42. Besiegelt

"Was tut Ihr da?"
Meine Stimme ist von Überraschung geschwängert und meine Augen werden groß.
Hestis steht in seiner vollen Größe vor mir und beißt sich in die Unterlippe. Ein kleine Öffnung entsteht, aus der ein einzelner goldener Tropfen perlt.

"Ich hoffe, das war eine Erinnerung, mit wem du es zutun hast." Er überbrückt den Abstand zwischen uns, sodass er mir so nah ist, dass ich nicht mal den Arm ausstrecken müsste, um seine Brust zu berühren.

Die Narbe, die Hestis Gesicht teilt, sieht aus der Nähe noch viel unheimlicher aus und unwillkürlich frage ich mich, wer ihn so gezeichnet hat. Auf dem Gemälde, das Nila mir gezeigt hat, hatte er diese nicht.

Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, doch ich hebe die Hand. Meine Finger schweben in der Luft und kurz bevor sie seine Wange berühren, halte ich inne.
"Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten." Ich lasse meine Hand sinken und sehe einfach nur zu ihm hinauf.

Hestis beugt sich zu mir, sein Gesicht kommt dem Meinen immer näher und auch wenn meine innere Stimme flüstert, zurückzuweichen und ich den Drang in meinen Beinen verspüre, so bleibe ich an Ort und Stelle stehen.

Sein Gesicht ist meinem nun so nahe, dass ich jede Einzelheit in ihm studieren kann. Die glatten Ränder der Narbe, seine rosanen Lippen und die blasse Haut, die im starken Kontrast zu seinen Augen steht.
Diese dunklen Welten, die sich eröffnen, erinnern an die tiefe See bei Nacht, wenn Wolken jeden noch so kleinen Stern und selbst den Mond hinter sich verbergen - sie erinnern an Leere, aber auch an Unendlichkeit.

"Willst du wissen, warum meine Augen schwarz sind?"
Der Hauch seiner Stimme streichelt meine Nasenspitze, während mein Herz zu flattern beginnt wie ein kleiner Kolibri.
Unfähig zu antworten oder gar meine Stimme verlauten zu lassen, sehe ich ihn weiter einfach nur an.

Ich weiß nicht, ob ich es wissen will. Es ist etwas, was ich einfach so hingenommen habe und was als Merkmal zu ihm gehört wie die individuelle Augenfarbe eines jeden Einzelnen. Doch es scheint ihm wichtig zu sein: Warum sollte er sonst diese Frage stellen?

Zittrig atme ich aus und schaffe es ganz langsam mein Kinn nach unten zu neigen.
Kurz meine ich in seinen Gesichtszügen Traurigkeit durchschimmern zu sehen - nach unten gezogene Mundwinkel und Falten um seine Augenpartie herum, doch bevor ich mir dessen wirklich sicher bin, entspannt sich sein Gesicht wieder.

"Einst hatte ich so grüne Augen wie ich Haare habe", beginnt er flüsternd und jeder seine Atemzüge streichelt warm über meine Wangen.
"Als ich jung war, war ich ein Windfang, den es zu bändigen gilt. Als Strafe ließ mein Vater heißes Pech in meine Augen träufeln. Ich erblindete."

"Euer Vater tat dies?"
Fassungslosigkeit nimmt mich gefangen. Wie kann man seinem eigenen Kind nur so etwas antun?
"Mein Vater nahm mir mein Augenlicht, um mir meine Tatkraft zu nehmen."

"Was tatet Ihr, dass Ihr so ein Schicksal verdient?", hauche ich.
"Seine Autorität als Herrscher untergraben. Er hat nicht geherrscht. Er hat nur für den eigenen Wohlstand gesorgt, wie es seinem Volk ging, war ihm gleich." Bitterkeit zeichnet sein Gesicht.
"Ich habe mich aufgelehnt. Erst durch kleine Gaben an das Volk, dann durch Aufwiegeln dessen."

Ich kann die Nähe zu Hestis nicht mehr aushalten und trete einen Schritt zurück. Er lässt es geschehen, ohne es zu kommentieren.
"Ihr seid blind?", frage ich nach und merke selbst, wie dümmlich ich mich dabei anhöre.
Er schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht.
"Mein Augenlicht gab er mir wieder. Doch die Schwärze nahm er mir nicht. Sie ist wie ein Mahnmal, das mich daran erinnern soll, wer ich bin."

"Und wer seid Ihr?", entschlüpft es mir ehe ich es verhindern kann. Innerlich stelle ich mich schon darauf ein, dass sein Gesicht wieder diese Eiseskälte annimmt, doch ein ausdrucksloser Zug erscheint. So als hätte er innerhalb weniger Wimpernschläge jede Regung verbannt.

"Ist das nicht klar?" Hestis legt den Kopf in den Nacken und blickt gen Zimmerdecke. Ohne mich anzusehen, sagt er: "Der Herrscher des Westens."

Ich beiße mir auf die Unterlippe und flüstere: "Das seid Ihr, ja. Aber wer Ihr seid, entscheidet Ihr selbst. Nicht Eure Stellung."
Er neigt den Kopf ruckartig nach unten. Strähnen seines Haares fallen ihm dabei in die Stirn, verbergen das linke Auge zur Hälfte.
"Willst du gerade an meine Moral appellieren?" Er grinst hämisch, was mich einen weiteren Schritt zurückweichen lässt.

Ich schüttel langsam den Kopf.
"So sehe ich das einfach", versuche ich die Situation zu retten, die sich schon wieder dahin wandelt, dass die Spannung zwischen uns zunimmt.
"Weise Worte aus dem Mund von jemandem, der keine Macht besitzt."
Hestis macht ein langen Schritt und steht, für meinen Geschmack, schon wieder viel zu nah an mir dran.

Das zarte Flattern meines Herzens wandelt sich in ein Pumpen.
"Warum erzählt Ihr mir das alles, wenn ich dazu meine Meinung nicht äußern darf?"
Meine Stimme verlässt klar und kraftvoll meine Kehle, auch wenn ich mich nicht ansatzweise so fühle.

Die Gespräche mit Hestis sind riskant. Jedes falsche Wort kann die Atmosphäre zum Kippen bringen, dennoch fällt es mir schwer an mich zu halten, auch wenn es sicherlich klüger wäre, so komme ich einfach nicht aus meiner Haut.

"Um dich daran zu erinnern, dass in meiner Welt selbst der innigste Bund kein Garant für Sicherheit ist. Hier geht es ausschließlich darum, die eigene Position zu sichern und Macht zu erlangen." Hestis macht einen weiteren Schritt und der Abstand wird noch kleiner.

"Also wollt Ihr mir sagen, dass ich Euch nicht vertrauen darf?" Meine Stimme schwebt wie ein zarter Hauch durch den Raum.
Hestis beugt sich wieder zu mir herab. Mein Blick klebt an seinen Lippen, die immer näher kommen.

"Du solltest niemanden vertrauen. Nicht mir und schon gar nicht dem Hof des Nordens" und mit diesen Worten legt er seine Lippen auf meine.

Ich zucke zurück, doch wie eine Schlange schnellt Hestis Hand vor, umgreift mein Handgelenk und hält es wie in einem Schraubstock fest.
Der Druck, der meinen Arm zusammenquetscht, bringt mich zum Stöhnen. Mein Mund öffnet sich. Plötzlich fühle ich etwas weiches eindringen und jeden Millimeter erkunden.
Seine Zunge schmiegt sich an meine und gleitet an meinen Zahnfleisch und an den Innenseiten meiner Wangen entlang.

Ein Schauder nach dem nächsten jagt meinen Rücken hinab. In meinen Magen rumort es.
Ich versuche den Kopf wegzudrehen, meinen Oberkörper nach hinten zu neigen und greife mit der freien Hand immer wieder ins Leere.

Hestis umschlingt mich wie eine Schlange ihre Beute. Nimmt mir jegliche Bewegungsfreiheit und schiebt dabei seine Zunge immer weiter in meinen Rachen hinein. Ich würge. Tränen sammeln sich in meinen Augen, während ich hektisch durch die Nase ein- und ausatme.

Ein kleiner Blitz jagt durch meine Unterlippe. Wie ein Besessener beginnt er seine auf meiner zu reiben.
Mein Herz bollert in meiner Brust und schwillt zu einem stetigen Rauschen in meinen Ohren an.

Ich kann nicht mehr denken. In mir reagiert die reine Panik, der Wille dieses Untier auf Abstand zu bringen. Die wenige Bewegungsfreiheit, die ich habe, nutze ich. Wie ein Aal winde ich mich hin und her.
Tränen rinnen mittlerweile ungehemmt meine Wangen hinab, hinterlassen eine heiße Spur, die ich aber gar nicht mehr richtig wahrnehmen kann, weil mein Körper von einer Hitze ergriffen wird, die mich von innen heraus verbrennt.

Als ich das Gefühl habe, völlig meinen Verstand zu verlieren, lässt Hestis von mir ab. Ungebremst gehe ich in die Knie, kann meinen Sturz gerade noch so mit den Händen abfangen. Rasselnd entkommen lange Atemzüge meine Kehle, während ein fremdes Gefühl von mir Besitz ergreift.
Scham füllt jede Zelle aus. Ein Zittern durchläuft meinen Körper. Noch immer habe ich das Gefühl, seiner Zunge in meinem Mund.

Ein Schluchzen entkommt meinen aufgerauten Lippen.
Langsam hebe ich den Blick, sehe durch den Tränenschleier die Kontur des Herrschers.
Abscheu mischt sich in die Scham. Eine Abscheu vor ihm, aber auch vor mir selbst.

"Warum habt Ihr das getan?"
Schwach ertönt meine Stimme, obwohl ein Feuer in mir beginnt zu lodern.
"Mir war danach", antwortet er geradezu gelangweilt und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. Mit Argusaugen beobachtet er, wie ich weiter von ihm wegrutsche bis mein Rücken an den Bettpfosten stößt.

"Euch war danach?", echoe ich fassungslos und schüttle den Kopf.
Er nickt und betrachtet seine Fingernägel, als würde er kontrollieren, ob sie sauber sind.

"Wie gesagt..." Er blickt von seiner Hand auf. "Als kleine Erinnerung, dass es keine Sicherheit gibt. Doch du hast dein Ziel erreicht. Gratulation - nun ist unser Handel besiegelt."

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