31. Zukunftsträume

Umgeben von Pergament, Büchern und Karten sitzt ein Blütler auf dem Boden. In den Händen hält er ein Stück Pergament, auf dem sich fein säuberlich Wort an Wort reiht. Seine schwarzen Augen, die so dunkel sind, dass man nicht mal die Pupille erkennen kann, schweifen über die Zeilen.

Aufgrund seines Aussehen könnte man glauben, er sei ein junger Mann, der noch nicht viel von der Welt gesehen hat. Doch dieser Eindruck täuscht. Auch wenn dieser Blütler sich seine Jugendlichkeit über die Zeit bewahrt hat, so wandelt er schon seit mehr als 3000 Jahre über die Welt.

Seine grünen Haarpracht fällt ihm leicht gewellt in die Stirn und trotz dessen, dass er sie immer wieder zur Seite kämmt, ist da diese eine Strähne, die ein Eigenleben zu führen scheint.

Genervt seufzt er. Nicht wegen seinen Haaren, sondern weil das Stück Pergament in seinen Händen einen enormen Unmut in ihm auslöst.

Als seine Augen an der Unterschrift hängen bleiben, zerknüllt er es und wirft es hinter seinen Rücken.

Desos, ein wirklich alter Blütler, der schon dem Vater des Herrscher des Westens gedient hat und dem sein Alter durch ergraute Haare und faltige Gesichtszüge anzusehen ist, fängt es in einer fließenden Bewegung auf und glättet das Knäuel. Mit wachen Augen liest er den Brief und richtet dann seinen fragenden Blick auf den grünen Haarschopf.

"Und?", fragt er vorsichtig, "Werdet Ihr gehen, obwohl Ihr den Grund nicht kennt?"
Ein Knurren ertönt. Hestis ist heute nicht bester Laune. In der Kampfesarena hat er auf den falschen Soldaten gesetzt und eine Menge Magietropfen an seinen General abgeben müssen.

Magietropfen sind in der Welt der Blütler gleichzusetzen mit dem Geld der Menschen. Es ist ihre Währung und je mächtiger einer von ihnen ist, desto mehr besitzt er auch davon.
Magietropfen erhöhen für kurze Zeit die Energie desjenigen, der sie einnimmt, weshalb viele Herrscher vor einer Schlacht ihre Soldaten damit regelrecht füttern.

"Mir scheint nichts anderes übrig zu bleiben. Dorias war noch nie der Typ, der mit offenen Karten spielt. Warum auch immer er den Pakt geltend machen will, bei den Feierlichkeiten werde ich es erfahren."
"Das kam noch nie vor", murmelt Desos daraufhin kopfschüttelnd und fasst sich theatralisch an die Stirn, so als würde dies bei ihm ungeheure Kopfschmerzen hervorrufen.

"Hmmhmm", gibt der Grünhaarige von sich und drückt sich in die Höhe.
"Räum das weg", fordert er. Trotzdessen, dass Desos alt ist, hockt er sich in enormer Geschwindigkeit hin und sammelt die Schriftstücke vom Boden - legt sie ordentlich auf einen Haufen und erhebt sich mit ihnen wieder.

"Ich frage mich, wer noch eine Einladung erhalten hat", murmelt Hestis nachdenklich und reibt sein haarloses Kinn, während er zum Fenster hinaus sieht.
Der alte Ahorn beugt sich den kräftigen Böen, die gerade durch sein Land fegen. Die rötlichen Blätter schütteln und winden sich unter dieser enormen Kraft, versuchen standhaft zu bleiben, doch einige besitzen nicht genug Stärke, sodass sie von ihrem Verbund getrennt werden und als einsame Seelen in die Welt hinausfliegen.

"Das würde beantworten wegen wem Dorias einlädt", stimmt Desos zu, der samt Zettelhaufen im Arm neben Hestis getreten ist.
Zwei Blütler, die nicht unterschiedlicher aussehen und wenn man sie nur anhand der Optik beurteilen würde, könnte man glauben, die Rolle des Herrschers hätte ein anderer inne.

Desos, der sich immer in feinste Stoffe kleidet - leuchtende Farben, bodenlange Gewänder, Federn und Perlen - er sieht wie ein Herrscher aus. Während der, der dieser ist, eine einfache Lederhose und ein schwarzes, engeres und kurzärmliges Oberteil trägt.

"Im Endeffekt ist es gleich", spricht Hestis seinen Gedankengang aus, "Wir haben zu folgen. Es gibt wenige Regeln hier und die, die wir haben, sollten wir beherzigen. Nicht umsonst haben wir den Pakt überhaupt geschlossen."

Desos betrachtet den Jüngeren eingehend. Eine steile Falte bildet sich auf seiner Stirn. "Ihr wart Gründer des Paktes, nicht weil Ihr Kriege führen wolltet, sondern um eure Grenzen dicht zu halten."
"Mein Gedächtnis funktioniert wunderbar, Desos." Schneidend ertönt die Stimme im Raum. Die dunklen Augen beginnen zu lodern.

"Verzeiht", entschuldigt sich der Alte und tritt einen Schritt zurück.
"Wenn ich nicht komme, was ist dieser Pakt dann wert?", fragt Hestis und wendet sich ab.

Elegant lässt er sich auf das Ledersofa fallen. Mit einer Handbewegung schickt er Desos hinaus, der dem augenscheinlich erleichtert nur zu gerne Folge leistet. Das Knarzen der Flügeltür erfüllt den Raum, einmal beim Öffnen und ein zweites Mal beim Schließen. Die Stille der Einsamkeit kehrt ein, welche vom Herrscher des Westens mit Zufriedenheit empfangen wird.

Er lehnt den Kopf zurück, sodass er auf der Rückenlehne ruht und schließt die Augen. In der Dunkelheit seiner Gedanken verweilt er einen Moment. Bilder und Farben, Sätze und Wörter wirbeln an ihm vorbei ehe er sich dazu entscheidet einen ganz bestimmten Ort aufzusuchen.
Hestis hat die Fähigkeit in seinem Kopf Räume zu erschaffen, in denen er Dinge archiviert, die er mal berührt hat.

Hinter gegenwärtigen Vorkommnissen, vergangenen Eskapaden und seinen geheimsten Wünschen verbirgt sich ein Raum, in dem Hestis all die Schriftstücke aufbewahrt, die von dem Fluch berichten, unter dem er seit 1000 Jahren leidet.

Dem Bund.

Dem Grund, warum er überhaupt den Pakt erschaffen hat und sich in die eiskalten Hände dieses Mistkerls begeben musste. Sein Stillschweigen erfordert von Hestis permanente Loyalität gegenüber des Hof des Nordens.

Etwas, wozu er unter normalen Bedingungen nie bereit gewesen wäre, stände sein Leben nicht auf dem Spiel.
Doch allein die Vorstellung Dorias würde den anderen Herrschern von seinem Geheimnis berichten...
Er wüsste genau, wie sehr sich dieser gebrechliche alte Sack, der sich Herrscher des Ostens schimpft, danach die Finger lecken würde und das Weibsstück, das bereits seinen General mit Freuden zu Tode gefoltert hat, nur um ihren Volk zu demonstrieren, dass sie diese Macht besitzt - Sie würde keine Gelegenheit verpassen auch ihn anzugreifen und wenn es dann noch den leichten Weg gibt, in dem sie einfach einen Menschen dafür umbringt - es würde ihr gefallen.

Hestis verzieht das Gesicht. Einst waren sie alle Verbündete. Einst, als sie Klatis hinter sich ließen, um einem Übel zu entkommen, das drohte sie einem nach dem anderen auszulöschen. Doch nach dem Krieg mit diesen schwächlichen Menschen und seiner auferlegten Bürde, würden sie wieder zu dem, was sie mal waren. Feinden.

Und er, er wurde in Ketten gelegt. Von Matius und von Dorias.

Seit Jahrhunderten versucht er einen Weg zu finden, diese Verbindung zu kappen. Damals dachte er noch, er müsse nur warten bis der Menschenkönig stirbt und das Band würde zerbrechen. Ein paar Menschenjahre gleichen einem Wimpernschlag, das macht ihm nichts. Doch womit er nicht gerechnet hatte, war, dass dieser Fluch für ihn und des Menschen Glück einfach auf Matius Nachkommen überging.

So ist er noch heute mit einem Menschen verbunden und muss noch heute etwas schützen, dem er gerne selbst das Fleisch von den Knochen ziehen würde. Langsam... Stück für Stück.

Welch Freude ihm das bereiten würde, doch er kann davor nur träumen bis er einen Weg gefunden hat die Verbindung zu kappen, solange muss er sich in Geduld üben.

Er ist sich sicher, irgendwann wird es den Tag geben, da findet er die Lösung und dann wird Wenterra lichterloh brennen.

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