41. Ausgeliefert

"Angefangen hat alles fernab von der Hauptstadt Wenterra's. Ich lebte mit meinem Vater und meiner..."
"Soweit musst du nicht zurückgehen. Beginn bei dem Moment, als du mit uns in Berührung kamst", unterbricht mich Hestis.
Ich schnaufe, komme seinem Wunsch aber nach.

"Ich hörte die Klagelaute eines Bärenjunges, das in einer Falle saß und befreite es daraus. Damit begann es", erinnere ich mich und schließe die Augen. Ich sehe mich selbst von der Lichtung stiefeln und mit Schrecken feststellen, dass der Bär mir folgt.
"Ich gab ihm daraufhin ein Stück Fleisch und es verschwand. Doch ich begegnete ihm erneut und er führte mich zu einer Lichtung. Erst sah ich nicht, was geschieht, doch als ich die Schutzbarriere berührte, verschwand sie un-"
"Du konntest sie anfassen?", unterbricht mich Hestis. Ich schlage die Augen auf und sehe ihn verwirrt an.
"Sie war fest wie Glas."

"Interessant", murmelt er, während sein Blick gen Boden schweift und dort eine Weile verharrt.
"Ist das so ungewöhnlich?", frage ich dümmlich nach, während ich ihn genau beobachte.

Das Tageslicht, das durch das Fenster neben ihm dringt, bringt seine grüne Haarpracht zum Glitzern. Seine Haare erinnern mich an die Wiese hinter unserer Hütte. Wenn morgens noch unzählige kleine Tröpfchen auf den langen Halmen lagen und die ersten Sonnenstrahlen diese wie unzählige Diamanten erstrahlen ließen. Da wusste ich, dass Mutter Natur eine neue Jahreszeit anstimmt.

"Es ist nicht nur ungewöhnlich, sondern unmöglich", beantwortet Hestis meine Frage, während seine Augen mich erneut mustern, als suche er die Antwort an mir.
"So ist es geschehen. So habe ich den Kampf erblicken können. Diese unsichtbare Barriere löste sich einfach auf", gebe ich von mir und merke selbst, dass es danach klingt, als wolle ich ihn davon überzeugen.

Hestis schüttelt derweil den Kopf.
"Kein Blütler, nicht mal ein Goldblütler kann durch Hand auflegen einfach einen Schutzzauber deaktivieren, geschweige denn ihn überhaupt berühren. Davon habe ich noch nie gehört."
Ich blase die Wangen auf und lasse die Luft langsam entweichen.
"Was bedeutet das?", frage ich und rutsche näher an die Bettkante heran, um meine Füße auf den Boden zu stellen.

"Entweder bist du ein außergewöhnlicher Mensch", beginnt er langsam und schiebt direkt hinterher: "Wovon ich nicht ausgehe oder irgendjemand spielt mit falschen Karten. Es fragt sich nur, wer das ist."

Sein Satz klingt offen nach und plötzlich legt sich eine Stille über uns, in der wir unseren eigenen Gedanken nachhängen.
Dass was Hestis da sagt, kann alles und nichts bedeuten.

Irgendwer spielt mit falschen Karten.
Was soll das heißen? Warum? Wofür?

"Aber lassen wir diese Frage erstmal offen. Wie ging es weiter?"
Ich bin fast froh, dass er das Gespräch wieder aufnimmt und meine innerliche Fragerunde unterbricht.

"Ich wurde in den Kampf mit den gelben Männern verwickelt-", beginne ich und werde direkt unterbrochen. Wenn meine Erzählung in der Geschwindigkeit weiter geht, sitzen wir in zwei Tagen noch hier.
"Sahen sie aus, als hätten sie ausgekugelte Gelenke?"
Ich nicke einfach. Dass Hestis alles bis ins kleinste Detail verstehen will, irritiert mich. Ich habe gedacht, es ginge ihm lediglich darum, Informationen gegen Dorias zu erlangen, doch scheinbar steht da noch mehr hinter als der bloße Besitz. Nur was?

"Jelenas Späher eindeutig." Hestis nickt, als wolle er seine Worte bestätigen.
"Was wollten sie in Wenterra?"
Eine Frage, die mir schon länger auf der Zunge gelegen hat. Warum waren sie überhaupt dort, an diesem Tag und zu dieser Zeit?

Ich habe am Hof des Nordens zwar meine Erinnerung zurück erhalten, aber wirkliche Antworten habe ich nicht bekommen. Warum eigentlich nicht? Ich habe ständig gefragt, doch meist ist irgendjemand gekommen und hat dafür gesorgt, dass meine Fragen unbeantwortet geblieben sind. Wie Keanan, der Nila unterbrochen hat und von fehlenden Vertrauen sprach. Wie lächerlich diese Aussage im Nachhinein ist.

Dieses Stück für Stück meine Erlebnisse durchgehen beantwortet mir mehr, als es alle Gespräche mit Nila es getan haben. Ich habe durch sie viel über die Blütler erfahren, aber diese Informationen standen nie im Zusammenhang mit dem, warum ich hier bin. Keiner von ihnen hat mir gesagt, dass es unmöglich ist einen Schutzzauber zu deaktivieren. Warum nicht? Müsste das für sie nicht auch ungewöhnlich gewesen sein? Kinu und Nila waren immerhin dabei.

"Bist du wieder hier?", reißt mich Hestis Stimme aus meinen Gedanken.
Irritiert sehe ich auf. Er grinst mich amüsiert an.
"Wusstest du, dass du deine Finger massierst, wenn du nachdenkst?"
Überrascht blicke ich auf meine Finger herab und tatsächlich, die rechte Hand liegt auf der Linken.
Wie aufmerksam er ist...

"Um deine Frage zu beantworten und ich hoffe, dass du meine Ehrlichkeit als kleinen Vertrauensbeweis nimmst...", beginnt er und ohne dass ich so richtig darüber nachdenke, unterbreche ich ihn.
"Warum seid Ihr so freundlich zu mir?"

Seine Worte haben mich überrascht. Er will, dass ich ihm vertraue. So hatte ich den Herrscher des Westens nicht eingeschätzt. Vor 1000 Jahren hat er gemeinsam mit den anderen Herrschern die menschliche Rasse fast ausgelöscht. Seine Untertanen werden für die kleinsten Vergehen bestraft. Für ihn dürften Menschen sicherlich noch weniger wert sein, als Silberblütler und dennoch sitzt er hier und versucht mein Vertrauen zu erlangen.

"Du hast anderes gehört?"
Plötzlich nimmt sein Gesicht eine Neutralität an, die mir eine Gänsehaut verursacht.
Dennoch nicke ich.
"Alles, was du von mir gehört hast, entspricht der Wahrheit." Sein Tonfall klingt bitter.
"Dennoch bin auch ich in der Lage dazu einen guten Ton anzuschlagen."

"Wenn ich Euch begegnet wäre, ohne Informationen..." Ich lasse den Satz offen nachklingen.
Hestis betrachtet mich tadelnd, "Stell keine Fragen, auf die du keine Antwort haben willst. Und du weißt es doch schon, oder?"

Mein Herz schlägt einen Takt schneller. Was weiß ich schon? Eigentlich nicht viel. Doch die Frage muss er mir nicht beantworten. Ich sehe es an seinem Blick und dieser unfassbaren Kühle in seinem Gesicht, mit der er mir entgegen blickt.

Er hätte mich getötet.

Ich muss höllisch aufpassen, dass ich mich von seinem guten Ton nicht blenden lasse - darf nicht vergessen, woran er interessiert ist und was er bereit ist dafür zutun. Vor mir sitzt ein Blütler, der aber immer ein Arraris sein wird. Ein Name, der aus Angst und Schrecken geboren worden ist.

"Willst du deine andere Frage noch beantwortet bekommen oder können wir weitermachen?" Seine Stimme klingt derart gelangweilt, dass ich kurz überlege auf meine Antwort zu verzichten, doch genau so habe ich am Hof des Nordens gespielt. Das wird mir kein zweites Mal passieren.
"Ersteres", antworte ich ihm.

"Jelena schickte ihre Späher, um zu kontrollieren, wie deinesgleichen die Kunde über einen bevorstehenden Krieg auffassen."
Mein Mund formt sich zu einem O. Mir bleibt im wahren Sinne die Spucke weg, während mein Herzschlag sich beschleunigt.
"Meist junge Männer, die sich von ihrer Schönheit betören lassen." Hestis spuckt aus, als hätte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

Meine Augen weiten sich. "Junge Männer?"
Plötzlich werden meine dunklen Gedanken von einem Bild erhellt, das sich wie ein heißes Eisen eingebrannt hat.
Angst blickt dem Abgrund entgegen, als er näher kommt. Das Geräusch als würde ein Sack Mehl auf dem Boden aufprallen hallt in meinen Ohren wieder.
Erneut ergreift mich Übelkeit.

Die Auslöschung steht kurz bevor!, hat der Dachtänzer über die Köpfe der Dorfbewohner gerufen, die für ihn nichts als Ablehnung übrig hatten.

"Jelena plant schon seit Ewigkeiten Wenterra einzunehmen und verwickelt immer mal wieder arglose Menschen in ihre Spielchen, um zu überprüfen wie groß die Wachsamkeit der Landesbevölkerung ist", erklärt Hestis. Mir wird schwer ums Herz, als ich an die Angst im Gesicht des Dachtänzers denke.

Was haben seine Augen gesehen haben müssen, dass er auf das Dach gestiegen ist und versucht hat, die Menschen zu warnen. Alle hielten ihn für verrückt, mich eingeschlossen - etwas, was mich nun beschämt, wenn ich daran denke, dass er genauso wie ich zum Spielball der Blütler geworden ist.

"Warum greift sie Wenterra dann nicht einfach an? Warum diese Spielchen? Ihr kann es doch egal sein, ob die Menschen noch an einen Krieg glauben oder nicht. Sie ist jedem Menschen überlegen!", mache ich mir plötzlich Luft und versuche so das schlechte Gewissen zum Verstummen zu bringen.
"Ihr Menschen seid auch nicht der Grund, warum sie sich nicht traut. Es sind die anderen Herrscher. Vor ihrem Gegenwind fürchtet sie sich."

Verständnislos sehe ich ihn an.
"Warum dann Menschen mit reinziehen, wenn es gar nicht um sie geht?"
Ich verstehe es nicht - ich verstehe diese Wesen nicht. Das macht doch keinen Sinn.

"Jelena spielt nicht nach den Regeln der Logik oder gar der Vernunft", antwortet er, als hätte er meine Gedanken gehört, "Sie ist unberechenbar und ich unterstelle ihr schon seit langem, dass ihr schlicht einfach langweilig ist. Uns restlichen Herrschern ist bewusst, dass sie alle 100 Jahre mal einen Menschen in ihr Reich lockt. Was sie mit ihnen da anstellt, kann ich nur erahnen. Einige von ihnen lässt sie entkommen und schickt dann ihre Späher hinterher. Das ist der Ablauf, was sie damit bezweckt, kann ich dir nicht sagen und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht."

"Warum nicht?", entschlüpft es mir ohne ich es verhindern kann.
Hestis seufzt: "Solange sie meine Grenze nicht übertritt, ist es mir gleich, was sie so anstellt."
"Sollte Euch das wirklich so egal sein? Immerhin seid Ihr mit Wenterra verbunden. Ihr sterbt, wenn König Maximilian stirbt."

König Maximilian regiert Wenterra zur Zeit und ist ein direkter Nachfahre von König Matius. Sowie ich es verstanden habe, dürfte er momentan den Bund zu Hestis tragen.

"Dafür der Pakt", widerspricht Hestis und fügt hinzu: "Und die Tatsache, dass abgesehen vom Toten Tal, Dorias und meine Herrschaftsgebiete an Wenterra grenzen."
"Und dennoch kann Jelena Wenterra betreten. Wer sagt Euch, dass sie nicht einfach irgendwann angreift? Seid Ihr so von Euch und Eurer Einschätzung überzeugt, dass Ihr diese drohende Gefahr nicht wahrnehmt?"

Erst als meine Worte verklungen sind, wird mir bewusst, was ich da gerade gesagt habe. Die Stille ist drückend, angespannt und liegt viel zu schwer auf meinen Schultern. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, werde ich unruhiger.

Gespannt sehe ich in Hestis Gesicht, sehe wie es in ihm arbeitet. Seine Kiefermuskeln treten hervor und seine Augen formen sich zu Schlitzen.
Mein Herzschlag beschleunigt sich merklich, als er langsam aufsteht und auf mich zu tritt.
Jeder Schritt kommt einer Drohung gleich.

Ich rutsche zurück, spüre die Seiden-Decke unter meinen Fingern - dieser glatte Stoff, der jetzt dafür sorgt, dass meine Hände immer wieder abrutschen, obwohl ich sie fest auf die Matratze drücke.
Mit den Beinen strampel ich, sodass ich Stück für Stück bis zur anderen Seite des Bettes komme.

Der Herrscher des Westens folgt mir. An der Bettkante angekommen, macht er einen langen Schritt, steigt auf das Bett hinauf und läuft einfach weiter.

"Ich- Es- Ich wollte nicht-", entkommt es mir zusammenhanglos, als ich weiter nach hinten rutsche. Er ist nun an meinen Füßen angekommen, die ich direkt zurückziehe.
In seinem Gesicht steht eine derartige Kälte, dass mein Herz mir aus der Brust springen will. Mein Atem wird immer dünner. So muss sich ersticken anfühlen.

"Ich- Bitte- Aaahh!"
Es rumst, als ich mit dem Rücken voraus Bekanntschaft mit dem Parkett mache. Doch anstatt liegen zu bleiben, rappel ich mich auf und taumle zur Tür.

Was habe ich mir dabei gedacht so mit ihm zu reden?

Kurz vor der Tür, kreische ich erschrocken auf und taumle zurück. Da steht er und wartet auf mich. Ich nehme die Fäuste hoch, auch wenn es aberwitzig ist, überhaupt den Versuch einer Verteidigung zu unternehmen. Er ist gerade an mir vorbei gelaufen, ohne dass ich es überhaupt mitbekommen habe. Er ist mir in vielerlei Hinsicht überlegen und dennoch kann ich nicht anders, als meine zitternde Hände zu Fäusten zu ballen und sie schützend vor mich zu halten.

"Ich habe Euer Wort", erinnere ich ihn, mittlerweile kaum noch fähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Er grinst, er grinst tatsächlich.

"Mein Wort ist nichts wert. Es ist der Schwur."

"Aber Ihr habt geschworen", gebe ich von mir und spüre wie das Adrenalin heiß durch meine Adern gepumpt wird. Meine Arme beginnen zu zittern.

"Ich habe dir mein Wort gegeben", er grinst noch breiter, "Aber besiegelt haben wir es nicht. Hat die Winterbärin dir nicht erklärt, dass der Schwur ein Blutschwur ist?"

Ich brauche einen Moment bis mir bewusst wird, was er da sagt und vorallem, was es bedeutet.
Mein Mund öffnet sich, doch ohne dass auch nur ein Ton ihn verlässt.
Bodenloses Grauen umspült mich und reißt mich wie ein Stück Treibholz auf hoher See davon.

Ich bin ihm komplett ausgeliefert.

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