27. Blütler

Nila sieht einen Moment bestürzt aus, doch dann strafft sie ihre Schultern.
"Wir sind, wer wir sind."

"Soll bedeuten, dadurch, dass ihr uns überlegen seid, habt ihr das Recht ganze Länder auszulöschen?", bringe ich aufgebracht hervor.
Sie schüttelt den Kopf, "Nein, aber jede Medaille hat zwei Seiten, Alva. Es gibt nie die eine, die nur gut und die andere, die nur böse, ist."
Fassungslos sehe ich sie an und strecke den Arm aus.

"Sieh dir das Gemälde an. Das ist purer Triumph, den ihr hier präsentiert."
"Am Ende haben wir triumphiert", stimmt sie mir zu und folgt mit ihrem Blick meinem Arm, "Ich kann dich verstehen. Deine Wut kann ich wirklich verstehen, vorallem wenn man bedenkt, was du..."

"Nein", unterbreche ich sie und lasse den Arm sinken, "Ich bezweifle, dass du das, irgendjemand das, verstehen kann", ich zeige auf mich selbst und lache bitter auf, "Ich verstehe es ja schon kaum."
Mitleidig sieht sie mich an und dieser Blick macht es nur noch schlimmer.

"Weißt du", sie wendet sich mir ganz zu, "Ich weiß, was in Wenterra über den Krieg erzählt wird, aber er liegt 1000 Jahre zurück. Keiner von der heut noch lebenden Bevölkerung war Augenzeuge. Ich hingegen schon."
Mit großen Augen sehe ich sie an und als sie meinen Blick bemerkt, wirkt sie beschämt.
"Zugegeben, ich war noch ein Kind, doch ich weiß noch, wie er begann und das lag nicht an uns, Alva."

Meine Augen werden noch größer. Will sie mir gerade etwa sagen, dass die Menschen den Krieg begonnen haben? Das kann unmöglich sein. Die Arraris sind gekommen und haben keine Gefangenen gemacht. Sie haben sich ausgebreitet wie eine Seuche. Land um Land dem Erdboden gleich gemacht. So war es. So steht es in den Büchern, doch wenn man es genau betrachtet...

Es muss so nicht gewesen sein. Von einem Gelehrten am Hofe in Wenterra weiß ich, dass es zur Zeit des Krieges noch keine Geschichtsschreibung gegeben hat. Alles was in den Büchern steht, beruht auf Hören- Sagen und wurde erst einige Jahrhunderte später niedergeschrieben. Doch wer sagt mir, dass Nila nicht lügt und würde es überhaupt einen Unterschied machen, wer den Krieg begonnen hat? Ändert das etwas?

Seit ich denken kann, ist er  Gesprächsgegenstand in dunklen Gassen gewesen. Das Flüstern und Tuscheln verfolgte mich auf meinen Wegen durch die Ortschaften. Doch so richtig habe ich nie über ihn nachgedacht. Warum nicht? Es gibt so viele Fragen, die unbeantwortet sind.

"Wie lange ging der Krieg überhaupt?" Eine dieser Fragen. Ich weiß es nicht und ich glaube, die wenigsten in Wenterra wissen es, obwohl es doch eigentlich auch eine Information sein sollte, die in den Büchern steht. Tut sie aber nicht. Genauso wenig, warum die Arraris überhaupt von Klatis zu uns kamen. Was hat sie angetrieben ihre Heimat zu verlassen?

"Nicht lange", antwortet Nila und zuckt die Schultern, "60 Jahre vielleicht."
Wenn Nila schon an die 1000 Jahre alt ist, sind 60 Jahre wirklich nicht viel. In Menschenjahren gerechnet fast ein ganzes Leben. Vorallem zu damaliger Zeit, in der Naturkatastrophen und Krankheiten wüteten.

"Und warum kamt ihr damals hier her?"
Ich kann nichts dagegen tun, meine Neugier ist entfacht.
Nila sieht einen Moment nachdenklich aus, dann greift sie so unvermittelt meine Hand, dass ich überrascht aufkeuche.

"Ich möchte dir was zeigen", sagt sie und dreht mir ihren Rücken zu. Ich höre sie etwas murmeln, doch dann unterbricht sie sich.
Sie blickt über die Schulter, "Erschreck dich nicht."
Bevor ich überhaupt fragen kann, was sie meint, spüre ich eine Schwerelosigkeit, die ich schon einmal fühlte.
Es ist wie eine Erinnerung an das Loch und an den Weg aus diesem hinaus.

Trotzdessen, dass ich Wärme empfinde, fröstle ich. Ein Gemisch an Farben fliegt an mir vorbei und plötzlich stehen wir in der gläsernen Bibliothek.

Nila schüttelt sich lächelnd.
"Sich so fortzubewegen ist viel angenehmer."
"Was ist das?", frage ich und blicke mich um, "Dieses Reisen von Ort zu Ort?"
"Man nennt es den Flug des Windes. Eine Magieform, die fast jeder Blütler beherrscht, egal welchen Ranges. Dabei wird die Luft und der Raum manipuliert", erklärt sie mir und allein beim Zuhören tun sich weitere Fragen auf.

Ich beiße mir auf die Unterlippe.
"Die Blütler, das seid ihr?"
Nila, die gerade dabei ist, auf ein Bücherregal zuzusteuern, fragt: "Du hast auf der Lichtung mein Blut gesehen, nicht wahr?"
Ich nicke, auch wenn sie es gar nicht sehen kann und wende mich einem Regal in meiner Nähe zu.
"Wir Arraris, wie ihr uns nennt, sind eigentlich Blütler. Unser Blut und unsere Knochen unterscheiden sich den von euren nicht nur in der Farbe."

Nila beugt sich herab und ihre Finger fahren einen Buchrücken nach dem anderen ab, während ich am Regal gegenüber lehne und sie dabei beobachte.
"Und die Ränge sieht man an der Farbe?", frage ich und muss direkt an den Thron der Hexe denken. Unzählige silberne Knochen sind darin verarbeitet worden, doch auch ein goldener. Er ist ganz oben gewesen, als sei er etwas besonderes.

Nila, die bereits am anderen Ende des Regal angekommen ist, richtet sich auf und beginnt die Reihe darüber abzusuchen.
"Ich bin ein Silberblütler, meine Knochen und mein Blut sind silbern. Wenn ich mich Begrifflichkeiten aus deiner Welt bediene, kannst du mich als Mittelschicht ansehen. Die meisten Blütler sind Silberblütler. Unser Magiespektrum ist begrenzt. Es gibt Arten von Zauber, die wir nicht wirken können, egal wie lange wir trainieren würden", antwortet sie mir und schiebt ein Gemurmeltes,  "Wo ist es nur?" hinterher.

"Und die Goldblütler können es?"
Nun weiß ich, dass der goldene Knochen eine Botschaft ist, an all diejenigen, die vor Jelenas Thron stehen. Eine Botschaft und eine Warnung.

"Die Goldbütler sind die mächtigsten unter uns, denn ihrer Kraft sind keine Grenzen gesetzt. Sie können Magie nicht nur wirken sowie meinesgleichen es kann, sondern sie auch formen."
Nila schnauft, "Das gibt's doch nicht. Wo ist es hin?" Sie steht an einem Regal und fixiert eine leere Stelle.

"Suchst du etwas?", ertönt eine gehässige Stimme plötzlich. Erschrocken wirble ich herum und ein Blick zum Ursprung verrät mir, dass Keanan da ist. Aus dem Nichts sitzt er auf einem der Sofas. Mit dem Flug des Windes, wie ich nun weiß.
Diese Fähigkeit ist aber auch unheimlich. Einfach von Hier auf Jetzt irgendwo aufzutauchen. Ich muss mich auf viele Herzinfarkte einstellen, wenn ich hier überleben will.

"Du hast es genommen!", wirft Nila ihm vor und zeigt anklagend auf ihn.
Er, ganz entspannt, schlägt ein Bein übers andere und sieht an ihr vorbei direkt zu mir.
Ohne den Blick abzuwenden, antwortet er: "Ich dachte mir bereits, dass du die hier irgendwann her bringst."
"Die hat auch einen Namen, wie du mittlerweile ja weißt." Das würde ich nun gerne sagen, doch ich schaffe es gerade noch so mich zu beherrschen. Nila erdolcht ihn derweil mit ihren Blicken. Es würde mich nicht wundern, wenn gleich Flammen aus ihnen schlagen.
"Und deswegen hast du es genommen?"

Unter seinem schwarzen Umhang holt er ein bläuliches Büchlein hervor und wedelt damit in der Luft.
Nila überbrückt die Distanz zu ihm in Rekordgeschwindigkeit und greift danach, doch da ist das Buch schon aus ihrer Reichweite.
Sie schnauft ungehalten.

"Du hast bereits eine Menge über uns erzählt, findest du nicht?", fragt er betont locker und wedelt nun mit der anderen Hand das Buch durch die Luft.
Nila, die schon halb auf der Sofalehne gelegen hat, richtet sich auf.
"Und das durfte ich nicht?", fragt sie schnippisch, "Dorias Anweisungen haben mir diesbezüglich keine Grenze gesetzt."

"Außerdem ist sie nun mit uns verbunden", fügt Keanan mit hoher Stimme hinterher und Nila knurrt drohend.
"Hör auf meine Gedanken zu lesen."

Ich zucke zusammen.
Heilige Mutter, er kann Gedanken lesen?!
Keanan sieht mich amüsiert an. "Er kann, wenn er es will."
Ich reiße die Augen auf und trete einen Schritt zurück, so als könnte die Distanz bewirken, dass er es nicht mehr kann.
Sein süffisantes Grinsen beweist mir das Gegenteil.
Wieder an Nila gerichtet, kontert er: "Dann präsentier sie mir nicht so offen."
Er steht auf und das Buch verschwindet dabei wieder unter seinem Umhang.
"Wenn du ihr etwas zeigen willst, dann zeig ihr den Kristallsee." Er klopft auf seinen Umgang, "Hierfür vertraue ich ihr noch nicht genug."

Er kommt auf mich zu. Langsam mit einem animalischen Schritt. Sein Gesicht ist ernst. Die Luft knistert und ich halte sie an. Seine Kiefermuskeln treten hervor, als würde er die Zähne zusammenbeißen. Unsere Blicke treffen sich. Wie heißes Eisen brennt sich seiner in meinen.
Dann ist er vorüber und einen Luftzug später, weiß ich, er ist weg.

Erleichtert atme ich aus und spüre das Zittern meiner Glieder.
Nila zittert auch, doch nicht wie ich vor Anspannung, sondern ihr sieht man die Wut ganz deutlich an.
Auch sie atmet aus, strafft die Schultern und kommt ebenfalls auf mich zu.

"Wie der Herr es wünscht", murmelt sie, als sie bei mir ankommt und nimmt meine Hand, "Dann zum Kristallsee."

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