35. Apfelblüte und Kiefernholz

Der Herrscher des Nordens steht in der Eingangshalle und blickt mit neutralen Blick zu der geöffneten Flügeltür.
Seine Höflinge stehen dort, in ihrem weißen Gewändern, in Zweierreihen, sodass sich für die Ankommenden ein Korridor eröffnet, der sie zum Schloss führt.

Zu Dorias Linken steht Keanan. Er trägt seine Festtagskleidung - eine weiße knielange Hose und ein Jackett mit silbernen Knöpfen. Seine Haare hat er sich glatt nach hinten gekämmt.
Mikonos steht neben ihm und trägt wie immer eine schwarze lange Hose und über seinem dürren Oberkörper einen Umhang. Nur die silberne Maske hat er gegen eine schwarze getauscht.

Zu Dorias Rechten stehen Nila und ihr Sohn. Nila trägt ein weißes Ballkleid, über das sie sich vorhin noch beschwert hat, es würde ihr die Bewegungsfreiheit nehmen und sie bei einem Kampf behindern. Dorias hat sie erinnert, dass sie heute nicht kämpfen müsse, was sie mit einem Schnauben kommentiert hat.

Kinu trägt einen schlichten weißen Anzug, dem ihm seine Mutter vor Jahrzehnten aus der Hauptstadt Wenterra's mitgebracht hat - damals galt er als ein kleiner Joke. "Sieh, du wolltest wissen, was die Menschen zu Feierlichkeiten tragen. Hier", hat sie damals zu dem Jungen gesagt und überreichte ihm den Anzug. Kinu ist damals gute zwei Köpfe kleiner gewesen und so war der Anzug viel zu groß geraten an ihm.
Doch nun als erwachsener Mann, steht er ihm ausgesprochen gut.

Nila zwinkert Kinu kurz zu ehe ihre Miene wieder einen neutralen Ausdruck annimmt, mit dem sie hinaus blickt.

Zeit vergeht, in dem sie dar stehen und warten. Die Sekunden verstreichen, die Minuten vergehen.
"Sie lassen sich Zeit", hüstelt Kinu irgendwann hinter vorgehaltener Hand. Derartige Treffen sind neu für ihn, doch seit dem Bestehen seiner Prüfung und dem Auswachsen zu einem erwachsenen Winterbären wird er immer mehr in die Aktivitäten des Hofes involviert.

"Sei ruhig", rügt Nila ihn mit strengem Blick. Kopfschüttelnd sieht sie wieder nach vorne, während sie versucht das Gefühl zu verbergen, dass Kinu trefflich in Worte gefasst hat. Das Kribbeln einer nervösen Unruhe.

Mit jedem Moment, der vergeht, scheint die Zeit noch schleppender zu verlaufen. Als würde sie bis ins Unermessliche ausgedehnt werden.
Nila sieht fragend zu Dorias, der ihren Blick wahrnimmt, ohne seinen von der Flügeltür abzuwenden. Sein Gesicht ist neutral, obwohl er schon seit einiger Zeit einen Geruch wahrnimmt, der nicht zu dem seines Hofes passt.

Es ist ein blumiger Ton, untermalt von etwas Herbem. Ein Geruch, der sowohl leicht und süß wie auch streng und schwer ist. Unverwechselbar - der Geruch von Apfelblüte und Kiefernholz.

"Wir haben Gesellschaft", murmelt er in die Stille der Eingangshalle hinein und trotzdessen, dass die Worte wie ein Hauch über seine Lippen gekommen sind, so hat jeder sie verstehen können.

Kinu sieht Dorias entgeistert an. Er versteht zwar die Worte, doch nicht, was dieser ausdrücken will. Seine Ohren nehmen weder einen Herzschlag wahr noch nehmen seine Augen etwas wahr, das hier nicht hingehört. Nur dieser Geruch, den seine Nasenhaare zum Zittern bringen, der ist fremd.

Nila wirkt kurzzeitig überrascht, doch dieser Moment ist schnell vorbei. Sie erinnert sich an ein Gespräch, das Dorias und sie über die anderen Herrscher geführt haben. Jeder von ihnen hat eine ganz bestimmte Fähigkeit, die es so in der Form nicht nochmal gibt. Es ist etwas eigenes. Etwas, was aus der Persönlichkeit des jeweiligen Herrschers geboren wird.

Nila war damals noch eine junge Winterbärin, die eine unheimliche Neugier entwickelt hat, welche Fähigkeit Dorias besitzt - doch er hat es ihr nicht verraten wollen, egal wie sehr das kleine, braunhaarige Mädchen gebettelt hat. Sie weiß es bis heute nicht und hat ab einem gewissen Alter aufgehört laut danach zu fragen. Nur im Stillen ihrer Gedanken, da blieb die Frage, warum er darum so ein großes Geheimnis macht.

"Möchtest du dich nicht zeigen?", fragt Dorias in normaler Lautstärke. Seine Stimme hallt von den Wänden wieder und verklingt nach und nach bis die Ruhe wieder Einzug gefunden hat.

Erneut stehen sie wie Skulpturen dar, doch dieses Mal warten sie nicht. Anspannung schwängert die Luft, lässt sie sich dick und schwer anfühlen.

Kinu wird allmählich immer unruhiger. Immer wieder blickt er fragend zu seiner Mutter, die seine Blicke zwar wahrnimmt, aber nicht auf sie reagiert. Er tritt einen Schritt vor, löst sich aus der Reihe und versucht ein Blick auf Keanan's Gesicht zu erhaschen. Wird er in seinem Gesicht Anspannung sehen oder ist er wie je entspannt? Keanan ist für den jungen Winterbären schon immer der große Bruder gewesen, den er nicht hat. Auf seine Meinung legt Kinu wert, zu ihm sieht er auf.

Doch bevor Kinu sich überhaupt weiter vorbeugen kann, schickt Dorias strenger Seitenblick und der Griff seiner Mutter ihn zurück in die Reihe.

Leise kichert es. Ein zarter Ton, nicht mehr als ein Windhauch. Kinu Armhärrchen stellen sich auf. Das Kichern schwillt zu lautem Gelächter an. Es kommt von überall. Als würden sie in einer Menge stehen, die im gleichen Ton lacht. Kratzig, als sei die Stimme schon älter.

"Was...?", beginnt Kinu verdutzt, doch Keanans Stimme unterbricht ihn: "Cenros beherrscht die Fähigkeit Teil der Luft zu werden."

"Auf den Punkt gebracht, mein werter Freund", antwortet die kratzige Stimme hustend und von Hier auf Jetzt steht ein gebrechlicher Mann vor ihnen.

Kinu zieht scharf die Luft ein und kann nicht verhindern, zusammenzucken. Damit hat er nicht gerechnet.

Der Herrscher des Ostens trägt eine schwarze Mönchskutte, die seinen Körper bis auf die faltigen Hände gut zu verbergen weiß. Sein Kopf versteckt sich unter einer weit hervor stehenden Kapuze. Blickt man in die Öffnung hinein, sieht man anstatt eines Gesichts eine unnatürliche Dunkelheit.

Kinu muss automatisch an den Sensenmann denken, von dem die Menschen eine solche Angst haben.
Ob Cenros dieser mythischen Gestalt zu ihrem Aussehen verholfen hat? Lange genug würde er dafür schon leben, um die Menschen in ihrer Vorstellung inspiriert zu haben.

"Dorias, es freut mich wirklich dich zu sehen. Das letzte Mal liegt bereits viel zu lange zurück", krächzt Cenros, während er auf den Herrscher des Nordens zu humpelt.
Keanan zieht die Augenbraue hoch. Der Herrscher des Ostens weiß das Spiel wirklich gut zu spielen. Würde Keanan nicht wissen, dass dies mehr Schein als Sein ist, könnte er wirklich glauben, dass Cenros ein alter, hilfloser Mann ist.
Vermutlich wird das vielen seiner Feinde auch zum Verhängnis: Sie unterschätzen ihn.

"Tausend Jahre", bestätigt Dorias und ergreift die runzelige Hand, "Darf ich dir mein Gefolge vorstellen?"
"Aber natürlich", antwortet Cenros erfreut.
Dorias nickt Nila zu, welche es mit einem Knicks kommentiert. Man sieht ihr an, dass ihr derartige Respektsbekundungen schwer fallen.
"Das ist Nila, meine Winterbärin."

Cenros nickt, zumindest wirkt es so, als der Rand der Kapuze kurz nach vorne rutscht.
Er humpelt auf sie zu und reicht auch ihr seine Hand. Anstatt sie zu ergreifen, wie Dorias es getan hat, haucht sie einen Kuss auf seinen Handrücken.
"Es freut mich", sagt sie wie mechanisch und richtet sich wieder auf.

"Oh", kommt aus dem Dunklen der Kapuze, "Die Freude ist ganz meinerseits. Ich kannte deinen Vater, Nila. Ein guter Blütler mit eisernen Willen. Habe ihn wirklich bewundert."
"Vielen Dank", antwortet Nila und sieht kurzzeitig so aus, als hätte sie Schmerzen.
"Zu schade, dass er so früh von uns gegangen ist. Er hätte sicherlich noch Großes bewirken können."
"Bestimmt", erwidert Nila mit zusammen gebissenen Zähnen, während sie eine Schwere empfindet, die sie schon lange nicht mehr empfunden hat.
Sie hat aber auch schon lange nicht mehr an ihn gedacht.

Cenros wendet sich Kinu zu.
"Lass mich raten, das ist dein Sohn. Die Ähnlichkeit ist nicht zu ignorieren."
Die Kapuze richtet sich bei Gesagten kurz wieder Nila zu, ehe er Kinu wieder betrachtet.

"Das ist er", antwortet Nila tonlos, während Kinu sich bereits zu der ausgestreckten Hand hinab beugt.
"Auch er ist nun Winterbär meines Hofes", mischt sich Dorias ein und tritt aus der Formation heraus an Cenros Seite.
Seine Hand legt er auf dessen Schulter und manövriert ihn so von den Winterbären weg hin zu Keanan.
Als Cenros ihr den Rücken zu dreht, atmet Nila erleichtert aus.

Keanan tritt vor und haucht wie die anderen zuvor dem Herrscher einen Kuss auf den Handrücken.
"Es ist eine Freude Eure Bekanntschaft zu machen. Ich bin der General des Nordens", stellt er sich vor und tritt dabei einen respektvollen Schritt zurück.

"Hmmhmm", gibt Cenros nachdenklich von sich, "Ich hörte bereits davon, dass Dorias sich entschied einem Silberblütler eine so mächtige Position anzuvertrauen. Du musst besonders sein." Er geht den Schritt auf Keanan zu, den er gerade zurück gemacht hat.
"Ich frage mich, welche Fähigkeiten du haben musst, dass er so entschied."

Keanan erwidert seinen Blick neutral. Derartige Äußerungen sind nichts Neues für ihn. Die meisten Goldblütler nehmen ihn nicht ernst, weil er nicht als einer der ihren geboren, sondern durch Dorias Seelenstück zu einem gemacht wurde. Es gab in ihrer Geschichte immer mal wieder Momente, in denen Silberblütler in solche Positionen empor gehoben worden sind und sie alle hatten es durch ihre Herkunft schwerer. Doch Keanan interessiert nicht, was andere Goldblütler von ihm halten. Ihm ist nur einer von ihnen wichtig. Der, der neben ihm steht und nun an seiner statt das Wort ergreift.

"Das wirst du noch früh genug herausfinden." Dorias stellt sich fast schützend vor seinen General und nickt Mikonos zu.
"Sein Ruf dürfte ihm vorauseilen", sagt er und lenkt Cenros Aufmerksamkeit auf den Letzten im Bunde.
"Das tut er", bestätigt der Herrscher des Ostens nickend und wendet sich ihm zu. Wie bei den anderen streckt er ihm seine faltige Hand entgegen, doch anders als seine Vorgänger ignoriert Mikonos sie.

"Möchtest du mich nicht begrüßen, Attentäter?" Eine unterschwellige Drohung schleicht sich in die Stimme des alten Herrschers.
Mikonos Augen, die bis eben gelangweilt zur Tür geblickt haben, schweifen langsam zu dem verhüllten Blütler.
"Hallo", sagt er stumpf und hebt kurz die Hand.

Cenros wendet sich fassungslos zu Dorias. Eine Beschwerde formt sich bereits auf seinen Lippen.
"Mikonos ist nicht im ursprünglichen Sinne ein Mitglied meines Hofes", erklärt der Herrscher des Nordens und fügt hinzu: "Auch wenn ich ihn gerne als solches betrachte."
"Wie darf ich das verstehen?", fragt Cenros spitz und sieht von Einem zum Anderen.

"Ich lebe hier, weil es mir gefällt...
Ich erfülle Aufträge, weil es mir gefällt... Ich diene dem Hof nicht... keinem Hof... ich bin mein eigener Herr... und politische Beziehungen interessieren mich nicht", antwortet Mikonos gedehnt, als wäre er kurz davor im Stehen einzuschlafen.

"Du bist kein Teil des Hofes?" Neugierde schwängert Cenros Stimme. Lässt sie hoch und weniger alt klingen.
"Nein." Mikonos schüttelt wie in Zeitlupe den Kopf.

"Dann komm doch an meinen Hof. Da gefällt es dir bestimmt auch."
"Ich mag es hier", erwidert der Attentäter kurz.
"Hmm... Ich bin mir sicher, ich kann dich noch umstimmen, aber Gutes will ja bekanntlich Weile haben. Nun gut, Dorias", er lässt die Hand fallen und vollführt auf dem Absatz eine halbe Drehung. Der Rock seiner Kutte wirbelt durch die Luft und gibt einen kurzen Blick auf spindeldürre, haarige Beine frei.

"Warum hast du mich zu dir eingeladen? Wessen Land machen wir dem Erdboden gleich?"

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