47. Letzte Stunden
Hestis schlug die Zeltplane zurück und betrat das Innere. Seine schweren Stiefel versanken in dem Boden, der von Tierfellen ausgelegt wurde. An dem Stützpfeiler, der in der Mitte des Zeltes aufgestellt worden war und der das Dach aufrecht hielt, baumelte eine Laterne, die alles in ihrem Kegel in dämmriges Licht tauchte.
An der Zeltwand geradeaus zu stand Vaters berühmte Kiste, in der er all das mit sich rum schleppte, was ihm wichtig war.
Hestis war als kleiner Junge immer neugierig gewesen, was sich darin verbarg - er wusste es bis heute nicht.
Sein Vater machte daraus ein riesiges Geheimnis, das er noch nicht gelüftet hatte.
Er saß mit dem Rücken zu ihm, an dem massiven Kirschholztisch, den er einem seiner Untertanen aufgezwungen hatte mitzunehmen.
Seine breiten Schultern waren vornüber gebeugt, das Tuch rutschte sein Kreuz hinab.
Ein Summen verließ seine Kehle. Er hatte immer gesummt, wenn er konzentriert arbeitete.
Hestis räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Langsam ging er um seinen Vater herum, bis er an der gegenüberliegenden Seite der Tischplatte ankam.
Eine Karte lag ausgebreitet auf ihr - darauf abgebildet die verschiedene Reiche der Menschen. Einige waren mit roter Tinte durchgestrichen worden, nur wenige erstrahlten noch in dem blassen Ton des Pergaments.
"Plant Ihr gerade die nächsten Schritte?"
Hestis beugte sich vor, um erkennen zu können, worauf sein Vater so fokussiert war. Ein Brummen antwortete ihm, doch aufblicken tat der Kriegsherr nicht.
Stattdessen fragte er: "Was willst du hier?"
Hestis schwieg. Er war noch nie daran interessiert gewesen, sich mit seinem Vater Schlachtpläne zu überlegen und dies wusste dieser ganz genau.
"Ich will wissen, wie die nächsten Schritte aussehen. Dorias und Jelena dürften bald zu uns stoßen. Es wäre gut, wenn wir bis dahin einen Plan haben."
Nun blickte sein Vater doch auf. Sein Gesicht war voller Hohn.
"Seit wann will den der ehrenwerte Abkömmling des Westens in Besprechungen eingeweiht werden? Hast du dich nicht davor immer gedrückt?"
Hestis biss die Zähne zusammen. Unwohlsein stieg in ihm empor.
Sein Vater rutschte in dem Stuhl zurück, das Knarren, als er sich erhob, ertönte laut. In voller Größe stand er nun Hestis gegenüber und auch wenn ein Tisch sie trennte, war nicht zu übersehen, dass sein Vater ein gutes Stück größer als er selbst war.
Diese ungeheure Ausstrahlung, die er hatte, ließ Hestis bis ins Mark frösteln und er hasste sich dafür, dass sein Vater das noch immer in ihn auslösen konnte.
Bevor er ihm Pech in die Augen geträufelt hatte, hatte Hestis sich eingeredet, sein Vater wäre ihm gegenüber wie ein Hund, der nur laut bellt. Doch dass dieser auch fähig gewesen war, all seine Drohungen wahr zu machen, dass hatte das Bild über ihn geändert.
Er erinnerte sich noch genau, wie die Soldaten, die eigentlich auch ihm unterstanden, ihn abgeführt hatten.
Monatelang hatte er im Kerker gesessen. In der kalten Dunkelheit, in der er sich in jeder Sekunde nach der Sonne gesehnt hatte. Hunger und Durst waren seine ständigen Begleiter und dann war er gekommen. Stand einfach plötzlich vor seinem ausgemergelten Selbst und sprach: "Deine Qual wird nun enden, Sohn."
Hestis glaubte damals wirklich, sein Vater wolle ihn nun endgültig erlösen und er freute sich fast darauf. Er erflehte es regelrecht in der Stille seiner Gedanken.
Doch er hatte anderes vor.
"Ich entlasse dich in die Freiheit, aber in der Dunkelheit wirst du weiterhin verbleiben."
Hestis hatte damals keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, bis sein Kopf gewaltsam festgehalten worden war. Jede Kraft, die er noch hatte aufbringen können, mündete im Nichts und dann spürte er einen Schmerz, der ihn brüllen ließ.
"Ich nehme dir dein Augenlicht, bis du mir beweist, dass du es wert bist, im Licht des Westens zu strahlen."
Genau diese Erinnerung trug nun dazu bei, dass Hestis vor der stattlichen Größe seines Vaters innerlich ganz klein wurde. Er musste seine volle Selbstbeherrschung aufbringen, um den Blick nicht abzuwenden.
Neutral antwortete er: "Ich halte es einfach für sinnvoll, wenn du mich einweihst. Immerhin werde ich irgendwann in deine Fußstapfen treten."
Sein Vater presste die Lippen zusammen, doch dann brach laut schallendes Gelächter aus ihm heraus.
"Du?", spie er aus und schüttelte den Kopf. Er zeigte auf sich, "In meine Fußstapfen?"
Er lachte noch immer, als er sich wieder in den Suhl fallen ließ, der unter seinem Gewicht einen gefährlichen Ton von sich gab.
"Dafür müsste dein alter Herr erstmal das Zeitliche segnen", sagte er, die Stimme noch immer von Gelächter geschwängert. Hestis biss sich von innen auf die Wange bis er Blut schmeckte. Etwas, was er in solchen Momenten immer tat. Es war wie sein Anker, um sich daran zu erinnern, dass er noch immer die Kontrolle über sich hatte.
Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Sein Vater wirkte konzentriert.
"Vielleicht geht das schneller als wir beide ahnen", sprach er in einem Tonfall, den Hestis noch nie von ihm gehört hatte.
"Wie meint Ihr das?", fragte er, während er zum Pfeiler ging und lehnte sich dagegen. Er gab ihm Halt.
"Sowie ich es gesagt habe. Du glaubst an das Bündnis, das wir Herrscher getroffen haben. Ich sage dir, sei vorsichtig. Ihnen ist nicht zu trauen. Vorallem nicht dem Abkömmling Maurios."
Maurios war der vorherige Herrscher des Nordens und Dorias Vater. Nach seinem Tod gelang diese Position an seinen Sohn und auch wenn Hestis es hasst, ihm gehorchen zu müssen, so empfand er ihn bisher nicht so, als könnte man ihm nicht vertrauen. Er hatte ihn aufwachsen gesehen, sah selbst heute noch den jungen Blütler vor sich, der mit der blonden Schönheit Fangen gespielt hatte, wenn Herrscherfamilien zu irgendwelche Festlichkeiten geladen hatten.
"Dorias ist noch jung", widersprach Hestis kopfschüttelnd.
"Das hat keine Bedeutung", donnerte sein Vater in alter Manier plötzlich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
"Alter hat keine Bedeutung! Dieser Junge könnte uns beiden noch verdammt gefährlich werden oder glaubst du etwa, dass er keinen Schuldigen für das Attentat auf seinen Vater sucht?"
Verständnislos sah Hestis ihn an.
"Selbst wenn, was haben wir damit zutun?"
Der stämmige Blütler lachte bitter auf.
"Cenros weiß wunderbar seine Fäden zu spinnen. Ich bin mir sicher, dass er sich Maurios und meine Fehde gut zu Nutze macht und Dorias irgendwelche Flausen in den Kopf setzt."
Hestis seufzte innerlich. Sein Vater war schon immer misstrauisch, ja geradezu paranoid. Er sah hinter jedem Gesicht das eines Feindes - selbst seine Mutter und er blieben davor nicht verschont.
Diese Fehde war nur ein weiteres Hirngespinst. Maurios war anders als sein Sohn schon immer ein sehr verschlossener Blütler gewesen, der nur dann geredet hatte, wenn es unbedingt nötig war. Etwas, was seinem Vater immer missfiel. Hestis hatte den Eindruck, dass sein alter Herr insgeheim Angst davor hatte, wenn er jemanden nicht einschätzen konnte und Maurios war für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln.
"Sei einfach vorsichtig, dass du nicht auf die anderen Herrscher hereinfällst und lass dich bloß nicht von Alter täuschen."
Sein Vater klang derart bittend, dass Hestis es nun war, der bitter auflachte.
"Seit wann interessiert Euch mein Wohl?"
"Du bist mein Sohn und trittst irgendwann in meine Fußstapfen. Auch wenn ich es nicht will, der Tag wird kommen."
Hestis wusste nicht, ob er verärgert oder verletzt sein sollte.
Ohne nachzudenken, sprudelte es aus ihm heraus: "Sei dir gewiss, dass ich im Gegensatz zu dir ein guter Herrscher sein werde, der sein Volk beschützt und die, die ihm nahe sind, nicht hintergehen oder gar quälen werde."
"Das gleiche sagte ich damals meinem Vater", erklang es gemurmelt, aber da war Hestis bereits aus dem Zelt gestürmt und ließ seinen Vater alleine zurück.
Es war das letzte Mal, dass er ihn gesehen hatte.
Sein Vater hatte Recht. Nur war es nicht der Tag, der gekommen war, sondern die Nacht.
Ohne es zu wissen, hatte Hestis ihn in den letzten Stunden seines Lebens gesehen.
In jener Nacht wurde er zum Herrscher, ohne dass er nur den Hauch davon mitbekommen hatte und am nächsten Tag war er derjenige, der Befehle in einem Krieg erteilte, den er nicht führen wollte.
Plötzlich ergaben all die Warnungen seines Vaters einen Sinn.
Als sich der Bund zu Matius formte, war er nur knapp mit dem Leben davon gekommen und dieser einfältige Mensch, er hatte ihn gerettet, indem er für ihn tötete.
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