37. Der alte Ahorn

Dorias weiß um Euer Geheimnis.
Wollt Ihr auch seines kennen, so kommt zu mir.

Damit beginnt der Brief, niedergeschrieben auf einem kleinen Zettel, den meine Hand fest umschlungen hält.

Wie eine Kriegerin stehe ich vor der Tür, die mir entgegen leuchtet. Auf ihr unzählige Symbole: Kreise, in allen Formen und Größen, Dreiecke und einfache Linien, die sie miteinander verbinden. Ein Kunstwerk, das schön sein hätte können, wäre da nicht die Tatsache, dass von ihm alles abhängt.

Auf meinem Gesicht liegt ein kämpferischer Ausdruck - eine Spannung, die daher rührt, dass der Ausgang meines Unterfangen ungewiss ist und mir das mit jeder meiner Zelle meines Körpers bewusst ist.
Meine Haare stecken in einem festen Zopf.

Langsam gehe ich auf die Tür zu, pirsche mich förmlich an, als sei sie ein Ungeheuer, das es zu bezwingen gilt.

"Wenn der Zauber aufleuchtet, so ist er aktiviert. Selbst ich könnte dann nicht mehr zu dir herein", hallen Kinu's Worte durch meinen Kopf.

Kein Blütler kann die Tür durchschreiten, doch ich bin keiner und mit dem Gedanken bleibe ich stehen, betrachte den Knauf, fühle mich fast von ihm hypnotisiert, wie er mich mit diesem leuchtenden Kreis lockt.

Langsam lege ich meine freie Hand auf das kühle Holz, während meine andere den Zettel noch fester umgreift. Es knischelt, als das Papier zwischen Fingern und Handinnenfläche an Größe verliert.

Vorsichtig drehe ich ihn und ziehe.

Die Tür hält stand. Keinen Zentimeter, ja nicht einmal einen Millimeter bewegt sie sich, trotzdessen dass mein Ziehen in ein Reißen übergegangen ist.

Meine Hand rutscht vom Knauf und fällt ins Leere. Ich schaffe es nicht den Blick abzuwenden, während die Botschaft dessen langsam in meinen Geist sichert und da Gestalt annimmt.
Etwas Schweres formt sich in meinem Magen, das mich von der Tür wegzieht und mitten im Raum stehen lässt.

"Elender Lügner", hauche ich und denke an Kinu's Worte.
Sie haben nur von sich gesprochen, dass ich mit eingeschlossen bin, haben sie mir gewissentlich verschwiegen.

Ich fasse an meine Stirn und lasse mich zu Boden gleiten.
"Hast du wirklich geglaubt, es sei so einfach?", rügt mich meine innere Stimme gehässig, während mein Blick an einem unbestimmten Punkt am Fensterrahmen hängen bleibt.
Ich schüttle den Kopf und ärgere mich über mich selbst.

Zig Gedanken wirbeln durch meinen Kopf, einer lauter als der andere, doch der der am lautesten ist, ist:
"Wäre ich dem Bärenkind doch nur nicht gefolgt..."

So harre ich aus, während die Gefühle in mir Walzer tanzen und die Gedanken Karussell fahren.
Mein Blick hängt noch immer an dem bodenlangen Fenster und plötzlich wird es ganz ruhig in mir.
Er schweift den Rahmen entlang bis er wieder an seinem Ausgangspunkt ankommt.

Die Gedanken werden leiser. Verstummen immer mehr, je länger mein Blick das Rechteck erkundet.

"Ach du...", flüstere ich und stehe auf.
Langsam gehe ich näher an ihn heran und streiche mit meinem Zeigefinger über das glatte Holz.

Vorsichtig, so als ob mir meine Wahrnehmung einen Streich gespielt hätte, öffne ich es. Ein laues Lüftchen begrüßt mich, liebkost meine Wangen und wirbelt kleine Flocken ins Zimmer. Mein Oberkörper beugt sich vor, mein Blick schweift an der Schlosswand hinab. Stein um Stein bis er auf dem schneebedeckten Boden ankommt. Er schweift zum Horizont und sieht in der Ferne das kleine Örtchen, in dem ich Herr Hasenohr kennengelernt habe.

Die Hütten sehen von hier wie Spielzeug aus, das beliebig von Stelle zu Stelle verschoben werden kann.

Über meinem Kopf hängt ein hellblaues Himmelszelt, an dem sich nur vereinzelt Wölkchen finden, sodass die Sonne die Möglichkeit hat, ihre Strahlen gen Boden zu schicken. Die weiße Pracht glitzert wie unzählige Kristalle.
Es ist schön und erinnert mich an die Hauptstadt, wenn im Winter zum Fest der heiligen Mutter ihren Gaben gedankt wird.

Die Häuser werden von den Stadtbewohnern mit Hagebutten- und Schlehenzweigen geschmückt, an denen kleine Laternen hängen. Die ganze Stadt wandelt sich in eine Insel aus Lichtern und das Schloss der Königsfamilie strahlt heller, als jedes Haus in der Hauptstadt. Und wenn der Schnee fällt, dann läuten  die Glocken den Beginn des Festes ein.

Ich lehne mich an den Fensterrahmen, während ich in meiner Erinnerung als kleines Mädchen durch die Gassen lief, gebrannte Kastanien aß und die Lichter mich in ihren Bann zogen. Ich lief immer vorneweg, um zeigen zu können, was besonders toll aussieht und meinen Vater und meine Mutt...

Der Erinnerung bricht ab. Ich stolpere vom Fenster weg und lege mir die Hände an den Kopf. Das kleine Zettelchen fällt zu Boden.

"Mutter, Mutter, Mutter...", erklingt das hauchzarte Echo. Das Bild der kindlichen Freude wandelt sich und in meinen Geist schiebt sich ein anderes Bild. Der große Baum, der seine dunklen Arme den wolkenverhangenen Himmel entgegenstreckt. Es regnet stark, das Wasser formt riesige Pfützen. Ich sehe mich selbst auf dem Boden sitzend, die Hose vollgesogen von dem kalten Wasser, triefend vor Dreck. Meine Haare kleben an meinem Kopf. Der Wind reißt an mir, versucht mich hin und her zu schieben.

Da ist dieser Baum, dieser große, alte Ahorn, der einst majestätisch und stark war, der nun stirbt und seine Äste dem Himmel entgegen schiebt, als würde er um Gnade flehen.

Das Wasser der Pfützen ist klar. Klar und rein. Das kleine Rinnsal, das sich seinen Weg bahnt, trübt eine von ihnen.

Die Tränen, die meine Wangen herabrinnen, vermischen sich mit dem Regen. Meine Augen sind weit aufgerissen, meinem Mund entkommt ein Jaulen. Ich kann nicht hinsehen, kann sie mir nicht ansehen und so wende ich den Blick ab und betrachte die Pfütze neben mir. Die, die getrübt wird.

Die, die klar und rein war und nun rot von ihrem Blut.

Ich, die da heulend im Regen sitzt, schreit ihren ganzen Schmerz hinaus. Ein Ton geschwängert von bodenlosem Grauen und einem Schmerz, den selbst die Zeit nicht zu heilen weiß. Ich schreie solange bis Vater kommt. Sein Schreien stimmt in meinem mit ein und so sitzen wir gemeinsam im Regen, der egal wie stark er ist, den Anblick nicht zu verstecken mag, der sich uns bietet.

Tränen rinnen meine Wangen hinab, als ich zu Boden gehe und die Arme um die Beine schlinge. Ich schluchze und heule wie das Mädchen, das ich mal war.

Der zusammen geknüllte Zettel liegt neben mein Gesicht. Still und ruhig wie ein Anker in der tosenden See. Verschwommen sehe ich ihn, sehe nur ihn und ganz langsam legt sich der Sturm zur Ruh.

Der Zettel erinnert mich daran, was ich tun muss, was gegenwärtig ist und hilft mir diesen Alptraum ganz langsam in die Kiste zu verfrachten, aus der er sich so manches Mal befreit.

Doch ein wenig kann ich hier noch liegen. Nur ein bisschen noch, ein ganz kleines bisschen noch...

Schneeflocken wirbeln um mich herum, während das laue Lüftchen meinen Körper liebkost.

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