19. Der Turm des Metatron

Noch immer nieselte es in Ludlow. Anne und Heather Brighton waren inzwischen schon ein gutes Stück gegangen. Anne hatte Heather Rede und Antwort gestanden über das, was sie angeblich erlebt haben will.
Nun waren es nur noch wenige Blocks bis zur U-Bahn-Treppe. Nachdenklich ging Heather Brighton mit Anne an der Seite durch den Nieselregen. Sie konnte die Geschichte kaum glauben, die ihr die fremde Frau gerade erzählt hatte. Eine Otherworld in einer deutschen Stadt! Und dann auch noch ausgerechnet mit einer gewissen Dahlia...

Nach einer längeren Pause brach Heather endlich das Schweigen. "Ich kann es kaum glauben, dass Dahlia wieder da sein soll...", sagte sie als Erstes. "Aber so, wie Sie sie beschrieben haben - das klingt leider sehr nach ihr..."
Anne musterte sie von der Seite. "Dann hatte ich also Recht", wagte sie festzustellen, "Sie kennen Dahlia."
Heather bewegte ihren Kopf ein wenig hin und her. "Nicht direkt", wandte sie ein, "nur aus den Erzählungen meiner Mutter."
"Achso?", wunderte sich Anne.

Heather nickte. "Ja. Sie kennt das alles besser als ich. Diese Geschichten über Silent Hill und diesen verfluchten Orden." Ihr Gesicht wurde wütend. Sie schüttelte den Kopf. "Diese Fanatiker haben unsere Familie schon öfter Schaden zugefügt."
Anne betrachtete sie erstaunt von der Seite. In Heathers Gesicht war eine große Bitterkeit entstanden. Besser sie fragte erstmal nicht weiter nach, obwohl ihr tausend Fragen unter den Nägel brannten. Zum ersten Mal traf sie mit jemand Anderem als dem Professor zusammen, der mit dieser unheilvollen Stadt und seinem Orden zu tun hatte.

Schließlich erreichten sie die Treppe zur U-Bahn. Heather blieb davor stehen und schien etwas zu überlegen. Als Anne auch stehenblieb, meinte sie zu ihr: "Wenn Sie wollen, können Sie gern mit mir mitkommen."
Anne runzelte die Stirn. "Zu Ihnen nach Hause?"
Heather nickte sanft. "Ich würde wirklich mehr darüber erfahren und wie es aussieht, bräuchten Sie einen Platz, wo Sie sich mal ausruhen." Sie zeigte auf Annes Reisetasche und den zwei Tüten, die Anne die ganze Seite in den Händen hielt. "Außerdem ist es mir manchmal zu Hause zu ruhig...", fügte sie etwas niedergeschlagen hinzu.
Anne nickte verständnisvoll und zeigte ihr dann ein fröhliches Gesicht. "Okay, warum nicht?" Eine Tasse Tee und ein Stündchen palavern passten ihr eigentlich ganz gut in den Kram. Zur Ferienunterkunft konnte sie später immer noch.

Heather nickte erfreut und gleich darauf schritten die Frauen die Treppe zur U-Bahn hinunter und reihten sich ein in den Strom von Leuten, die auch gerade hinuntergingen.

___

Tobias und Laura waren inzwischen in einem leeren Seminarraum und brüteten über den Ordnern. Dank Lauras Schlüsselkarte hatten sie sich hier einfach mal so einquartieren können. Als Mitarbeiterin des Instituts hatte sie gleich gewusst, dass einige Räume des Hörsaalgebäudes heute nicht genutzt wurden. O'Connors würde es schwer haben, sie überhaupt wiederzufinden.
Mittlerweile waren Stunden vergangen. Der Himmel hatte sich bewölkt, aber es hatte nicht angefangen zu regnen. 
Laura und Tobias hatten davon kaum was mitbekommen. Jeder hatte an einem Tisch oder Pult einen Ordner vor sich und überflog die Seiten nach Hinweisen.

Tobias nahm sich dabei die Zeit, hier und da etwas genauer reinzulesen. Diese ganzen Details über Silent Hill waren faszinierend. So erfuhr er zum Beispiel etwas über eine Kohlemine, die einer gewissen Familie Gillespie gehört hatte. Oder auch Geschichten über den Toluca-See, der sich als so unheilvoll erwies, wie es der Name vermuten ließ. Eine Aufzeichnung besagte, dass einmal ein ganzes Schiff darauf spurlos verschwand - für immer.

"Na, schon was Schönes gefunden?", rief Laura zu ihm rüber. Sie stand etwas weiter weg am Hörsaalpult, auf dem ihr Ordner lag.
"Viel Interessantes", meinte Tobias, "aber nichts über irgendwelche Gegenstände." Er blätterte um und blickte auf einen alten Zeitungsartikel. Alessa Gillespie (7) stirbt bei Brand im Familienhaus, lautete die Überschrift. Tobias' Augen wurden riesengroß. 'Guck an', dachte er erstaunt und überflog den Artikel. "Das Mädchen konnte nur noch als verkohlte Leiche geborgen werden", stand im letzten Abschnitt. Kein Wort von einem Ritual oder dem Orden. Angeblich war der Heizungsboiler im Keller Schuld an dem Feuer gewesen.
Tobias brummte verächtlich. Unten neben dem Artikel entdeckte er noch eine handschriftliche Notiz. "Leiche vertauscht???", hatte jemand hingekritzelt. Vom Schriftstil her könnte dies der Professor geschrieben haben. Seine Vermutung kam der Wahrheit wahrscheinlich ziemlich nahe...

"Hier schreibt der Prof sich mit Steven", sagte Laura und winkte Tobias zu sich heran. "Es geht um diese Gegenstände, die du meintest."
Sofort war Tobias bei ihr. Laura hatte gerade einen Abschnitt aufgeschlagen, in dem viele ausgedruckte Mails abgeheftet waren. "Aber sie schreiben sich nur, wo man suchen könnte", meinte Laura.
Tobias überflog einige Zeilen. Es ging um die drei Gegenstände, die er schon kannte. Steven Birmingham diskutierte in den Mails mit dem Professor darum, wo man sie finden könnte. Allerdings wurden keine anderen Artefakte erwähnt. "Das könnte noch wichtig werden", meinte Tobias und zeigte mit dem Finger auf die Seiten. "Mach' am besten einen Zettel an dieser Stelle hinein", schlug er vor.
Laura sah ihn missbilligend von der Seite an. "Was denkst du, was ich vor hatte", gab sie schnippisch von sich, riss behände eine große Ecke von einer Seite ab und klemmte sie gefaltet hinein.

Tobias ging lieber wieder auf Abstand und suchte bei sich weiter. Nach einiger Zeit fand er endlich etwas Interessantes. Es war eine Abbildung in Hochformat, auf der in der Mitte ein Leuchtturm zu sehen, um den herum fünf Gegenstände angeordnet waren. Drei davon erkannte er als die Artefakte des Metatron, mit denen Anne und er vor vier Jahren ihre unheimlichen Erlebnisse gehabt hatten. Aber es waren auch zwei andere Gegenstände abgebildet - eine Art Vase und eine kleine runde Scheibe.
Aufgeregt heftete er das Blatt heraus und ging schnurstracks zu Laura. "Hier schau mal - das ist was, glaub' ich."
Laura sah auf und blickte auf das Bildnis, das Tobias ihr hinhielt. Ihr Blick wurde abgeklärt. "Nee, das kenn ich schon. Das ist der Leuchtturm von Silent Hill", meinte sie bestimmt. "Der ist in der Nähe von dem Hotel, das ich vorhin erwähnt habe, weißt du? Am nördlichen Ende des Sees."

Tobias ließ sich damit nicht abspeisen. "Ja - aber die anderen Gegenstände hier", sagte er erregt. "Das ist doch eine Spur!" Er zeigte hektisch auf das Blatt. "Hier oben links ist das Wasser der Claudia, unten das Buch des Phaleg" fuhr er fort und wies mit dem Finger auf das jeweilige Abbild, "und hier rechts ist der Dolch des Bethor. Aber diese Vase und die Scheibe kenne ich noch gar nicht. Die scheinen auch etwas Besonderes zu sein." Er blickte Laura hoffnungsvoll an.
Die nickte und wusste sofort Bescheid. "Das ist die Vase des Hagith und die Himmelsscheibe des Ophiel", sagte sie mit erstaunlicher Klarheit. "Aber das kannst du vergessen, Toby", fuhr sie mit schüttelndem Kopf fort, "ich hatte damals auch gedacht, dass es eine Spur ist und hab den Turm aufgesucht. Aber nichts - keine Spur. Alles was ich fand, waren Mäusekötel."

Tobias ließ den Kopf leicht sinken und starrte auf das Blatt. Dann hielt er es Laura erneut hin. "Aber schau doch mal", setzte er an, "so wie die Gegenstände hier angeordnet sind, wirkt es nicht so, als wären sie IM Turm."
Laura runzelte die Stirn.
"Es sieht eher so aus, als seien sie alle gleich weit von ihm entfernt. Als steht der Leuchtturm im Zentrum und die Artefakte wurden gleich weit weg von ihm versteckt."
"Hhm...", meinte Laura und hielt sich nachdenklich eine Hand an den Mund. "Das könnte natürlich auch sein", gab sie leise zu.
"Und guck mal hier - was soll diese Notiz einem sagen", fuhr Tobias fort und zeigte auf eine gekritzelte Schrift direkt neben dem Leuchtturm. "Der Turm ist bei der alten Dame. Finde ihn und er wird dir die anderen Gegenstände bringen", las Tobias den Spruch vor.

"Achso - das", sagte Laura und winkte mit der Hand ab. "Das hat Steven geschrieben. Wahrscheinlich als Hinweis für Mr. Hayden." Als sie Tobias' fragenden Blick sah, ergänzte sie: "Die alte Dame - das ist die schrullige Mrs. Garfield. Sie hatte einen Keksladen in der Nähe des Leuchtturms. Das meint Steven damit, wenn er sagt, er ist bei der alten Dame. Der Professor sollte den Keksladen aufsuchen. Von dort sieht man den Turm schon ziemlich gut und kann ihn dann nicht mehr verfehlen."
"Hhm...", brummte Tobias und starrte auf die Notiz. "Und was soll dann der Zusatz 'er wird dir dir anderen Gegenstände bringen'? Irgendwie passt das nicht."

Laura zuckte mit den Achseln. "Vermutlich, dass man im Turm einen Hinweis findet", konterte sie sofort. "Aber wie gesagt, Toby - ich war daahaa", betonte sie schmunzelnd. "Kein Hinweis und auch kein Gegenstand."
Tobias grübelte. "Vielleicht hat sie jemand entfernt...", dachte er laut und stützte sein Kinn auf eine Hand.
"Aber warte mal", sagte Laura plötzlich und hob einen Zeigefinger. "Da gab es schon immer diese eine Mail, die ich komisch fand", fuhr sie fort und blätterte in dem Ordner ein paar Seiten um.
Tobias Anspannung kam zurück. Aufmerksam schaute er Laura auf die Finger.
"Hier", sagte die Blondine und tippte energisch auf die gerade aufgeschlagene Seite. "Hör mal zu, was Steven hier dem Professor gemailt hat: Ich hab den Turm des Metatron gefunden. Mit seiner Hilfe wirst du die anderen Gegenstände finden. Klingt doch irgendwie komisch, oder?"

Tobias runzelte die Stirn. Das tat es in der Tat!
"Ich meine, wieso drückt er sich so geschwollen aus. Mit seiner Hilfe...bla bla bla..." Laura gestikulierte mit einer Hand. "Wenn etwas im Turm wäre, würde man das doch anders sagen, dachte ich damals."
Tobias blickte auf das Bild mit den Gegenständen. Irgendwas nagte an ihm und war kurz davor, an die Oberfläche zu kommen.
"Und vor allem dieser Ausdruck - Turm des Metatron", ereiferte sich Laura weiter. "Kein Mensch hat ihn bisher so genannt! Der Leuchtturm heißt offiziell gar nicht so."
Tobias betrachtete immer noch das Bild. Ein Gedanke tauchte aus der Tiefe auf. "Die anderen Gegenstände finden...", murmelte er den Satz der Mail vor sich hin. Seine Augen wanderten über die Abbildung und er begriff allmählich. "Könnte es so einfach sein?", sagte er und blickte staunend auf die Anordnung der Gegenstände.

Laura horchte auf. "Hast du was?", fragte sie neugierig.
Tobias bewegte sich unruhig hin und her, hielt Laura das Bild hin und erwiderte: "Es ist doch seltsam, dass der Turm auf diesem Bild genauso groß ist, wie die Gegenstände rings rum, findest du nicht?"
Laura hielt ihren Kopf schief und blinzelte Tobias scharfsinnig an.
"Und dann die Mail", sprudelte es aus Tobias heraus, "dieser Steven spricht nicht davon, dass der Prof die Gegenstände finden wird, sondern sagt, die anderen Gegenstände! Also ist der Turm..."
"Ein weiterer Gegenstand...", beendete Laura den Satz mit ehrfürchtiger Stimme. Ihre blauen Augen wurden groß vor Erkenntnis. "Ein sechster Gegenstand - der Turm des Metatron!"
Tobias nickte heftig.
"Dann sieht er anscheinend nur so aus wie der Leuchtturm", begriff Laura. Sie sah Tobias an und ein Lächeln breitete sich auf ihrem hübschen Gesicht aus. "Toby - das ist genial!", lobte sie. Dann wurde sie etwas ernster. "Verdammt - warum bin ich da nicht selber drauf gekommen", ärgerte sie sich.

Tobias stellte sich etwas lockerer hin und meinte: "Weil vier Augen und zwei kluge Köpfe zusammen mehr sehen." Er schmunzelte, als Laura zu ihm aufblickte. Im nächsten Moment bekam ihr Gesichtsausdruck etwas Verschmitztes. "Da wird wohl was dran sein", meinte sie schelmisch.
Tobias sah auf das Bild und wurde wieder nachdenklich. "Nur eins versteh ich nicht so ganz", sagte er und zeigte auf die Notiz neben dem Turm. "Wenn Steven den Turm schon gefunden hatte, warum hat er dann hier nochmal die Notiz mit der alten Dame gemacht?"
Laura runzelte die Stirn. Plötzlich wurden ihre Augen groß. Sie trat ein paar Schritte vom Pult zurück und rief laut: "Menschenskind natürlich - die alte Dame!"
Als Tobias sie fragend ansah, hob sie eine Hand und redete hektisch weiter: "Drüben in unserem Audimax haben wir einen Lernraum mit lauter Kunstgegenständen. Da gibt es Bücher, alte Karten und auch jede Menge Büsten. Bei dem einen Regal steht eine Statue der Göttin Diana. Sie stammt aus Italien und ist schon ein paar Jahrhunderte alt. Alle hier an der Uni nennen sie liebevoll 'die alte Dame'..."

Durch Tobias ging ein Ruck. Mit einem Satz stand er direkt vor Laura. "Dann hat Steven die Statue gemeint!", erkannte er mit pochendem Herzen.
Laura nickte langsam. "Und nicht nur das", säuselte sie geheimnisvoll. "Steven und der Professor haben sich vor der Abreise nicht mehr gesehen. Und Mr. Hayden war aber auch nicht mehr an der Uni." Lauras Blick wurde verschlagen. "Wenn er die Notiz also nicht mehr gesehen hat, dann ist der Turm..." Sie guckte Tobias vielsagend an.
"Immer noch dort", begriff dieser und schaute Laura mit aufgerissenen Augen an.
"Richtig!", sagte Laura laut, schlug ihm kameradschaftlich auf den Arm, eilte dann zu ihrem Ordner und schlug ihn zu. Gleich darauf rannte sie zur Tür. "Los komm . worauf wartest du! Schnapp dir deinen Ordner! Wir müssen zum Audimax und uns den Turm holen."

Aufgeschreckt über Lauras plötzlichem Aktionismus zögerte Tobias erst einen Moment, doch dann kam auch in ihn Bewegung. "Und was ist mit O'Connors?", fragte er laut, während er seinen Ordner zügig zuschlug.
Laura lachte leicht auf. "Der ist doch garantiert schon weg", meinte sie selbstsicher. "Es ist gleich Sechs und er hat uns nicht gefunden." Sie stand an der Tür und wartete, bis Tobias mit dem anderen Ordner bei ihr stand. "Du glaubst doch nicht, dass er nach Stunden immer noch da draußen nach uns sucht", meinte sie spöttisch und schmunzelte ihn spitzbübisch an.
"Was weiß ich, wie der tickt", meinte Tobias trocken, was Laura auflachen ließ.
"Das wird schon gut gehen", sagte sie und betrat mit Tobias den Flur.
'Na hoffentlich hast du Recht...', dachte Tobias und eilte mit Laura den Gang hinunter.

___

Anne war inzwischen mit Heather bei ihrer Wohnung angekommen. Die ganze U-Bahnfahrt hindurch hatten sie so gut wie kein Wort gewechselt. Anne hatte über das nachgedacht, was Heather ihr gesagt hatte und umgekehrt hatte Heather darüber nachgedacht, was sie Anne noch so anvertrauen konnte.
Nach vier Stationen verließen sie die U-Bahn und gingen eine belebte Straße hinunter. Schließlich standen sie vor dem gewünschten Gebäude. Heather lebte in einem schmalen Block mit drei Aufgängen und einem kleinen Spitzdach. Wortlos stieg sie die Treppe zur Haustür hoch und schloss auf. Anne folgte ihr schweigend. Im Treppenaufgang gingen sie eine Etage hoch und betraten dort Heathers Wohnung.

Anne fielen sofort die freundlichen Farben auf, in der die junge Mutter die ganze Wohnung gestaltet hatte. Man fühlte sich irgendwie gleich wohl. Sie übersah auch nicht die beiden Türen mit Kinderbildern darauf, die als einzige verschlossen waren. 'Die Kinderzimmer...', dachte sie wehmütig und zog den Mund schief. Sicherlich hielt Heather die Türen absichtlich geschlossen, um nicht ständig daran erinnert zu werden...
"Das Bad ist hier", sagte die junge Mutter in diesem Moment und wies auf eine Tür neben der Küche. 
"Ah - okay, super", meinte Anne. "Da kann ich ja erstmal den Schirm lassen."
Heather nickte und ging in die Küche, während Anne ihre Sachen abstellte und ihren kleinen Regenschirm im Bad aufstellte.

"Tee?", fragte Heather und blickte schmunzelnd zu ihr rüber.
Anne nickte freundlich. "Ja - danke. Den kann ich jetzt gut gebrauchen."
Heather schmunzelte und stellte den Wasserkocher an. Kurz darauf kam sie mit zwei Tassen aus der Küche und geleitete Anne ins angrenzende Wohnzimmer.
Anne setzte sich auf eine Ecke der gemütlichen Couch. Als Heather ihr die Tasse Tee reichte, meinte sie: "Ah - super, das wird mich endlich aufwärmen."
Heather schmunzelte und setzte sich auf das lange Ende der Couch. "Übrigens können wir, glaube ich, "du" sagen, oder?", meinte sie beiläufig, während sie ihren Tee umrührte. "Ich denke, wir sind ungefähr gleich alt."
"Ja, das stimmt", erwiderte Anne freundlich, "warum nicht. Ich bin Anne." Sie lächelte mitfühlend.
"Und ich heiße Heather - aber das weißt du ja sicher schon..." Sie warf Anne einen bedeutsamen Blick zu.

Nach diesem ersten Auftauen genossen beide ihren Instant-Tee. Schließlich wagte Anne zu fragen: "Und deine Mutter hatte also mit Silent Hill zu tun?"
Heather schaute weiter stur geradeaus und pustete auf ihre Teetasse. "Ja - das kann man wohl sagen", antwortete sie schließlich zögerlich. "Der Orden war hinter ihr her..."
"Achso?!", wunderte sich Anne.
Heather nickte und genoss einen Schluck Tee. "Sie hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht", sagte sie und ließ das so stehen.
Anne schaute verdutzt. "Dann muss sie sich mit diesem ganzen gruseligen Zeug wohl gut auskennen", stellte sie fest.

Heather nahm einen weiteren Schluck Tee und sagte schließlich: "Das stimmt - ja." Sie zögerte einen Moment. Dann fügte sie hinzu: "Genau genommen, stammt meine Mutter sogar aus Silent Hill."
Annes Augen wurden riesengroß. "Was?!", gab sie erstaunt von sich.
Heather hielt ihre Tasse Tee direkt vor ihren Mund und schien etwas zu überlegen. "Es ist wahr - ja", meinte sie leicht angespannt. "Aber das ist eine Geschichte, die sie dir lieber selbst erzählt..." Sie vermied, zu Anne hinüberzusehen und nahm einen weiteren Schluck Tee.
"Okay?", meinte Anne nur. "Ich mein' - das klingt interessant. Vielleicht sollte ich deine Mum wirklich mal treffen." Heather schien etwas zu überlegen und antwortete nicht sogleich.

"Wohnt sie hier in der Nähe?", schob Anne daraufhin hinterher.
"Nicht ganz", erwiderte Heather. "Sie lebt in Greenfield. Liegt etwa 50 Meilen nördlich von hier. Schönes Städtchen. Ich bin dort aufgewachsen."
"Aha", meinte Anne aufmerksam.
Heather stellte schließlich die Tasse ab und sah Anne direkt an. "Hör zu, Anne", begann sie dann, "dieser Orden ist gefährlich. Und mehr als einmal haben sie sich in unser Leben eingemischt." Sie schaute zu Boden und knetete sich die Hände. "Und als Anna und Henry verschwunden waren...", setzte sie an und schüttelte den Kopf.
Annes Miene wurde mitfühlend.

"Meine Mum und mir war sofort klar, dass der Orden dahinter steckt", gab Heather plötzlich laut von sich. "Schließlich hatten sie ein Hinweis am Tatort hinterlassen..."
Anne überlegte und nickte wissend.
"Da war dieser Dolch", redete Heather weiter, "mit dem Siegel von Metatron darauf."
Anne durchfuhr ein Schauer. Heather kannte also auch die Symbole des Ordens.
"Da wussten wir es sofort...", fuhr Heather fort und schüttelte traurig den Kopf. "Wussten, dass nur dieser verflixte Orden dahinter stecken konnte."

Anne runzelte die Stirn. "Aber... aber wenn ihr das wusstet - warum habt ihr dann nichts unternommen?!", konnte sie nicht an sich halten.
"Ich wollte ja", sagte Heather sofort und schaute sie gequält an. "Aber Mum war dagegen. Sie weigert sich, nochmal nach Silent Hill zu gehen. Sagt sie jedenfalls. Aber ich merke, wie es in ihr arbeitet. Ja sogar brodelt."
Heather blickte mit weinerlichem Gesicht zu Anne. "Alleine wage ich mich jedenfalls nicht dahin. Meine Mum wäre auch sehr sauer, wenn ich das tun würde. Vor langer Zeit war sie nochmal in dieser Stadt und musste sich dem Bösen stellen", sagte sie mit geheimnisvoller Stimme. "Die Erinnerung daran wiegt immer noch schwer." Sie rückte etwas auf der Couch vor und fügte hinzu: "Aber wenn sie wüsste, dass Dahlia wieder da ist und dahinter steckt, dann krieg ich sie vielleicht dazu, mit mir nach Silent Hill zu gehen."

Anne war wie vom Donner gerührt. Heather hatte also die ganze Zeit gewusst, dass ihre Kinder in Silent Hill waren! Deswegen hatte sie so abweisend reagiert. Anne hatte ihr überhaupt nichts Neues erzählt. Heather und ihre Mutter kannten den Orden und hatten also sofort begriffen, wohin die Kleinen verschwunden waren. Und jetzt ging es nur darum, dass Heather nicht allein dorthin gehen wollte. Was Anne mehr als verstehen konnte...
"Bitte, Anne", sagte Heather in diesem Moment, "du solltest meine Mutter wirklich treffen und ihr die Sache mit Dahlia erzählen. Dann würde sie alles überdenken und mit mir nach Silent Hill gehen."
Anne konnte nur langsam den Kopf schütteln. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
"Weißt du - es gibt da eine persönliche Fehde zwischen ihr und Dahlia...", fuhr Heather mit verschwörerischem Tonfall fort. "Deswegen würde das ihre Meinung bestimmt ändern."

Anne stellte ihre Teetasse ab und musste einmal durchschnaufen. Sie überlegte kurz. "Können wir deine Mum nicht einfach anrufen?", fiel ihr dann ein.
Heather schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. "Sie lebt völlig zurückgezogen", erklärte sie. "Kein Telefon, keine E-Mail, keine sozialen Medien. Damit sie keiner mehr finden kann."
Anne schüttelte verwundert den Kopf. "Warum?", ereiferte sie sich. "Was ist denn an deiner Mutter so besonders?!"
Heather zögerte und sah Anne lange. "Das... das sollte sie dir lieber selbst erzählen", meinte sie dann ernst.
Anne atmete langgezogen aus. Da soll einer schlau draus werden!

"Wir könnten recht schnell zu ihr fahren", sagte Heather derweil und schaute Anne erwartungsvoll an. "Mit dem Zug dauert es nur ne Stunde."
"Ich weiß nicht...", gab Anne schwermütig von sich. Sie spürte, dass die Gefahr drohte, immer weiter in etwas hineingezogen zu werden. Aber sie konnte es drehen, wie sie wollte. Etwas in ihr war neugierig geworden. Neugierig auf Heathers Mutter, die anscheinend schon Einiges mit Silent Hill durch hatte...
"Ich... ich fahre jedenfalls nicht ohne meinen Freund dahin", gab sie einigermaßen entschlossen von sich.
Heather zuckte mit den Achseln. "Umso besser", meinte sie. "Wenn ihr zu zweit auftaucht, hat meine Mutter gar keine andere Chance, als euch zu glauben."

Anne nickte missmutig. Worauf ließ sie sich hier gerade ein, verdammt!
Dann fiel ihr etwas ein. "Aber was ist mit meinen Sachen? Ich wollte doch eigentlich zu einer Ferienunterkunft."
Heather nahm einen Schluck Tee und schaute sie tiefgründig an. "Wir können bei meiner Mum übernachten. Dein Freund auch - das wird kein Problem sein. Nimm einfach das Wichtigste mit - den Rest lass hier", schlug sie vor.
"Hhm...", gab Anne leise von sich. "Ich muss das auf jeden Fall erst mit meinem Freund besprechen."
Die junge Mutter nickte verständig. "Kein Problem - ich wollte mich eh noch von der Arbeit frischmachen." Kaum gesagt, stand Heather eilig auf und verließ das Wohnzimmer.
Schwermütig zog Anne ihr Smartphone hervor und wählte Tobias an.

___

Agent O'Connors war mitnichten vom Universitätsgelände wieder abgezogen. Er saß im Park des Universitäts-Campus und zwar dort, wo er die drei wichtigsten Gebäude des Historischen Instituts auf einen Schlag überblicken konnte. Miss Sunderland und dieser Simmrow mochten sich im Augenblick verstecken, aber irgendwann würden sie schon wieder rauskommen. Und dann wäre er da...
Aufmerksam beobachtete Daniel O'Connors die weitläufigen Anlagen. Bei jeder blonden Frau schaute er energisch hin und mutmaßte Laura Sunderland dahinter. Doch waren diese Blondinen meist ohne den gesuchten Begleiter.

Erneut enttäuscht über einen weiteren "Fehlalarm" lehnte er sich gerade wieder auf der Bank zurück. Dabei pikste ihm etwas in die Seite. Er griff in sein Jackett und richtete den Dolch wieder zurecht. Er hatte ihn mitgenommen, weil er ihn nicht im Auto lassen wollte. Seine Aktentasche hätte ihn beim Nachjagen behindert, aber der silberne Dolch war ein Beweisstück, das nicht wegkommen durfte. Unter keinen Umständen. Außerdem hatte er vor, diesen Simmrow damit noch einmal zu konfrontieren. Er war sich ziemlich sicher, dass Simmrow und dessen Freundin den Dolch schon früher einmal gesehen hatten.

Nach einer weiteren halben Stunde entdeckte er ein auffälliges Päarchen. Eine Blondine mit Pferdeschwanz und ein brünetter Mann mit kurzen Haaren. Sie eilten zügig von dem einen Hörsaalgebäude in die Richtung des Auditorium Maximum - wie das älteste Gebäude des Instituts hieß.
Als O'Connors genauer hinsah, erkannte er, dass jeder der Beiden einen dicken Ordner trug.
'Na also', dachte er mit zunehmendem Lächeln, 'Sunderland und Simmrow.'
Augenblicklich erhob er sich von der Parkbank und ging quer über den Rasen auf das Audimax zu. Es war Zeit, eine Verhaftung vorzunehmen...

___

Nur einen kleinen Moment später erreichten Tobias und Laura das Auditorium Maximum. Drinnen auf dem großen Flur wies Laura zur großen Haupttreppe. "Wir müssen nach oben", meinte sie knapp und ging sogleich darauf zu. Tobias folgte ihr ohne zu zögern.
Auf dem obigen Flur hörte er plötzlich sein Smartphone klingeln. Er wurde stutzig, hielt an und stellte den Ordner ab.
Laura war schon an der letzten Tür und wunderte sich. "Was ist denn los?", fragte sie und ging wieder ein paar Schritte auf Tobias zu.
Der hielt sein klingelndes Handy hoch. "Meine Freundin ruft an", sagte er entschuldigend.
"Achso", erwiderte Laura achselzuckend. "Na ja - es ist die Tür dahinten. Ich geh schon mal rein. Komm dann einfach nach."

Tobias nickte. Laura nahm Tobias Ordner mit auf, drehte sich um und verschwand dann zügig in der Holztür am Ende des Flurs.
"Hallo Anne, was gibt's?", sagte Tobias in diesem Moment in sein Smartphone.
"Allerhand", sagte diese in sein Ohr. Ihre Stimme wirkte etwas nervös. "Stell dir vor - ich bin hier gerade bei Heather Brighton in der Wohnung. Sie weiß etwas über Silent Hill und vermutete längst, dass die Kinder dort sind."
"Im Ernst?!", rief Tobias verwundert aus.
"Ja", meinte Anne nur. "Ihre Mutter scheint sehr viel über den Ort und den Orden zu wissen. Sie meinte, wir müssten sie unbedingt treffen und ihr von Dahlia erzählen. Dann wäre sie bereit mit Heather nach Silent Hill zu gehen."
"Okay?!", erwiderte Tobias. "Das klingt ziemlich abgedreht irgendwie."

Anne drehte sich im Wohnzimmer von Heather um und ging ein paar Schritte zur Wand gegenüber. "Ich weiß", gab sie zu und zog einen Mund schief. "Aber sie kennen den Ort wirklich und überlegen, dorthin zu gehen. Heather meinte nur, ihre Mum bräuchte einen gewissen Anstoß." Sie betrachtete ein Bild, auf dem ein Mann mit braunen, nach hinten gekämmten Haaren lächelnd neben einer blonden Teenagerin stand, die halblange, blond gesträhnte Haare hatte.
Als sie Tobi's Seufzen im Ohr hörte, schob sie schnell hinterher: "Und hey - wir wollten doch den Leuten hier einen Anstoß geben, damit sie sich auf Silent Hill konzentrieren."
"Ja schon...", hörte sie Tobias seufzen. Er schien darüber nachzudenken.
Anne schaute weiter auf das Bild und sagte: "Außerdem scheint diese Mutter ziemlich interessant zu sein und sogar aus Silent Hill zu stammen."

Tobias blinzelte und versuchte einzuordnen, was diese Neuigkeiten für sie beide bedeutete. "Und Heather meinte, es wäre besser, wenn wir beide bei ihr aufschlagen würden und unsere Geschichte erzählen", redete Anne derweil weiter. "Das wäre mehr überzeugend."
Tobias begriff allmählich. "Wie - dann kennt Heathers Familie nicht nur Dahlia, sondern auch diese ganzen Otherworld-Effekte?", fragte er erstaunt.
"Ja - das ist es ja gerade", hörte er prompt Anne's Antwort am Ohr. "Und ehrlich gesagt, möchte ich auch nicht alleine dorthin fahren."
Das konnte Tobias gut nachvollziehen. "Na gut - wir sind ja eigentlich noch gut im Zeitplan", überlegte er laut. "Da könnte man auch noch jemand Weiteren besuchen." Außerdem musste er selbst zugeben, dass das Ganze irgendwie spannend klang.

"Genau das dachte ich auch", sagte Anne laut und nickte sich selbst zu. "Die Mutter wohnt aber nicht in Ludlow, sondern in Greenfield. Das ist aber nicht so weit entfernt von hier. Von Boston könntest du direkt mit dem Zug hinfahren. Ich hab schon mal im Netz die Verbindungen gecheckt. Gegen halb Acht fährt der Nächste. Heather und ich wollen nachher gleich von hier los. Da sie kein Auto hat, kommen wir auch mit der Bahn."
"Wie denn, was denn - ihr wollt heute noch dahin?", fragte Tobi in ihr Ohr.
"Ja klar - warum nicht?", erwiderte Anne und bewegte sich ein wenig hin und her. "Heather ist die Sache ziemlich wichtig. Und außerdem ist es doch noch lange hell."
"Hhm...", brummte Tobi am anderen Ende der Leitung.
"Wir holen dich auch abends vom Bahnhof ab. Heather sagt, wir können alle bei ihrer Mum schlafen. Das wäre kein Problem."

"Ja aber unsere Sachen hier", wandte Tobias ein.
"Die laufen uns doch nicht weg", erwiderte Anne sofort. "Die Unterkunft in Boston haben wir doch noch bis Donnerstag."
"Alles schön und gut, aber ich hab hier auch noch was Wichtiges zu erledigen", sagte Tobias. Er drehte sich um und ging ein paar Schritte. "Stell dir vor - es gibt weitere Gegenstände des Metatron. Und scheinbar ist einer davon hier an der Uni versteckt."
"Achso?", hörte er Anne's Stimme. "Das klingt ja auch spannend."
"Ja - und wir sind gerade dabei, das Versteck ausfindig zu machen. Deswegen möchte ich da dran bleiben. Das kann ja nicht so lange dauern."
"Okay - aber falls ihr doch nicht gleich was findet, denkst du an den Zug, ja?", wollte sich Anne vergewissern.
Tobias drehte sich wieder um und ging in Richtung des gesuchten Raumes. "Ja klar", versprach er. "Aber ich hoffe ja, dass ich diesen Turm des Metatron finde. Statt ihn Samantha Hayden zu geben, könnte ich ihn ja mit nach Greenfield nehmen. Wenn sie wirklich nach Silent Hill gehen, können sie dieses Ding bestimmt gut gebrauchen."

Anne überlegte zuhörend. "Da hast du sicherlich Recht", sagte sie schließlich. "Aber Tobi?", schob sie zaghaft hinterher und starrte ernst auf die Wand. 
"Jaa?", fragte der vorsichtig nach.
"Sei vorsichtig mit dem Gegenstand. Du weißt ja... Artefakte aus Silent Hill..."
Sie hörte Tobias schlucken. Dann sagte er: "Versprochen - mach ich. Zum Glück ist ja das andere Zeichen darauf."
'Trotzdem...', dachte Anne. Anschließend verabschiedeten sie sich wieder mit Küsschen.
Anne steckte ihr Smartphone weg und betrachtete immer noch nachdenklich das Bild vor ihr an der Wand. "Grandpa and Mum - 1990ties", hatte jemand handschriftlich darunter geschrieben - vermutlich Heather.
Anne schaute die blonde Teenagerin mit den halblangen Haaren an, die ihr nur knapp bis unter das Kinn reichten. 'Das ist also Heathers Mum', dachte sie interessiert. Sie lächelte fröhlich in die Kamera. Doch Anne runzelte verwundert die Stirn. Das Gesicht der Frau kam ihr nämlich seltsamerweise bekannt vor...

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