25. Beweise

"Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen."

"Warum erzählst du mir das alles?"
Ich verstehe es beim besten Willen nicht. Warum ist er so offen? Ist das Ehrlichkeit oder eine List, um mich in irgendeiner Weise zu beeinflussen?
Nur welche? Welche könnte das sein?

Während ich vor mich hin grübele und sich eine Frage nach der nächsten auftut, sieht mich Kinu völlig unbekümmert an.
"Warum sollte ich nicht?"

Er lächelt vorsichtig und legt sich selbst die Hand auf die Brust, als stände er kurz davor einen Schwur zu leisten.
"Ich", betont er, "fand es dir gegenüber fair ehrlich zu sein. Warum sollten wir dich belügen? Wir haben davon nichts."

Ich mustere ihn. Suche nach irgendwas, was ihn verrät, doch da ist nichts. Mir blickt ein offenes Gesicht entgegen.
Oder er ist ein sehr guter Lügner, der es schafft seine Mimik perfekt anzupassen.

"Wir sind also miteinander verbunden?", wechsele ich das Thema.
Wenn er meint ehrlich zu sein, dann soll er mir in der Gänze erklären, warum ich hier bin. Vielleicht verhaspelt er sich oder verstrickt sich in Widersprüchen.
General Schops schrieb in einem seiner Bücher über Verhöre, dass das Gegenüber bei einer Lüge sich früher oder später verraten würde.

"Nein", er schüttelt den Kopf, "Ich bin mit dir verbunden."
Ich brauche einen Moment. "Du mit mir?" Er nickt und dabei fällt ihm eine Strähne in die Stirn.
"Beweis es", fordere ich ihn auf, meine Chance witternd ihn zu entlarven.

Mit geweiteten Augen sieht er mich an.
Doch anders als gedacht, gesteht er nun nicht, dass er es nicht könne, weil das alles ein riesen großes Schmierentheater ist, sondern sagt stattdessen: "Du musst dir dafür weh tun."

Skeptisch erwidere ich seinen Blick.
Soll meine eigene Angst vor Schmerzen mich nun hindern? Sicherlich nicht.

Ich stehe auf, sehe mich im Zimmer um, doch hier ist nichts, was ich dafür benutzen könnte.
"Gib mir etwas."
Nun sieht er noch fassungsloser aus.
"Du willst, dass ich dir etwas gebe, mit dem du uns verletzen kannst?"

Allein dieses "uns" bringt mein Blut zum Kochen. Es gibt kein Uns. In meiner Welt muss man für ein Uns den Bund der Ehe eingehen und nicht einen Arraris retten.

Ich atme langsam ein und aus. Beruhig dich, Alva, du kommst mit Wut nicht weiter.
Behalt einen kühlen Kopf.

Mein Blick schweift auf meine Hände und ehe ich zögern oder irgendwie darüber nachdenken kann, was ich tue, greife ich meinen kleinen Finger und drücke ihn mit einem Ruck nach hinten.

Knack!

Tränen schießen mir in die Augen. Ein kleiner Blitz schießt durch meine Hand und lässt sie erst kribbeln und dann taub werden.
Ich wende den Blick von dem unnatürlich abstehenden Finger ab und blicke zu Kinu.

Dieser hat den Kopf gesenkt und betrachtet eingehend seine Hand, die auf seinem Oberschenkel ruht.

Sein kleiner Finger steht wie meiner ab.

"Ist das nun glaubwürdig für dich?", fragt er ohne aufzublicken und hebt seine Hand, dreht und wendet sie in der Luft.

Mir bleibt die Spucke weg. Fasziniert wandert mein Blick von seiner zu meiner Hand und wieder zurück.

"Das ist unmöglich", hauche ich und plötzlich trifft es mich wie der Schlag. Er hat nicht gelogen.

"Jetzt hast du einen gebrochenen Finger. Ich hoffe, das war es wert", sagt er, während sein Finger schon wieder... heilt.
Er heilt! Richtet sich in seine ursprüngliche Form und mit einem leisen Knacken scheint der Prozess beendet.

Meiner hingegen steht immer noch ab und er tut weh. Aber ja, das war es mir wert.
Denn so weiß ich nun zumindest, dass Kinu die Wahrheit gesagt hat. Doch verstehen kann ich es dennoch nicht.

Wie kann es so etwas überhaupt geben? Aber eigentlich müsste ich dann auch fragen, wie die Arraris existieren können. Eigentlich dürfte es sie nicht geben. Sie sind schnell, stark und der Magie mächtig. Sie können Dinge, zu denen ein Mensch in seinen kühnsten Träumen nicht in der Lage sein wird und dennoch existieren sie. Weil sie nicht menschlich sind... und auch nicht an menschliche Gesetze gebunden sind.

Ein Mensch stirbt mit einem Messer im Auge, doch sie ziehen es einfach wieder heraus. Ein Mensch kann sich nicht so schnell bewegen, dass er mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen ist, doch sie können es und ein Mensch kann sich auch nicht in einen Bären verwandeln. Doch Kinu kann es, denn er ist kein Mensch.

Ich atme tief ein und lasse mich zurück aufs Bett sinken. Das ist alles so verrückt.

"Wie geht das?", frage ich und zeige von Kinu auf mich.
"Es ist ein Bund, den wir eingegangen sind, als du mich uneigennützig gerettet hast. Zumindest hat das Dorias gesagt."
"Wer ist Dorias?", frage ich irritiert und rutsche nun doch wieder vom Bett. Es fühlt sich gut an zu stehen. Irgendwie beruhigt es mich. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden. Ich bin hier. Ich träume nicht.

"Der Herrscher", antwortet Kinu unbekümmert und sieht zu mir hoch.
"Ah", gebe ich dümmlich von mir und mache einen Schritt.
"Und du glaubst ihm, dass das ein Band erzeugt hat?"
Irgendwie schwer vorzustellen. Das ist so wenig, das kann nicht der Grund sein. Ich habe ihm doch nur aus einer Falle befreit.

Ein weiterer Schritt. Bewegung tut gut. Sehr gut sogar.

"Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert ist. Hast du dich nie gefragt, warum Wenterra nicht ausgelöscht wurde?"
Das bringt mich dazu doch stehen zu bleiben und ihn anzusehen, während mein Kopf nach einer Antwort sucht. Nicht nach der, ob ich darüber schon mal nachgedacht habe, sondern, ob mir ein Grund einfällt.

Kinu beobachtet mich schweigsam und beendet die Stille im nächsten Moment mit einem Seufzen.
"Ich wusste es selbst lange nicht", gesteht er leise, "Dorias erklärte mir, dass König Matius zu seiner Zeit auch einen Bund eingegangen ist. Deswegen existiert Wenterra noch. Du erinnerst dich, wird der gebundene Mensch durch einen Blüt..."
Ich unterbreche ihn: "König Matius ist tot. Der Krieg tausend Jahre her. Warum habt ihr uns dann nicht angegriffen?"

Kinu wirkt einen kurzen Moment so, als hätte er Schmerzen. Er beißt die Zähne so fest zusammen, sodass die Kiefermuskeln zur Geltung kommen.
"Wir sind nicht so blutrünstig wie du denkst", murmelt er. Einen kurzen Moment tun mir meine Worte leid, doch ich komme nicht umhin an all die Menschen zu denken, die bei dem Krieg ihr Leben gelassen haben und so verpufft das Mitleid wieder.

"Das ist nicht der Grund", stelle ich fest und bringe Kinu zum Nicken.
"Ist es nicht", gesteht er und lächelt bitter, "Auch wenn ich mir wünschte, er wäre es."

Nun kommt das Mitleid doch wieder. Kinu ist in eine Welt hineingeboren worden, die einfachnach anderen Regeln spielt - das macht ihn nicht schlecht - denke ich zumindest.

"Tatsächlich", unterbricht er meinen Gedanken, "Ist der Bund auf die Kinder von Matius übergegangen und dann auf ihre Kinder und so weiter. Er überlebt die Generationen und Hestis ist bis heute mit Wenterra verbunden."

"Wer ist Hestis?" Von allen Fragen, die ich hätte stellen können, ist es die. Ein fremder Name und zack entwickelt sich daraus eine Frage. Dabei wären doch ganz andere Dinge viel wichtiger zu erfragen.
"Einer der Herrscher", antwortet Kinu und bringt mich gleich dazu noch etwas zu fragen: "Es gibt mehrere?"

Diese beantwortet er mir nicht. Er scheint zu merken, vielleicht sogar zu spüren, dass ich keine weiteren Informationen verarbeiten kann.

Er steht mit den Worten: "Ich glaube, es reicht für heute" auf, während in mir erneut das Misstrauen keimt.
All das, was er mir eben erzählt hat, könnte eine Lüge sein. Wer sagt mir, dass er ehrlich ist?

"Ich habe nur ein Band durchgeschnitten", flüstere ich, als Kinu schon auf dem Weg zur Tür ist.

"Und bist mit zur Lichtung gekommen, als ich dich um Hilfe gebeten habe", fügt er hinzu und dreht sich zu mir.
"Dorias hat keinen Grund zu lügen, Alva. Ihm liegt nichts ferner, als einen Menschen hier zu haben, glaub mir, aber..."
"Woher kennst du meinen Namen?"
Ich bin mir sicher, ihn nicht genannt zu haben. Ganz sicher...
Aus schmalen Augen sehe ich ihn an.

Nun wirkt er genauso schüchtern wie wo er zu mir herein gesehen hat.
"Keanan hat ihn mir gesagt", gesteht er und es ist ihm offensichtlich unangenehm, denn er weicht meinem Blick gekonnt aus.
"Und woher weiß er ihn? Ich habe ihm nicht..."

Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Durch die Rückgabe meiner Erinnerungen, scheint er sich auch Wissen über mich angeeignet zu haben. Anders kann es gar nicht sein. Die Frage ist nur, ob es lediglich mein Name und nicht noch anderes gewesen ist.

"Ich habe meine Worte ernst gemeint. Hätte ich gewusst, dass Keanan auf dem Weg war, hätte ich dich nicht geholt. Ich bereue es sogar, denn nun ist mein Leben an das eines zerbrechlichen Menschen gebunden, der trotz dessen, dass ihm hier", er breitet die Arme aus, "nichts schlechtes widerfahren ist, nur Misstrauen übrig hat." Kinus Stimme klingt bei Gesagtem gereizt, so als sei er genervt, dass ich Fragen stelle.

"Ich wurde aus meinem Leben gerissen. Also kannst du mir es wirklich verübeln, dass ich nicht einfach so glauben kann?", frage ich genauso gereizt.
"Nicht wirklich." Er seufzt und lässt die Schultern kreisen, "Es ist wie es ist, machen wir das Beste draus."

"Weiß diese Hexe eigentlich von unserem Band?", frage ich, nachdem meine Gedanken in eine andere Richtung abgeschweift sind.
"Du meinst Jelena?"
Ich nicke.

Er schüttelt den Kopf. "Nein, tut sie nicht."
"Warum hat sie mich dann überhaupt zu sich geholt und mein Heim abgefackelt, meinen Vater getötet und meine Schwester, weiß die heilige Mutter wohin, verschleppt?"
Meine Stimme wird immer schriller.
"Wieso hat sie das getan?!"

"Weil sie neugierig gewesen ist", antwortet er schulterzuckend, als ob all das eine Kleinigkeit wäre.
"Neugierig?", echoe ich fassungslos.
"Alles, was nicht in ihr Bild passt, wird untersucht. Keanan tötete den Späher, der dich angriff. Das reicht bereits. Der Kontext ist egal. Diese Tat hat bereits ausgereicht."

"Das hat bereits gereicht", hauche ich und lasse mich aufs Bett sinken.
Ich lege den Kopf in die Hände und stöhne laut.
"Nur das war es", murmele ich und blicke hoch, um Kinu direkt anzusehen.

"Wie geht es jetzt weiter?"
Meine Frage scheint ihn zu überrumpeln.
"Was meinst du?"
"Na, wie es weiter geht? Was sind die nächsten Schritte? Wie ist die Zukunft?"

Verständnislos sieht er mich an.
"Du bist hier."
"Für immer?"
"Bis du stirbst und das Band mit dir stirbt", antwortet er ehrlich und bringt mich dazu die Augen aufzureißen.

"Das ist euer Plan, um dein Leben zu schützen?"
"Dir wird es dir hier an nichts mangeln. Essen, Kleidung, Unterhaltung, alles was du willst."
"Und wenn ich all das nicht will?", murmele ich und spüre wie ein unbeschreiblich schweres Gefühl von mir Besitz ergreift.

"Was willst du denn?", fragt er interessiert.
"Ida", hauche ich, "Ich will meine Schwester."

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