38. Das Ende so nah

Übelkeit ergreift von mir Besitz, als mein Blick die Wand herunter schweift. Auch wenn das Zimmer nur im ersten Stock liegt, so geht es auf der Rückseite des Schlosses viel tiefer runter, als auf der Vorderseite.

Mit klammen Fingern halte ich mich am Fensterrahmen fest und setze meinen Fuß vorsichtig auf den Mauervorsprung.
Der Zweite folgt und auch wenn ich gerade im Stande bin diese aberwitzige Idee in die Tat umzusetzen, so lässt ein erneuter Blick nach unten die Zweifel in mir groß werden.

Nur ein falscher Schritt und ich falle. Ein falscher Schritt und alles ist vorbei. Nur Millimeter trennen mich vom Ende.
Ich kneife die Augen zu, schüttle mich und rufe mich dazu auf, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Das laue Lüftchen, das mich vorhin so freundlich empfangen hat, hat nun die Entscheidung gefällt, mich zurück schieben zu wollen und ich würde es zu lassen, wenn es nicht um Ida gehen würde.

Ida, so klar und hell in meinen Gedanken wie die heilige Mutter selbst. Ida, der einzige Mensch, der mir von meiner Familie geblieben ist. Ida ist Zuhause.

Ich straffe die Schultern, drücke das Kreuz durch, hebe den Kopf und gehe wieder ins Zimmer hinein, doch anstatt in ihm zu verweilen und aufzugeben, drehe ich dem Fenster den Rücken zu und gehe rückwärts bis meine Füße an dem Fensterrahmen zum Stehen kommen.
Erneut setze ich einen Fuß hinaus, mein Zweiter folgt. Mit beiden Händen halte ich mich am Rahmen fest, während der Wind in meinem Rücken pustet.

Mein Körper beginnt zu kribbeln, als ich den linken Arm ausbreite und mich in seine Richtung vorwärts schiebe. Schritt um Schritt, Stück für Stück.
Mein rechter Arm, dessen Hand noch immer auf dem Rahmen liegt, wird länger. Finger um Finger löst sich der Griff vom glatten Holz, befindet sich kurz in der Leere und umgreift dann wieder den Rahmen.

Die Beine gespreizt, die Arme ausgebreitet und die Brust an die raue Mauer gepresst, bewege ich mich weiter. Mein rechte Hand verliert den Rahmen und liegt nun auch auf den Steinen.

Ich atme stockend ein, zwinge mich nur nach links zu sehen, meinem Ziel entgegen zu blicken und nicht den Fehler zu begehen, den Blick zu meinen Füßen wandern zu lassen.

Heiß pumpt das Adrenalin durch meinen Körper, ruft jede Zelle meines Körpers zur Vorsicht auf und lässt jeden Muskel vor Anspannung zittern. Zeit vergeht, in der meine Brust über die Mauer schrabbt und meine rechte Wange schon ganz taub von dem Druck gegen den Stein ist. Ich habe das Gefühl, dass das nächste Fenster, auf dass ich zusteuere sich immer weiter entfernt.

Je länger ich mich quälend langsam fortbewege, desto mehr merke ich wie es mich entkräftet. Mein Bein zittert, meinen Händen ist jegliches Gefühl entwichen und in meinem Kopf herrscht gespenstische Stille.

"Komm schon", murmle ich gegen den Wind, der um meine Ohren pfeift, "Komm schon, noch ein bisschen." Mein Fuß schiebt sich weiter, der andere folgt.
"Du schaffst das. Einfach weitermachen", feuere ich mich selbst an und bringe ein weiteres Stück hinter mich.

Der Fensterrahmen des nächsten Zimmers ist in greifbarer Nähe, nur noch ein Stück und ich mache diesen Schritt, diesen minimalen Schritt, meine Finger sind kurz davor ihn zu berühren. In Gedanken sehe ich schon wie meine Hand ihn erreicht, doch bevor das geschehen kann, verliere ich den Halt.

Die Distanz zwischen Hand und Rahmen wird größer. Ich reiße die Augen auf, meinem Mund entkommt ein lautloser Schrei, während das Blut in meinen Ohren rauscht. Kurz spüre ich Schwerelosigkeit und dann falle ich.

Das ist das End...

Doch bevor dieser Gedanke sich richtig materialisieren kann, spüre ich einen festen Griff an meinem Handgelenk.
Ich pralle gegen die Wand, sämtliche Luft wird aus meiner Lunge gepresst.

Benommen sehe ich hinab, sehe meine Füße über der weit entfernten Schneedecke baumeln. Ein merkwürdiges Bild. Mein Blick wandert meinen Arm entlang, bleibt an meinem Handgelenk und der Hand, die es hält, hängen. Eine große Hand, größer als die meine. Rau fühlt sie sich an - wie warmes Schleifpapier. Meine Augen wandern weiter hoch, während ich die Taubheit meines Arms ignoriere.

Ein Mann lehnt über mir. Sein Oberkörper ist mir entgegen geneigt, grüne Haare fallen ihm in die hohe Stirn. Sein Gesicht wird von einer langen Narbe geteilt, die sich von seinem Haaransatz über den Nasenrücken bis hin zu seiner Oberlippe zieht. Doch nicht die Narbe zieht meine Aufmerksamkeit in ihren Bann. Es sind seine Augen, diese pechschwarzen Augen, in denen nichts als dunkle Leere steht und dennoch wirken sie wie Portale in eine andere Welt.

Ich öffne den Mund, will einen Ton der Überraschung äußern, doch ihm entkommt nicht mehr als ein Hauchen. Als würde die Zeit stehen bleiben, lasse ich mich von seinem Blick hypnotisieren.

Nur am Rande nehme ich wahr, wie er den Mund öffnet, noch immer nehmen mich diese Augen gefangen - versinke in dieser dunklen Welt, doch seine Stimme gleicht einem Erwachen. Plötzlich läuft die Zeit in ihrer normalen Geschwindigkeit weiter, der Wind pfeift, der Zug an meinem Handgelenk wird schmerzhaft und der Tod, der unter meinen Füßen lauert, ist wieder allgegenwärtig.

"Ich habe alles erwartet hier zu finden. Ein Mensch gehörte nicht dazu."

~•~

Hestis betrachtet das freudige Treiben, die lachenden Gesichter und die beiden Herrscher, die sich ständig mit ihren Weingläsern zu prosten und so tun, als wären sie seit Ewigkeiten Verbündete.

Dieses heuchlerische Theater nervt ihn. Da kann auch das aufreizende Blütlermädchen nichts ändern, das auf seinem Schoß hin und her rutscht und ihm immer mal über die Schulter tief in die Augen sieht. Auch wenn seine Hände den Stoff über ihrem wohlgeformten Körper erkunden, so empfindet er kaum Lust diesen zu entblößen.

Was ist los mit ihm? Seine Hände fallen von dem Frauenkörper, was das hübsche Mädchen damit kommentiert, sich auf seinem Schoß umzudrehen und ihren Busen an seine Brust zu drücken.

"Entspannt Euch", schnurrt sie mit lieblicher Stimme an seinem Hals. Ihr warmer Atem lässt seinen Nacken kribbeln. Als würde sie das bemerken, beginnt sie dazu überzugehen an seinem Ohrläppchen zu knabbern. Etwas, was ihn normalerweise erregt, sorgt nun dafür, dass er endgültig die Ungeduld verliert. Unsanft schubst er sie von seinem Schoß, was das Mädchen mit einem empörten Ton kommentiert, als sie mit ihrem Arsch auf dem Boden aufkommt.

Doch anstatt es dabei bewenden zu lassen, krabbelt sie nun langsam auf allen Vieren zu seinen Beinen, jede Bewegung ihres geschwungenen Körpers gekonnt in Szene gesetzt. Ihre zarten Hände legen sich auf seine Oberschenkel, während sie sich wie in Zeitlupe an ihnen empor zieht. Ihr Busen fährt über seine Beine, die Brust empor bis ihr Gesicht mit seinem auf einer Höhe ist.

Lüsternd betrachtet sie es.
"Das war aber nicht sehr freundlich", tadelt sie und beißt sich daraufhin kokett in die Unterlippe.
Hestis seufzt.
"Ich bin nicht in Stimmung. Geh wieder zu Cenros, der weiß das mehr zu schätzen", brummt er und steht auf. Die Blütlerin rutscht erneut von seinem Schoß.

Ihm ist langweilig. Solche Veranstaltungen langweilen ihn. Ein guter Kampf, gegen den hätte er nichts einzuwenden, aber dieser vermeintliche Frieden und diese ungezügelte Freunde ist nichts, was ihn zum Bleiben bewegen könnte.

Kurz bevor er die Flügeltüren erreicht, stellt sich die Blütlerin wieder vor ihn. Ihre langen Haare schmiegen sich an ihre Hüften und das Stück Stoff, das nicht mal als Kleid bezeichnet werden könnte, gibt den uneingeschränkten Blick auf ihre Brüste frei.

"Mein Herr", sagt sie und tritt auf ihn zu, "Verzeiht, wenn ich Euch gelangweilt habe. Wenn ich Euch auf's Zimmer begleiten dürfte, dann zeige ich Euch, wozu ich in der Lage bin." Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und beginnt seinen Hals zu liebkosen, während ihre Hand langsam an seinem Bauch hinab schweift, "Ich kann Eure kühnsten Träume wahr werden lassen."

Hestis betrachtet die Blütlerin eingehend und seufzt innerlich. Was hat er schon zu verlieren? Die Aussicht, die sie ihm bietet, ist zwar nicht das, wonach er begehrt, doch es ist allemal besser als auf dem Fest zu bleiben oder alleine durchs Schloss zu wandern.

"Meine kühnsten Träume?", fragt er daraufhin bedeutungsschwanger nach, was sie mit großen gelben Augen nicken lässt.
"Dann zeige mir, wie du glaubst, das zu bewerkstelligen."
Er reicht ihr wie ein Gentleman den Arm und führt sie aus dem Saal.

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