46. Graue Blütenblätter

Einst war dieses Tal grün und stand in voller Blüte.
Die Menschen hatten hier Obstplantagen. Als sie hier einmarschiert waren, empfang sie der fruchtige Geruch von Orangen.

Die Bäume standen gerade in ihrer Blüte. Ein weißes Meer, das sich bis zu den Hängen des Tals ausbreitete.
Kleine Hütten standen inmitten dieser blühenden Pracht. Der fruchtige Geruch vermischte sich mit dem von frisch gebackenen Brot.

"Wie friedlich", hatte er noch gedacht, als er an deiner Seite seines Vaters das saftige Gras betrat.
Sein Vater war ein stattlicher Blütler, von kräftiger Figur. Über seinen breiten Schultern trug er immer ein rotes Tuch. Einst war es weiß, doch mit jedem menschlichen Leben, das er nahm, wurde es immer mehr eingefärbt.
Seitdem sie in Mistis eingefallen waren, war kaum noch zu erkennen, dass es jemals eine andere Farbe trug.

Sein Vater grinste, als er sah, dass sich ihm augenscheinlich keine Gegenwehr bot. Er drehte sich zu ihm um und sagte: "Das wird ein Leichtes." Dabei entblößte er seine schneeweißen Zähne.

Sein Vater war schon immer ein gepflegter Blütler, der trotz des Krieges, den er hier führte, immer auf sein Äußeres achtete.
Seine schwarzen, welligen Haare trug er zu einem Zopf, sodass ihm nie die Sicht behindert wurde, wie er zu sagen pflegte.
Er war in Klatis häufig bei Madame Miulina, einer Blütlerin, die ihre Berufung darin fand, sich um die äußerliche Schönheit zu kümmern.
Mit diversen Wässerchen und Tinkturen versuchte sein Vater seit ewigen Zeiten die Narben, die seinen Körper entstellten, verschwinden zu lassen. Vorallem die unter seinem Auge, die er sich in einem Kampf gegen den Norden zugezogen hatte.

Doch was sein Vater nicht verstand. All seine Bemühungen waren umsonst. Schönheit kommt nicht von außen.
Und deswegen hat sein Vater sein Ziel auch niemals erreicht.

Hestis erinnert sich, dass er genau daran gedacht hat, als eine der Hüttentüren aufging und ein Junge herausgelaufen kam.

Er war von schlacksiger Figur, als würde er nicht genug zu essen bekommen. Die Arme und Beine waren spindeldürr. Das Shirt, was er trug, viel zu groß geraten an dem schmächtigen Jungenkörper.
Er war vielleicht gerade erst zehn Jahre alt. Sein Gesicht, von Dreck und Schmutz, verkrustet, zeigte bloße Überraschung, als er sie sah - Die Macht an Blütlern, die vom Hang gekommen waren, an deren vorderster Front ein Berg von Soldat stand, der ein rotes Tuch über die Schultern trug.

Hestis sieht noch, als wäre es gestern gewesen, wie sich die Augen des Jungen geweitet haben, sich sein Mund zu einem Schrei geöffnet hat... und sein Vater vorgeschossen ist.

Der Schrei gelang nicht ins Freie. Das Gurgeln hingegen schon. Mit einem dumpfen Geräusch fiel der schmächtige Körper zu Boden.
Triumphierend richtete sich sein Vater auf und wischte sich das Blut seiner ausgefahrenen Fingernägel am Tuch auf seiner Schulter ab.

Er hob die Arme, als würde er die Welt umarmen und schrie aus voller Kehle den Untergang des friedlich darliegenden Tals herbei.
Seine Stimme glich einem Donnergrollen, als dieses eine verheerende Wort seine Kehle verließ.
"Angriff!"

Die Soldaten hinter Hestis antworteten mit Geschrei und stürmten an ihm vorbei. Einige von ihnen nahmen ihre Ursprungsform an. Tiger, Schlangen, Wölfe. Es gab kaum ein Tier, das sich nicht in den Horden der Blütler wiederfinden ließ.

Knurren wurde laut, das Reißen von Stoff. Donnern erfüllte die Luft, als die wunderschönen Bäume samt Wurzeln aus dem Boden gerissen und als Wurfgeschoss genutzt wurden.
Die Hütte, aus der der Junge kam, brach in sich zusammen. Die Dachschindeln verteilten sich laut krachend über die Wiese. Staub wirbelte wie eine Flutwelle auf. Blütenblätter stoben auseinander.

Alles wurde dem Erdboden gleich gemacht, während die Orangenblüten leise zu Boden segelten. In das gewaltige Geschrei der Blütler mischten sich nach und nach die Schreie des Schmerzes, das Kreischen der Angst und das Flehen um Gnade.

Doch wenn sein Vater eines nie besessen hat, dann war es das.

Blut und Staub färbten den Boden ein, der aufgefurcht wurde, als würden Sterne vom Himmel regnen. Doch das was auf der Erde zurückblieb, waren die zarten weißen Blüten, die all ihre Unschuld verloren, als ihre Blättchen sich rot färbten wie das Tuch seines Vaters.

Hestis blieb einsam auf dem Hang stehen und betrachtete mit einer seltsamen Ruhe den Zerstörungswillen seiner Art. Sein Blick schweifte von Ort zu Ort, bis er an dem Jungen hängen blieb.
Das Kind sah ihn an.

In seinen Augen stand noch immer die Überraschung. Hestis wusste nicht, ob es die Überraschung war, einem so übermächtigen Gegner begegnet zu sein oder ob sie daher rührte, dass sein junges Leben so schnell endete.

Er ging näher heran, hockte sich vor das Kind hin und betrachtet es genauer. Das rabenschwarze Haar stand zu allen Seiten ab. Unter dem Dreck auf den Wangen konnte er winzig kleine Sommersprossen erkennen.

Sein Blick fiel wieder auf die Augen des Jungen. Anstatt Überraschung stand in ihnen nun ein stummer Vorwurf. Zumindest hatte er den Eindruck.
Als klammerte sich die Seele noch an den Körper, als fragte sie:

"Warum? Warum tut ihr uns das an?"

Selbst wenn er wollte, hätte er ihm keine Antwort geben können. Mit einer hauchzarten Berührung schloss er die Augen des Kindes und nahm sich einen Moment Zeit. Er blendete alles um sich herum aus, während er in der Dunkelheit seiner Gedanken still um Verzeihung bat.

~•~

Das Tal, wie er es betreten hatte, existierte nicht mehr. Die wunderschönen Obstbäume lagen überall wie Mahnmale der Zerstörung herum. Die Blüten erstrahlten nicht mehr, sondern waren ergraut und trostlos. Der fruchtige Geruch war nur noch eine Erinnerung. Rauch und Tod hing über dem kleinen Fleckchen Erde.

Die saftige grüne Wiese war aus dem Erdreich gehoben worden. Verbrannte Asche, wohin das Auge auch blickte, Trümmerteile wie Trittsteine verteilten sich auf dem Untergrund und all diese Leben, die genommen wurden, türmten sich zu Bergen auf.

Hestis war das erste Mal an der Front in dem Krieg, den sein Vater mit den anderen Herrschern gegen die Menschen führte und er hatte nicht damit gerechnet, wie wehrlos sie waren. Wie Neugeborene.
Sie hatten keine Chance.

Als die Herrscher als Kundschafter das erste Mal in Mistis angekommen waren, hatten sie um Aufnahme gebeten. Sie wollten mit den Menschen leben, doch diese lehnten ab.
Zu gierig waren sie gewesen ihr Land und ihre Ernten mit den Neuankömmlingen zu teilen.

Wenn Hestis an das Gesicht des Jungen dachte, konnte er das kaum glauben. In ihm stand soviel Unschuld. Doch Dorias hatte ihm genau das gesagt, als er über das gewaltige Meer nach Klatis zurück gekommen war, um die Soldaten zum Krieg aufzurufen.

Er, der so viel jünger war als Hestis, war schon Herrscher seines Reiches. Er hingegen, dessen Vater noch unter den Lebenden verweilte, hasste es dem Norden gehorchen zu müssen, nachdem sie zu Verbündeten geworden waren.

Der Aufruf zum Krieg hatte diverse Fragen in ihm ausgelöst und all jene wurden von Dorias so knapp beantwortet. Nach seiner Erzählung mussten die Menschen unfassbar egoistisch und gierig sein.

Und dennoch hatten sie so eine schöne Obstplantage angebaut und der Junge war die reine Unschuld. So schlecht konnten die Menschen nicht sein, hatte er gedacht.

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