10. In unheimlicher Obhut...
Silent Hill, Alchemilla Krankenhaus
10 Tage zuvor
Henry seufzte. Noch immer wimmerte seine Schwester vor sich hin. Mitleidig stand er von dem Doppelbett auf, das jemand für Anna und ihn an die Wand gestellt hatte, und ging zu dem quadratischen Metalltisch.
Seine Schwester saß zusammengesunken auf einem der beiden Stühle. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit einem Sandwich darauf, doch Anna hatte es bisher noch nicht angerührt.
Henry fühlte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog, als er sah, wie der Rücken seiner nach unten schauenden Schwester vor Wimmern zuckte.
Er trat neben sie an den Stuhl, legte ihr eine Hand auf den Rücken und streichelte sie. "Komm, Anna...", sagte er zaghaft, "du musst was essen. Wenigstens heute wieder..."
Seine Schwester schniefte und schüttelte langsam den Kopf. "Ich will nicht...", nuschelte sie mit verheulter Stimme. "Ich will zu Mummy", sagte sie dann lauter und wimmerte noch mehr. "Wo ist... wo ist Mummyyyyy...", schluchzte sie langgezogen.
Henry schluckte, den Tränen nahe. "Sie... sie kommt bestimmt bald...", meinte er leise. "Sie wird uns finden..."
Seine Schwester sagte nichts, doch ihr Wimmern wurde etwas leiser.
Plötzlich hörten die Geschwister, wie die Metalltür aufgeschlossen wurde. Henry zuckte zusammen und starrte auf die sich öffnende Tür. Auch Anna blickte blitzschnell auf und stellte vor Schreck das Weinen ein.
Im nächsten Moment quietschte es, als die rechteckige Tür nach innen aufging. Die hellblonde Frau namens Sophia trat ein und hielt die Tür auf, so als wollte noch jemand eintreten. "So, da sind sie...", sagte Sophia sogleich zu einer zweiten Person hinter sich.
Henry und Anna sogen erschrocken die Luft ein. Anna stand vom Stuhl auf und umklammerte ihren Bruder vor Angst. Wer kam da jetzt noch zu ihnen herein?
Im nächsten Moment trat eine ältere Frau mit langsamen und würdevollen Schritten aus dem Schatten des Flurganges in die Mitte des Raumes. Instinktiv wichen Anna und Henry aneinander geklammert rückwärts bis an die hintere Wand heran. Die Frau sah doch ziemlich unheimlich aus. Sie trug ein langes, alt aussehendes Kleid und hatte lange, graue Haare, die ihr glatt auf die Schultern fielen. Doch besonders unheimlich war ihr Gesicht. Große, helle Augen waren darin, die den Kindern das Gefühl gaben, als konnten sie alles sehen, was sie dachten. Außerdem wirkte die Frau irgendwie streng...
"Well, well, well...", sagte sie langsam und betont, "so lernen wir uns also endlich kennen..." Der Tonfall ihrer Stimme verursachte bei den Kindern zusätzliches Herzklopfen. Er hatte etwas Schnurrendes an sich - wie eine Katze, bevor sie zuschnappte.
Die ältere Frau musterte Henry und Anna eingehend und ließ den Mund leicht offen stehen, als Anna sich einmal kurz traute, an der Seite ihres Bruders hervor zu lugen und sie direkt anzusehen.
Geschmeidig wandte sie ihren Kopf zur Seite und flüsterte erstaunt zu Sophia: "Du hast nicht übertrieben. Die Ähnlichkeit ist wirklich bemerkenswert..."
Die Kinder bekamen das halb mit und wunderten sich nur. Erst jetzt sahen sie, dass die Frau eine mit Tuch abgedeckte Schale in der rechten Hand hielt. Henry schaute misstrauisch darauf.
Die Frau wandte sich wieder ihnen zu und kam ein paar Schritte näher.
Unwillkürlich zuckten die Kinder etwas zusammen.
Die seltsame Besucherin hielt kurz ihren Kopf schief, als bemerkte sie jetzt erst, wie erschrocken die Beiden waren. "Aber, aber...", gab sie langsam in einem betont freundlichen Tonfall von sich, "ihr braucht doch vor mir keine Angst zu haben." Sie lächelte sie an und fügte dann etwas verschwörerischer hinzu: "Schließlich bin ich eure... Großmutter..."
Henry schaute perplex und auch Anna staunte, löste sich von ihrem Bruder und schaute die Frau ungläubig an. "Aber wir haben doch nur eine Grandma", platzte es aus ihr heraus. "Die in Greenfield." Erschrocken über sich selbst hielt sie sich sogleich ihre Hände vor den Mund.
"Hhm!", hörte man daraufhin Sophia schnauben. Es klang verächtlich, aber auch so, als sei ihr eine Erkenntnis gekommen. Alle schauten sie an. Sophia stand immer noch an der Tür. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie die Kinder wie zwei Verdächtige, die etwas Wichtiges zu verbergen hatten.
Auch die ältere Frau hatte sich erneut zu ihr herumgedreht. Als Sophia endlich zu ihr schaute, schüttelte sie mehrmals deutlich den Kopf. Die großen Augen funkelten verärgert.
Als die Frau sah, dass das wirkte, drehte sie sich wieder zu den Kindern um. Ihr Blick wurde weicher, sie lächelte und räusperte sich. "Nun jaaa....", säuselte sie dann gedehnt, "sagen wir einfach, ich bin so etwas wie eure andere Großmutter..."
Noch immer schauten die Kinder misstrauisch und zurückhaltend.
Die ältere Frau sah sich nun im ganzen Raum um. Das Zimmer war sehr karg eingerichtet und eigentlich auch zu groß für die beiden kleinen Besucher. Außer dem Doppelbett und dem Metalltisch mit seinen zwei Stühlen gab es so gut wie nichts Anderes in diesem ehemaligen Krankenzimmer. Dazu die Dunkelheit des Raumes aufgrund fehlender Fenster. Eine einzelne Glühbirne, die von der Decke hing, ließ ihr spärliches Licht durch den Raum gleiten. Wenigstens fiel dadurch der unwirtliche, geflieste Boden nicht auf, der sich aus hellen und dunklen Kacheln zusammensetzte...
"Ich muss mich für eure Unterbringung entschuldigen", sagte die Frau nach ausgiebigem Umsehen, "doch leider war ich unterwegs und habe erst jetzt erfahren, dass Sophia euch bereits hierher gebracht hat." Sie neigte entschuldigend den Kopf zur Seite.
"Ich bin gerade dabei, euch eine bessere Bleibe vorzubereiten", meinte sie dann versöhnlich. "Wenn alles soweit ist, hole ich euch dorthin." Sie zögerte einen Augenblick und ergänzte dann langsam mit etwas tieferer Stimme: "Zu mir nach Hause..."
Henry und Anna wagten nicht, etwas dazu zu sagen. Sie schluckten nur nervös.
Die angebliche Großmutter erblickte nun das verwaiste Sandwich auf dem Tisch. "Tss - also wirklich", gab sie missbilligend von sich, "Brotscheiben und Schinken? Mehr hat euch Sophia nicht gebracht?" Sie drehte sich zu ihrer Begleiterin um und meinte mit vollem Verständnis in der Stimme: "Ist ja kein Wunder, wenn ihr da keinen Happen herunterbekommt."
Dann drehte sie sich wieder um, trat an den Tisch und entfernte das Tuch von der Schale, die sie immer noch in der rechten Hand hielt. "Ich habe etwas Besseres", sagte sie dabei.
Kaum war das Tuch fort, strahlten Anna und Henry köstlich verzierte Kekse entgegen, die in der gläsernen Schale verteilt waren und zu einem kleinen Haufen hochgetürmt.
Die beiden Geschwister schluckten, auch weil ihnen Appetit kam. Der leckere Duft, der sich sofort im Raum breitmachte, war unwiderstehlich...
"Frisch gebackene Plätzchen", sagte die ältere Frau geradezu warmherzig und stellte die Schale sanft auf den Tisch. Sie überlegte kurz, dann nahm sie sich selbst wahllos irgendein Stück von dem Haufen und biss herzhaft hinein. "Hhmmm - wirklich köstlich", schwärmte sie mit halb geschlossenen Augen. "Die müsst ihr unbedingt probieren, sonst verpasst ihr was." Sie zwinkerte ihnen einmal zu.
Dann nahm sie den Teller mit dem Sandwich, ging zu Sophia und gab ihn ihr.
"Warum... warum sind wir hier?!", wagte Henry zu fragen. "Und was ist... was ist mit unserer Mummy?"
Sofort drehte die geheimnisvolle Frau sich wieder um. Sie musterte die Geschwister eingehend und wirkte über die Frage verärgert. Als wollte sie nicht antworten.
Urplötzlich bekam sie aber einen freundlichen Gesichtsausdruck und meinte mit einem Lächeln: "Ohh - eurer Mummy geht es gut." Die Stimme säuselte überschwänglich freundlich. "Ja, wirklich - da macht euch keine Sorgen. Und sie wird auch bald hier sein." Überzeugend bewegte sie ihren Kopf dabei hin und her, als wollte sie den Kindern versichern, dass das die reine Wahrheit ist.
Sogleich schauten Anna und Henry verwirrt, doch war nicht zu verkennen, dass in ihrem Blick auch ein Schimmer Hoffnung aufblitzte.
"Es soll doch alles eine große Überraschung werden, wisst ihr?", säuselte die Frau immer noch äußerst freundlich und zuversichtlich. "Und deshalb seid ihr hier. Weil bald etwas ganz Großes an diesem Ort geschehen wird." Ihre Augen glühten für einen Moment regelrecht, so als dachte sie an etwas ganz Freudiges. Als sie bemerkte, dass die Kinder immer noch ungläubig schauten und Fragen in ihren Gesichtern hatten, straffte sie sich etwas und meinte: "Habt noch etwas Geduld, meine Lieben. Schon bald sollt ihr alles erfahren." Sie nickte ihnen mit Bestimmtheit zu, dann drehte sie sich um und bedeutete Sophia, mitzukommen.
Verwirrt und beklommen starrten Henry und Anna der Frau hinterher. Doch die war schon wieder auf dem Flur. Sophia löste sich von der Tür, warf ihnen ein halbherziges Lächeln zu und sagte: "Wir sehen uns dann morgen..." Dann wandte sie sich um und ging ebenfalls hinaus.
Während sie die Tür zuzog, sah die ältere Frau erfreut, wie Anna bereits auf die Kekse starrte. Es würde wohl nicht lange dauern, bis sie zugriff. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Kaum hatte Sophia die Tür verschlossen, drehte sie sich geschwind zu ihrer Begleiterin um und sagte verärgert: "Also in Greenfield hat sie sich verkrochen!"
Der zufriedene Gesichtsausdruck ihrer Begleiterin verschwand. Sie funkelte Sophia böse an. "Wag es ja nicht, Sophia...", knurrte sie mit ihrer sonoren Stimme. "Du wirst nichts unternehmen, hörst du?! Nichts!"
"Aber Tante Dahlia...", erwiderte Sophia und schaute patzig.
"Nichts da!", gab ihr Gegenüber sofort von sich. "Ich will, dass sie hierher kommt! Und das wird sie - verlass dich drauf." Ihr Gesicht wurde wieder etwas sanfter und sie lächelte süffisant. "O ja - das wird sie", wiederholte sie mit prophetischem Tonfall. "Sie weiß ganz genau, wo ihre Kleinen jetzt sind. Und deshalb, Sophia, übe dich noch ein wenig in Geduld. Wenn sie erst hier ist, haben wir sie da, wo wir sie haben wollen." Dahlia gluckste erheitert und fing dann sogar laut zu lachen an. Ein unheimliches Gackern schallte durch den dunklen Flur.
Sophia schnaubte verächtlich und sah ihre Ziehmutter unzufrieden an. Dahlia bemerkte ihren Gesichtsausdruck und wurde wieder ernster. "Du wirst deine Rache schon bekommen, Sophia. Wenn ich erst mit ihr fertig bin, gehört sie dir..." Ein teuflisches Funkeln glomm aus Dahlia's Augen. Da Sophia damit besänftigt schien, wandte sie sich um und ging den Flur hinunter zum Ausgang des Kellers.
Sophia blieb noch einen Moment stehen und dachte sich ihren Teil. So sehr sie Dahlia auch ergeben war - diese Rache konnte und wollte sie nicht länger aufschieben. Verstohlen holte sie ein kleines Bild aus ihrer Brusttasche und starrte es entschlossen an. Darauf war eine Frau mit hellblonden, langen Haaren zu sehen, die ein schwarzes, rituelles Gewand trug. 'Der Tag deiner Vergeltung ist nah, Mutter', sagte Sophia in Gedanken zu dem Bild.
Gleich darauf steckte sie es weg und ging dann erst Dahlia hinterher...
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