten.
"Hey - Finger weg, Simmrow!", brüllte O'Connors. Er hielt seine Waffe verkrampft auf ihn, aber Scheiße verdammt - er konnte doch nicht wirklich jetzt auf ihn schießen! Außerdem verwirrte ihn das alles gerade.
Tobias hob währenddessen den Dolch auf. Er fühlte sich gar nicht heiß an, sondern sogar richtig gut.
Laura ließ den Turm sinken, der nun nicht mehr leuchtete, und trat staunend neben Tobias. Ein helles Licht breitete sich vom Dolch aus und hüllte den jungen Mann ein.
"HEY! FINGER WEG VOM DOLCH!", brüllte O'Connors und war kurz davor einen Warnschuss abzugeben.
"Was ist mit dem Dolch los?", wunderte sich Laura. In diesem Moment sah Tobias, wie der rote Blutfleck an der Spitze flüssig wurde und den Dolch hinunterrann auf seine Hand zu. 'Alessas Blut...', dachte er noch beklommen - da passierte es: die Blutstropfen erreichten seine Hand und sogleich setzte ein starker Sog ein.
"Laura!", rief er vor Schreck. Wie zum Schutz umarmte Laura ihn und wollte ihn von der Stelle wegreißen. Doch da spürte sie ebenfalls den starken Sog. Etwas riss sie und Tobias irgendwie nach unten hin.
"SCHEIßE - was ist da los!!!", hörten sie O'Connors brüllen, als das Licht um sie immer stärker wurde. Und dann hörte Tobias die Sirenen. Immer lauter heulten sie in seine Ohren.
"Toby - was passiert hier???", fragte Laura ungläubig. Zum ersten Mal hörte Tobias einen ängstlichen Tonfall in ihrer Stimme.
"Halt dich gut an mir fest", rief Tobias laut. Er wusste leider zu gut, was das alles bedeutete - doch im Moment war es bittererweise der einzige Weg um dem FBI-Agenten zu entkommen.
Laut hörten Laura und Tobias Sirenen heulen und sahen um sich plötzlich nur noch ein sehr helles Licht, das alles verschlang.
"SIMMROOOOW!", brüllte O'Connors in das immer heller werdende Licht hinein. Er hielt sich die Hand mit der Waffe vor die Augen.
Schließlich verschwand das Licht so unerklärlich schnell, wie es gekommen war. Der FBI-Agent ließ die Hand sinken und glaubte nicht, was er vor sich sah. Nämlich nichts. Die Stelle, an der Simmrow mit Laura Sunderland gestanden hatte, war leer. Auch von den Gegenständen gab es keine Spur mehr. Die ganze Raumecke vor ihm war einfach total verlassen.
"Scheiße, das gibt's doch nicht!", gab er zischend von sich und bewegte sich unruhig hin und her. Diese Art von Phänomen kannte er von Silent Hill - doch wie zum Teufel konnten die Beiden so etwas hier in Boston zustande bringen???
Er stand noch einen Moment mit geballten Fäusten und knirschenden Zähnen da. Dann wandte er sich abrupt um und stapfte verärgert und wütend aus dem Raum. Er wusste nicht wirklich, wohin die Beiden verschwunden waren. Er wusste nur, dass man sie fürs Erste überhaupt nicht finden konnte...
___
Langsam erwachten Tobias und Laura. Sie lagen in völliger Dunkelheit am Boden. Scheinbar hatten sie am Ende des Höllenrittes auch noch ihre Sinne verloren und kamen nun erst wieder zu sich. Sofort fiel ihnen die totale Finsternis auf, in der sie jetzt waren.
Laura richtete sich auf den Knien auf und bemerkte dabei, dass sich der Boden metallisch anfühlte. "Toby - wo sind wir hier", wunderte sie sich nervös.
"Ich... ich hab da so eine Ahnung...", meinte er mit zitternder Stimme. Langsam holte er Lauras kleine Taschenlampe aus seiner Hosentasche hervor und knipste sie an. Am Liebsten hätte er das Licht sofort wieder ausgemacht. Der gesamte Fußboden bestand aus einem engmaschigen, verrosteten Eisengitter, etwas weiter entfernt konnte er im Licht der Taschenlampe verzogene Regale und Tische aus Metall ausmachen.
"Es ist also wirklich passiert...", gab er ungläubig von sich.
"Scheiße - was ist das hier???", rief Laura angespannt aus. "Sind wir in der Hölle oder sowas?"
"So ähnlich...", meinte Tobias und zog seinen Mund schief. Mutlos ließ er die Taschenlampe sinken, atmete laut aus und sagte: "Willkommen in der Otherworld..."
___
Etwa zur gleichen Zeit saßen Anne und Heather auf dem Sofa in Heathers Wohnung und gönnten sich eine zweite Tasse Tee. Sie hatten noch eine Viertelstunde Zeit, bis sie zur U-Bahn mussten. Da es in Ludlow draußen weiterhin nieselte, kam Beiden ein heißer Tee ganz Recht, bevor sie sich wieder hinausbegeben würden.
Anne war immer noch fasziniert davon, dass Heather und ihre Mum schon mal mit dem Orden zu tun hatten. Auf die Frage, was der Orden ihnen denn genau angetan hatte, wollte Heather zunächst nicht antworten. Doch dann erzählte sie Anne von ihrem Zwillingsbruder, der einen Tag nach seiner Jugendweihe überfahren worden war.
"Das Auto wurde nie gefunden", sagte Heather gerade und nahm einen Schluck Tee. "Aber ein Freund meiner Mum fand heraus, dass der Wagen früher in Silent Hill gemeldet war. Da wussten wir Bescheid..."
Mitfühlend sah Anne ihre Gastgeberin von der Seite an. Sie schwieg lieber, ließ Heather reden.
"Der Orden hatte meine Mum erneut aufgespürt, um sie für das büßen zu lassen, was sie der Organisation angetan hatte", erklärte Heather weiter. "Also zogen wir um - nach Greenfield. Jahre vergingen. Ich wurde erwachsen. Doch ich konnte nicht vergessen. Ich wurde sehr rebellisch. Zog mir schräge Sachen rein, wechselte häufig den Freund und so weiter..." Sie warf Anne ein vielsagendes breites Lächeln zu.
Anne schmunzelte und trank einen Schluck aus ihrer Tasse.
"Doch dann traf ich Richard", fuhr Heather mit hellerer Stimme fort. Sie schaute geradeaus, doch selbst von der Seite konnte Anne sehen, wie ihr Blick verträumt wurde.
"Richard Brighton war ein hoffnungsloser Optimist, der einfach jeden auf der Welt zum Lächeln bringen wollte", erzählte Heather und schmunzelte leicht. "Er kam gut mit meinen Launen aus, nahm mir nie was übel und holte mich aus der Schutzmauer hervor, die ich um mein Herz errichtet hatte."
Heather schüttelte leicht den Kopf und schmunzelte. "Selbst meine Mum hat er irgendwann um den Finger gewickelt." Sie seufzte einen Moment. Anne nickte nur freundlich.
"Als ich dann schwanger wurde, bekam ich Panik", berichtete Heather weiter und schaute Anne an. "Ich dachte, jetzt verlässt er mich, aber er hat sich riesig gefreut und nur gemeint: 'Hey Heather, dann muss ich dich jetzt wohl heiraten und mir einen vernünftigen Job suchen.'" Sie lachte auf, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Teetasse zu.
Anne zeigte ebenfalls ein Lächeln.
"Also heirateten wir und bekamen Henry."
Anne nickte. "Richard ist der Vater deiner Kinder", stellte sie halb fragend fest.
Heather zögerte erst, dann nickte sie wortlos und schaute missmutig auf ihren Tee in der Tasse.
Annes Miene wurde wieder mitfühlend. Sie hatte nicht vergessen, dass Heather offiziell eine Witwe war. Richard Brighton musste inzwischen ebenfalls verstorben sein...
"Alles war so perfekt", sagte Heather leise und schüttelte den Kopf. "Aber dann schlug das Schicksal erneut zu." Sie seufzte schwermütig. "Richard war bei der Steuerbehörde angestellt. Aber er nahm Abendseminare, um sich nach oben zu arbeiten. Er wollte mehr verdienen - für uns, für die Kinder."
Anne betrachtete Heather aufmerksam, die erstmal einen neuen Schluck Tee zwischendurch nahm. "Ab und zu machte der Kurs auch Ausflüge und Weiterbildungen an anderen Orten. In einer Stadt gerieten sie in eine Schießerei. Drei Kursteilnehmer starben, darunter auch Richard..." Heather senkte den Kopf und kniff die Augen zusammen.
"Tut mir leid...", sagte Anne leise und schaute wehmütig.
Heather nickte nur - scheinbar zu sich selbst, damit die Trauer sie nicht überwand. Schließlich öffnete sie die Augen wieder, seufzte laut und fuhr fort: "Meine Mum war natürlich sofort alarmiert und vermutete den Orden dahinter. Ich wollte das erst nicht glauben. Doch auch diesmal wurden wieder keine Täter gefunden. Der Fall wurde nie richtig aufgeklärt. Da war ich mir dann nicht mehr so sicher, ob nicht doch mehr dahinter steckte."
Anne schaute erschrocken und nahm einen Schluck Tee.
"Danach schenkte ich alle meine Kraft den Kindern. Ich hatte erstmal genug von den Männern - igelte mich wieder ein." Sie warf Anne einen schwermütigen Blick zu. Die konnte das gut verstehen, hatte sie eine ähnliche Zeit auch schon mal erlebt.
"Dann trat Gabriel in mein Leben", sagte Heather als Nächstes.
"Gabriel?", fragte Anne verwundert und runzelte die Stirn.
Heather schaute sie direkt an. "Mein letzter, richtiger Freund - beziehungsweise Ex-Freund." Sie warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
Anne schaute sie neugierig an.
"Wir lernten uns in der Apotheke kennen", erklärte sie und lächelte leicht. "Er war neu in der Stadt und kaufte mehrmals die Woche bei uns ein - zufälligerweise doch ziemlich oft und das auch immer, wenn ich gerade Schicht hatte."
Anne schmunzelte und nickte wissend.
"Na ja - es hat sehr schnell gefunkt. Anna war gerade erst ein Jahr alt. Gabriel war oft bei uns zu Besuch und zog schließlich bei mir ein." Heather seufzte schwer. "Er holte mich wieder aus meinem Schneckenhaus. Und wie er mit den Kindern umgehen konnte - einfach klasse. "Sie blickte nach oben und schüttelte nachdenklich den Kopf. "Es machte ihm überhaupt nichts aus, dass die Kinder nicht von ihm waren."
Anne nickte und trank ihren letzten Schluck Tee aus.
"Aber es gab immer wieder auch Streit. Meine Mum traute ihm nicht über den Weg. Sagte mir, dass er vielleicht vom Orden sei und uns ausspionieren wollte." Heathers Miene bekam einen verärgerten Gesichtsausdruck. "Es war, als wenn sie mir dieses Glück nicht gönnte. Wir haben damals viel gestritten. Aber auch zwischen mir und Gabriel wurde es immer angespannter. Einmal hielt er mir vor, ich solle mich mal endlich entscheiden, ob ich zu ihm oder meiner Mum stünde."
Anne guckte argwöhnisch. Ein wirklicher Gentleman schien dieser Gabriel anscheinend nicht zu sein.
"Na ja - irgendwann war es ihm dann zu bunt und er verließ uns", fuhr Heather seufzend fort. Sie trank ihren Tee aus, stellte die Tasse ab und sagte dann zu Anne: "Das war vor zwei Jahren. Seitdem sieht es bei mir dann etwas mau aus mit den Männern." Sie zuckte mit den Achseln und hielt ihren Kopf zur Seite.
Dann wurde ihr Blick traurig. "Die Kinder sind alles, was ich noch hab. Und wenn ihnen jetzt auch was zustößt..." Sie barg ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen.
Anne stand sofort auf, setzte sich direkt neben sie und umarmte sie leicht von der Seite. "Das wird nicht passieren", sagte sie warmherzig. "Wir... wir müssen nur jetzt endlich handeln."
Heather nickte langsam.
Anne schaute auf ihr Smartphone und sagte: "Apropos - wir sollten dann mal los."
Heather nahm die Hände wieder runter. Ihre Miene war wieder entschlossener. "Okay - auf gehts", meinte sie. Während sie sich die Schuhe anzogen, dachte sie an das, was Anne ihr erzählt hatte. Dahlia! Der Grund für all das Übel in Silent Hill. Aber wenn es jemanden gab, der wusste, wie man diese Hexe aufhielt, dann war es ihre Mum!
___
Einige Augenblicke später waren die beiden Frauen schon auf der Straße unterwegs. Nach einigen Schritten steuerte Heather zielstrebig eine Seitengasse an. "Komm hier lang - das ist eine Abkürzung", sagte sie zu Anne und winkte sie in ihre Richtung.
Da es Anne egal war, wo sie langgingen, folgte sie Heather bedenkenlos. Der Weg führte sie in eine langgezogene, enge Gasse, die zwei belebte Straßen miteinander verband. Leider war die Gasse selbst, die zwischen zwei verlassenen Wohnblöcken lag, nicht so belebt.
"Es ist etwas unheimlich hier", meinte Heather leise zu Anne, "aber hier sparen wir ein gutes Stück des Weges ein."
Anne sah sich unsicher um. Die dunklen Wohnblöcke, in denen keiner mehr wohnte, wirkten wie stumme Felsblöcke aus Stein, die sie strafend ansahen. Zum Glück war diese Abkürzung nicht so lang.
Doch als sie in der Mitte der Gasse waren, trat plötzlich jemand am gegenüberliegenden Ende des Weges aus dem Schatten des rechten Blockes und blieb zehn Meter vor ihnen entfernt stehen.
Anne erkannte einen hochgewachsenen Mann mit breiten Schultern und kringelnden, schwarzen Locken, die ihm von der Mitte seines Kopfes bis über seine Ohren und seine Stirn hingen.
Heather blieb stehen und erstarrte. "Gabriel???", wunderte sie sich.
"Was?", fragte Anne. "Dein Ex-Freund?!"
Heather nickte sprachlos.
"Hallo Heather", sagte der Mann ruhig und blickte sie teilnahmslos mit seinen haselnussbraunen Augen an. "Tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen."
Die Stimme des Mannes ging Anne unter die Haut. Sie war tief und verströmte eine ungeahnte Festigkeit. Sie konnte gut verstehen, warum Heather auf ihn abgefahren war.
"Was... was willst du?!", fragte Heather ungläubig.
Gabriel senkte kurz den Kopf und schien etwas zu überlegen. Dann sah er sie wieder an und meinte mit Bestimmtheit: "Die Kinder sind in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen."
"Was???", erwiderte Heather atemlos und ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Auch Anne schaute empört.
"Sie sind da, wo sie hingehören", sprach Gabriel ruhig weiter und sah Heather ernst an. "In Silent Hill."
Heather stand der Mund offen.
"Wie können Sie es wagen!"; rief Anne verärgert, gestikulierte wütend mit der Hand und stellte sich mit aufrechten Schultern neben Heather hin.
Die war erschüttert. "Oh mein Gott - meine Mutter hatte die ganze Zeit Recht gehabt", erkannte sie mit Schrecken und hielt sich eine Hand vor den Mund. "Du bist vom Orden!"
Gabriel seufzte und senkte kurz seinen Blick. Dann sah er Heather wieder so ausdruckslos an. "Es ist mir egal, was du jetzt von mir denkst", meinte er selbstsicher. "Ich möchte dir nur einen gutgemeinten Rat geben: Komm nicht nach Silent Hill. Du bist den Kräften dieses Ortes nicht gewachsen."
"Das ist doch wohl...", empörte sich Anne und rüttelte Heather an der Schulter. "Los - lass uns zur Police gehen, Heather. Dieser Typ gehört festgenommen!"
Heather ging aber nicht darauf ein, wurde einfach nur wütend und ging einen weiteren Schritt auf den Mann zu. "Du wirst mich nicht davon abhalten können, Gabriel!", rief sie laut. "Wenn Henry und Anna dort sind, werde ich kommen und sie mir holen!"
Gabriel schüttelte sehr langsam den Kopf. Seine Locken wogen dabei leicht im Takt hin und her. "Du weißt nicht, worauf du dich einlässt, Heather", sagte er warnend. "Deine Mutter hat dir nicht alles über diesen Ort erzählt. Vielleicht wird es Zeit dir zu zeigen, was dich erwartet."
Kaum hatte er das gesagt, holte er geschwind etwas aus seiner dünnen Lederjacke, die er trug. Anne und Heather erkannten einen kleineren Gegenstand, der wie ein Stein aussah.
Gabriel hielt ihn auf einer Handfläche vor sich und machte mit der anderen Hand eine geschmeidige Bewegung darüber. Sogleich leuchtete der Gegenstand auf der Oberfläche rot auf. Es war eine Art Symbol, das dort eingraviert war.
"Tut mir leid, Heather", sagte Gabriel mit echtem Bedauern, "aber wenn du nicht auf mich hören willst, musst du wohl fühlen, um es zu verstehen." Während er das sagte, holte er mit der Hand aus und schleuderte den leuchtenden Gegenstand über den Asphalt auf Heather und Anne zu.
Das Ding rutschte genau den beiden Frauen zwischen die Füße. Erschrocken erkannte Anne, dass es so ähnlich aussah, wie der Talisman, den damals der Professor gehabt hatte. Und dieses Symbol...!
Doch alles ging so schnell. Kaum landete der Gegenstand vor ihren Füßen, löste er sich strahlend auf. Das blutrote Symbol darauf war nun irgendwie freigesetzt und wurde plötzlich auf dem Asphalt unter ihnen riesengroß, so dass sie beide genau im Zentrum davon standen. Es hatte zwei äußere Ränder und in der Mitte drei kleinere Kreise. 'Nein!', erkannte Anne. Auch Heather stand da wie gelähmt. Sogleich drehte sich das Symbol plötzlich schnell im Kreis und erzeugte einen Wirbel um sie herum.
Die Frauen spürten, wie die Erde leicht bebte, und fielen beide auf die Knie.
Gabriel sah, was er getan hatte und meinte leise: "Es tut mir leid, Heather..."
Innerhalb des Siegels verspürten die Frauen einen starken Sog in die Tiefe. Beide versuchten aufzustehen, um aus dem Siegelkreis zu kommen, doch es ging einfach nicht. Um sie herum tobte ein heftiger Wind. Die ganze Gasse war zudem in ein blutrotes Licht getaucht.
Mitten in diesem Getöse hörten sie plötzlich Sirenen aufheulen. 'Nein - bitte nicht!', dachte Anne verzweifelt und versuchte ein letztes Mal, sich aufzurichten.
Doch es gab kein Zurück. Immer schneller drehte sich das Siegel unter ihren Füßen und verstärkte den unheimlichen Wirbel, der sie von allem außerhalb abschloss und sie gleichzeitig nach unten riss. Ungläubig sahen Heather und Anne, wie sich die ganze Umgebung um sie herum auflöste und wegblätterte. Sie konnten geradeso noch sehen, wie Gabriel ein Stück von ihnen entfernt wieder wegging, wobei er die ganze Zeit einen ernsten Blick auf sie warf.
Die Sirenen heulten immer lauter und alles außerhalb des Siegels verschwand ins Nichts. Schließlich brach auch noch ein helles Licht hervor, das sie einschloss. Die Beiden konnten dem Sog nichts mehr entgegensetzen. Sie stürzten zu Boden und gaben auf. Das Getöse wurde unendlich laut und schließlich versagten ihre Nerven und sie wurden bewusstlos.
Einige Augenblicke später spürte Anne eine Hand an ihrer Schulter. Langsam öffnete sie die Augen. "Heather?", fragte sie ungläubig.
"Ja klar - wer sonst", antwortete ihr die Frau neben ihr. "Wir haben ein Problem, fürchte ich", sagte sie, richtete sich auf und leuchtete mit einer Taschenlampe vor sich hin und her.
Erst jetzt fiel Anne die totale Dunkelheit auf. Dabei war es doch eben noch hell gewesen! Langsam richtete sie sich auf und fasste sich an den Kopf. Verfluchte Schmerzen...
Dann blickte sie sich um. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Im Licht von Heathers Taschenlampe sah sie, dass sie beide nicht mehr auf Asphalt standen, sondern auf einem engmaschigen Gitterfußboden. Direkt unter ihnen war das Symbol "halo of the sun" in das Eisengitter eingraviert worden - dieses verfluchte Symbol, das auch gerade den Wirbel verursacht hatte.
Panisch drehte Anne sich um und schaute in die Richtung, in die Heather leuchtete. Die ganze Gasse war ein metallischer Platz aus Eisen, die Wohnblöcke rechts und links waren verzogene, stählerne Kolosse aus verrostetem Metall.
"Das gibts doch nicht", gab Heather mit einem Kloß im Hals von sich. "Sowas hab ich das letzte Mal als Kind gesehen."
Doch Anne hatte das gar nicht richtig gehört. Mit nervösem Blick und halboffenem Mund schaute sie immer nur wieder hin und her, wollte nicht glauben, was sie da sah.
"Nein", sagte sie und schüttelte den Kopf, "das kann nicht sein - nein!" Ihre Atmung wurde hektisch, ihr Blick verzweifelt. Sie riss den Kopf in den Himmel, den man nicht sah, hielt sich die Hände an die Wangen und rief laut: "NEEEEIIIN!"
Sie war an einem Ort, den sie eigentlich nie mehr im Leben wiedersehen wollte. In der Otherworld!
____________________________________________
Oho - was ist denn jetzt los?! Wie es aussieht müssen sich alle Protagonisten auf etwas Schlimmes gefasst machen 😬
Die Reise zu Heathers Mum nimmt einen ungeahnten Umweg. Daher bleibt das Geheimnis, wer sich dahinter verbirgt, noch etwas länger gewahrt 😉
Die gute Nachricht ist: Man darf sich endlich auf ein paar Otherworld-Kapitel freuen. 😊
Mal schauen, wie sich die jeweiligen Teams darin schlagen... 😬
Ich erinnere in dem Zusammenhang an die Trigger-Warnung im Vorwort! Daraus lässt sich schon mal erahnen, was als Nächstes so kommen könnte... 😁
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top