Am Abgrund
Sie spähte in die Tiefe. Endlos und schwarz. Wie in jener Nacht, als sie ihn verlor. Seitdem war eine Woche vergangen. Etliche Einsatzkräfte und Spurensuchhunde hatten das Waldgebiet, das sie ihnen genannt hatte, bis auf jedes noch so kleine Indiz durchkämmt.
Nichts.
Und dann soll es diesen Abgrund laut den Konstablern gar nicht geben. Es wurde an ihrer Auffassungsgabe zu dem Zeitpunkt gezweifelt. Und je länger sie auf sie einredeten, desto mehr glaubte sie den Beamten. Zweifelte selbst mehr und mehr an ihren Erinnerungen, die sie in ihren Träumen heimsuchten.
Nacht für Nacht.
Sie hatte keine Beweise, die das Gegenteil darlegen konnten. Auch nur einen handfesten Hinweis auf seinen Verbleib und was sich wirklich in jener Nacht zugetragen hatte. Die allmählich verheilende Wunde an ihrer Unterlippe, die sich schorfig bis zum Kinn zog, zeigte nur zu deutlich, dass ihr Verstand ihr offensichtlich einen Streich gespielt hatte.
Halluzinationen. Nichts weiter.
Einem Mädchen, das einen Schlag auf den Kopf kassiert hatte, war nicht zu trauen – da waren sie sich alle einig.
Und dennoch ... als sie nun so nah am Grab stand und den Blick auf den leeren Sarg heftete, der sich da unten am Grund der gähnenden Öffnung befinden musste – immerhin hatte sie gesehen, wie er in die Grube hinabgelassen worden war –, rieselten Erdklümpchen auf die glänzende Oberfläche des schwarz lackierten Holzes. Und mit dem dumpfen Aufprall der kleinen Brocken blitzten Bilder vor ihrem inneren Auge auf ...
Seine dunklen Iriden mit dem silbernen Ring. Weit aufgerissen. Keuchend, blass und zitternd fixierte er nicht ihr Gesicht, sondern etwas dahinter. Als würde der Tod höchstpersönlich über ihren Schultern aufragen, seine Krallen nach ihm ausstrecken. Doch sie hatte nichts ausmachen können. Nur die dicht aneinandergedrängten Baumstämme, den altbekannten Nebel und Dunkelheit.
Unter seinen Sohlen lösten sich Steine, Grasbüschel und Erde und verschwanden in der Schwärze, die sich hinter ihm auftat. Ohne ein Geräusch stürzten sie in die Tiefe. Genau wie er, als er noch einen Schritt zurückwich.
Verschluckt.
Als hätte er niemals existiert. Dabei konnte sie seine Lippen noch an ihren spüren. Seinen warmen Atem an ihrer Kehle und seine Finger an ihrer Hüfte, an ihrer Wange. Seine seidigen, verlockenden Berührungen. Seine sanften Worte und sein Versprechen ...
Etwas Weißes, Kaltes landete auf ihrer Nasenspitze und schmolz zu einem Tropfen.
Eine Schneeflocke.
Sie hob den Kopf. Den tiefhängenden, grauen Wolken entsprungen fielen immer mehr der weißen Flocken auf die Erde, benetzten ihr Gesicht und kitzelten sie. Flüsterten ihr zu, dass alles gut werden würde. Dass sie ihr den Schmerz nahmen. Obwohl ein Loch in ihrer Brust klaffte, schienen sie es wieder schließen zu wollen.
Eine Träne entfloh ihrem rechten Augenwinkel und rann heiß über ihre kühle Haut.
Beflügelt von diesem winzigen Hoffnungsschimmer griff sie nach dem Spaten und stieß die Spitze erneut in die aufgetürmte Erde neben dem Grab. Die erste Ladung prasselte auf den Sarg, dann die nächste.
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Ein schwermütiges Lächeln zierte ihre Lippen, als sie der Trauergesellschaft den Rücken kehrte.
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