24. Der Grund
Langsam öffne ich die Augen und schließe sie direkt wieder. Es ist zu hell.
Ob ich wieder in einem Schneehügel erwachen werde? Es fühlt sich ähnlich an. Warm, weich und als würde ich liegen.
Doch als ich die Augen erneut öffne, stelle ich fest, dass mir dieses Schicksal dieses Mal erspart bleibt. Ich sehe hinauf zu einem prunkvollen Kronleuchter, der über meinem Kopf baumelt und von dem hauchzarte Flocken herabfallen, die aber nicht bei mir ankommen. So als würden sie sich vorher in Luft auflösen.
Ich liege in einem riesigen Bett, mit Kirschholz Pfosten. Zu meiner Rechten steht ein kleiner Tisch mit eisernen Ständer und einer ebenso dunklen Tischplatte, auf dem eine geschwungene Lampe mit hellem Schirm steht.
Geradezu steht ein Tisch und nebendran ein Schrank. Dieser Raum sieht geradezu gewöhnlich aus, wenn man sich überlegt, wo er sich befindet.
Ich schlage die Decke zurück und bekomme große Augen. Kein zu kurzes Hemd mehr, stattdessen trage ich meine eigene Kleidung wieder. Mein kariertes Flanellhemd und die schöne Cordhose. Sie sind sauber, sehen aus wie neu. Erstaunt betrachte ich den Ärmel. Selbst die Fäden, die normalerweise von ihm herunterhängen, sind verschwunden.
Langsam schiebe ich mich vom Bettrand. Meine Füße berühren noch nicht mal den Boden, da ertönt in meinem Rücken das knarzende Geräusch einer sich öffnenden Tür.
Ein Blick über die Schulter zeigt mir das Gesicht eines jungen Mannes, der geradezu vorsichtig hereinsieht. Als seine Augen die meinen treffen, tritt ein erfreuter Ausdruck auf seine Züge und er öffnet die Tür ganz.
Ich beobachte ihn genau, als er diese hinter sich schließt und mit vorsichtigen Schritten auf mich zu kommt.
"Du bist wach", stellt er fest und setzt sich neben mich.
Skeptisch mustere ich ihn, als er mich aus einem offenen Gesicht heraus betrachtet.
Seine wuscheligen Haare fallen ihm in die Stirn. Er sieht jung aus, mein Alter vielleicht oder jünger.
Und wieder sehe ich weiße Augen. Ein Indiz, von dem ich mittlerweile weiß, dass es für den Hof des Nordens steht. Weiße Augen habe ich bisher nur hier gesehen.
"Geht es dir gut?" Sein Gesicht nimmt einen schuldbewussten Ausdruck an.
Geht es mir gut? Ich überlege. Nicht wirklich.
"Vermutlich nicht", beantwortet er sich seine eigene Frage und lässt die Schultern hängen.
Irritiert sehe ich ihn an. Es wirkt tatsächlich so, als täte es ihm leid. Nur was sollte das sein? Immerhin habe ich ihn zuvor noch nie gesehen.
"Wer bist du?"
Eine Frage, die durchaus ihre Berechtigung findet, wenn ein Fremder sich einfach neben mich setzt und so aussieht, als hätte er eine große Schuld auf sich geladen.
Er sieht schüchtern unter den braunen Strähnen, die ihm in die Stirn fallen, hervor, neigt das Kinn und lächelt leicht.
"Du hast mich in anderer Gestalt kennengelernt."
Es braucht einen Moment bis ich realisiere, was er da eben gesagt hat und vorallem was er meint. Meine Augen werden groß.
Hüstelnd fährt er mit seiner Hand an seinen Hinterkopf.
"Du", bringe ich völlig fassungslos hervor.
"Du bist..." Meine Augen werden noch größer, "das Bärenkind."
Ein Moment der Stille vergeht, in dem ich ihn einfach nur ansehe und es schlichtweg nicht fassen kann, aber es erklärt auch eine Menge. Ich hielt mich für verrückt, dass ich glaubte, ein Bär, ein instinkt gesteuertes Tier, könne mich, und dass was ich sage, verstehen. Doch scheinbar bin ich nicht verrückt gewesen. Der Bär ist eigentlich ein Mann oder der Mann ist ein Bär... Mir schwirrt der Kopf.
"Was...?" Ich schaffe es nicht meine Frage zu beenden, da unterbricht er mich.
"Es tut mir wirklich leid, dass ich dich in unsere Welt hineingezogen habe. Als meine Mutter angegriffen wurde und ich deinen Geruch wahrnahm..." Er stockt, fasst sich an die Schläfen und blickt voller Scham nach unten, "Ich habe nicht nachgedacht."
Auch wenn ich immer noch verdaue, dass ich gerade mit einem zum Menschen gewordenen Bären rede, spüre ich dennoch so etwas wie Verständnis. Ich habe in der Situation auf der Lichtung rein gar nichts ausrichten können und dennoch klammerte sich dieser junge Mann an jeden Halm, um seine Mutter zu retten. Angst ist ein mächtiges Gefühl. Sie bringt uns dazu Dinge zutun, die wir unter normalen Umständen nie tun würden.
Und genau das hat ihn zu mir und meinem Karren geführt. "Angst", sage ich laut und sehe ihn an: "Du hattest Angst."
Er blickt auf, nickt langsam, ja fast zaghaft, als könne er sich diese Wahrheit nicht zugestehen.
"Ich kenne das Gefühl", gebe ich ehrlich zu und reibe meine Arme. Trotz des Flanellhemdes fröstelt es mich plötzlich. "Ich habe auch schon häufig Angst empfunden."
"Es tut mir wirklich leid. Hätte ich geahnt, was ich damit in Gang setze, hätte ich dich ni..."
Er stockt erneut und Scham blickt mir entgegen.
Ich verstehe den Blick sofort.
"Du hättest genauso gehandelt. Immerhin ging es um das Leben deiner Mutter und ich hätte es vermutlich nicht anders gemacht."
"Wirklich? Auch wenn du damit das Leben eines anderen in Gefahr bringst?"
Die Frage überrascht mich, sodass ich tatsächlich kurz darüber nachdenken muss. Der vernünftige Teil in mir schüttelt den Kopf und ruft laut ein ganz klares Nein. Aber wenn ich ehrlich bin, ist genau das eine Lüge.
"Ich glaube", beginne ich langsam, "dass uns am Ende das Leben der wichtiger ist, die uns am nächsten sind."
Kinu sieht einen Moment nachdenklich aus und wendet sich dann ab.
"Ich wusste nicht, dass Keanan auf dem Weg gewesen ist. Hätte ich es gewusst, hättest du dein Leben weiterleben können."
Ich sage dazu nichts. Was sollte ich auch sagen? Ich habe nach dem Tag alles verloren und wusste es bis vor kurzem nicht mal.
Sofort schiebt sich das Bild von Idas lebloser Körper vor mein inneres Auge. Die Blässe ihrer Haut, die von roter Farbe gesprenkelt wurde. Ich kneife die Augen zu und verdränge dieses Bild, doch statt Ida sehe ich nun ein anderen leeren Blick. Die aufgerissenen Augen des abgetrennten Schädels mit dem Gesicht meines Vaters.
Er war lange ein Abbild seiner Selbst. Ein Fremder, der die gleiche Stimme und das gleiche Aussehen gehabt hat, doch es war nicht der Mann, zu dem ich als kleines Mädchen aufgeblickt habe. Dennoch zu sehen, wahrhaftig zu sehen, dass er tot ist und zu wissen, dass sein Tod wie das Monster aus dem Dunklen gekrochen ist, lässt meine Brust schwer werden.
Ich nehme meine ganze Willenskraft zusammen, um folgende Worte auszusprechen.
"Manchmal führt uns unser Weg an Orte, die wir niemals aufsuchen würden", murmele ich. Ein Satz, den meine Mutter häufig sagte.
Alva, das Leben ist wie ein Gebirge. Es geht hinauf und hinab. Manchmal geht es so steil hinab, dass du das Gefühl haben wirst, dich im freien Fall zu befinden, doch wenn du unten aufkommst und nicht daran zerbrochen bist, dann geht es auch wieder hinauf.
Das sagte sie immer, wenn ich von Misserfolgen gesprochen habe. Ein Jahr lang fiel unsere Ernte schlecht aus. Das Wetter spielte uns nicht in die Karten und ich machte mir Sorgen. Als kleines Mädchen machte ich mir Sorgen. Vater war immer so gestresst und blaffte mich immer an, wenn ich etwas nicht so gemacht habe, wie er es wollte. Genau an so einem Tag sagte sie diese Worte zum ersten Mal und danach noch häufiger.
Bis zu dem Moment, als sie gefallen ist. Bei ihr ging es nicht wieder hinauf. Sie ist zerbrochen.
"Alles in Ordnung?", holt mich Kinus Stimme aus der Vergangenheit. Ich blicke auf, als sei ich gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht und nicke beschämt.
Trauer flutet meinen Geist. An Mutter zu denken tut immer weh, aber jetzt ist es viel schlimmer, denn nicht nur sie ist zerbrochen. Meine ganze Familie ist es.
Ich setze ein Lächeln auf. Will nicht, dass dieser Fremde von meinem Schmerz etwas mitbekommt und sage etwas, von dem ich nicht glauben kann, dass ich es sage, dennoch tue ich es. Es ist richtig und es ist wahr. Wir kennen die Zukunft nicht, wenn wir eine Entscheidung treffen. Das werden wir nie, doch ich weiß, dass ich am Ende genauso handeln würde.
"Ich bereue meine Entscheidung nicht dir geholfen zu haben, ", sage ich selbstbewusst.
"Sei dir da mal nicht so sicher", gelangt sein Murmeln an meine Ohren.
"Kinu", sage ich seinen Namen und fasse mir ein Herz. Sanft lege ich meine Hand auf seine Schulter, überrascht wandert sein Blick wandert von ihr meinen Arm entlang hinauf zu meinem Gesicht bis unsere Blicke sich treffen.
"Warum bin ich hier?"
Meine Stimme klingt ruhig.
Nachdenklich betrachtet er mich, seinen Kiefermuskeln spannen sich an und dann atmet er aus, so als würde alle Last von ihm fallen.
Er nimmt meine Hand von seiner Schulter, was mich überrascht und legt sie an seine Brust. Unter dem Stoff spüre ich seinen langsamen Herzschlag.
Ich wage es nicht den Blick zu heben. Betrachte nur meine Hand, die von seiner umfasst wird.
"Du spürst meinen Herzschlag", sagt er und auch wenn ich nicht aufsehe, so spüre ich seinen Blick auf mir ruhen.
"Ich habe deinen Schmerz gespürt, als du an Jelenas Hof warst. Ich habe all das erlitten, was dir angetan wurde. Jeden Knochenbruch und jeden Kratzer habe ich gefühlt."
Nun blicke ich doch auf. In meinem Blick pures Erstaunen.
"Wie..." Doch er schüttelt den Kopf, bringt mich allein mit dieser Geste zum Verstummen.
"Als du mich aus der Falle befreitest, mir das Fleisch gabst und mir zur Lichtung gefolgt bist, hast du mich gerettet."
Irritiert sehe ich ihn an. Auch wenn ich mich an alles wieder erinnern kann und seine Aufzählung keine Überraschung für mich ist, so frage ich mich, warum er davon nun spricht. Bin ich am Hof des Nordens, weil ich einen des seinen gerettet habe?
"Das hat ein Band zwischen uns geschmiedet. Eines, das mich mit dir verbindet."
Meine Augen werden groß. Seine Worte sickern langsam wie Wasser in kargen Boden in meinen Geist und ich ahne, dass das noch nicht alles gewesen sein muss, denn auch diese Begründung erklärt nicht, warum ich hier bin, jetzt genau in diesem Moment, in diesem Land, an diesem Hof, in diesem Zimmer.
Kinu scheint meine Verwirrung zu spüren, denn er lässt seine und somit auch meine Hand sinken.
"Du bist hier, weil von nun an all jenes was dir von Unsereins angetan wird, mir widerfährt. Stirbst du durch die Hand eines Blütlers, sterbe auch ich. Und du warst an Jelenas Hof, weil ihre Neugier entfacht wurde, warum der Norden mit einem Menschen interagiert."
Und das sind die Worte, mit denen ich beginne zu verstehen. Es ist, als würde ein Licht aufgehen. Und nun weiß ich auch, warum er sagte, dass ich mir da nicht so sicher sein solle.
Ich bin das kleinere Übel, von dem der Herrscher gesprochen hat.
Hätte Jelena mich umgebracht, wäre ein Sprössling des Hofes mit gestorben. Deswegen bin ich hier. Ich bin hier um die Sicherheit eines Wesen zu gewährleisten, dem ich freiwillig gefolgt bin, um im Anschluss alles zu verlieren.
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