22. Die gläserne Bibliothek

Danach senke ich den Kopf, sehe nicht mehr hoch, sehe mir nicht mehr die merkwürdige Pracht um mich herum an und auch nicht die Wesen, an denen wir vorbeilaufen. Auch wenn ich ihre Blicke spüre und ihr Gemurmel höre, sehe ich nur auf den Weg zu meinen Füßen.

Scham erfüllt mich, dass ich trotz der Lage so etwas wie Glück und Erheiterung verspürt habe. Wie konnte ich nur?

Der Weg schlängelt sich weiter bis zu einem Berg.
Ein Berg in einem Berg, wie absurd das alles ist. Erneut komme ich zu der Einsicht, dass ich träumen muss.
Doch das ist nicht der Fall wie der bremsende Griff um meine Schulter mir beweist. Ich wäre nun weiter gelaufen, einfach weiter gelaufen.

"Wir sind da", höre ich die vertraute Stimme, die mich seit meinem Aufwachen in diesem Schneehügel begleitet.
Nun hebe ich doch den Blick.

Vor uns erhebt sich dieser riesige Berg, dessen Ausläufe ich schon mit dem Blick nach unten betrachten konnte und ein blau schimmerndes Schloss mit Zugbrücke, diversen Türmen und Bogenfenstern, die alle in den unterschiedlichsten Farben schillern. Es wurde in den Berg gebaut, so als hätte man einfach ein großes Stück von ihm herausgebrochen, damit es darin Platz findet.
"Das ist mein Heim", erklärt der Weißhaarige, was mich einfach nur nicken lässt.

Die Zugbrücke ist heruntergelassen, als hätte man uns bereits erwartet.
"Komm, ich habe dir versprochen, dass du Antworten erhältst. Hier wirst du sie finden."

~•~

Das Innere des Schlosses ist anders als erwartet kein Winterwunderland. Wir gehen durch einen langen Korridor, der mit einem dicken blauen Läufer ausgelegt ist und unsere Schritte abdämpft.
Das Farbenspiel der Fenster reflektiert sich an den nackten Steinwänden und lässt sie gleich weniger blass erscheinen.

"Wo sind alle?", frage ich nach einiger Zeit. Ich erwartete Trubel. Bedienstete, Höflinge, irgendjemand, dem wir begegnen, doch seitdem wir das Schloss betreten haben ist es mucksmäuschenstill. Als hätte jede Seele es verlassen.
"Wen meinst du?" Er blickt kurz über die Schulter.
"Ich weiß nicht. Deine Untertanen? In Wenterra war am Hofe immer viel los."

Der Herrscher schmunzelt. "Hier auch."
"Wirklich?" Überrascht sehe ich mich um und komme zu der Einsicht, dass glitzernde Staubpartikel wohl kaum zu Untertanen gezählt werden können.
"Sie wollen sich nicht vor dir zeigen", kommt es von seinem Hinterkopf, als ich wieder nach vorne schaue.

"Wie?", frage ich dümmlich und hole auf, um neben ihm zu laufen, "Sie können sich unsichtbar machen?"
"Vor dir als Fremde schon. Meinen Augen und Ohren bleiben sie leider nicht verborgen."
Er wirkt so, als würde er darunter leiden und sich nach Ruhe sehnen. Sein Blick schweift sehnsuchtsvoll umher und ab und an verlässt ein Seufzer seine Lippen.

"Wenn du der Herrscher bist, kannst du es nicht einfach befehlen?"
Er sieht mich von der Seite kurz an ehe er wieder nach vorne blickt.
"Ein guter Herrscher trifft Entscheidung nicht auf seinen eigenen Wünschen beruhend. Sie alle haben hier im Schloss ihre Funktion. Würde ich sie fort schicken, könnten sie diese nicht erfüllen und es würde dem Hof schaden. Am Ende also auch mir."

Ich glaube, das war das meiste, was er jemals am Stück von sich gegeben hat.
"Ein Herrscher ist nur so gut wie sein Volk. Das müsstest du doch verstehen, oder nicht?"

Tatsächlich spricht er damit etwas an, was mich trifft. Ich habe seit Jahren ums Überleben kämpfen müssen und ich weiß, dass vielen Dörflern weit ab der Hauptstadt es ähnlich geht. Da ist kein König, der sich um unser Wohl sorgt. Wir werden uns selbst überlassen. Fressen oder gefressen werden.

"Dann bist du ein guter Herrscher", beende ich meinen Gedankengang und bleibe stehen.
"Weißt du", beginne ich, was ihn auch inne halten lässt, "ich habe soviele Geschichten über euch gehört. Wie blutrünstig ihr seid. Wie gefühllos und zu jeder Grausamkeit, die man sich nicht mal in seinen schlimmsten Alpträumen ausmalen kann, fähig. Wie ihr Mistis dem Erdboden gleich gemacht habt..."
Ich stocke.
Das Gesicht meines Gegenübers bleibt neutral.

Ich wringe meine Hände, "Aber wenn ich dir zuhöre, merke ich, dass du etwas besser machst als König Filestus in Wenterra."
Der Weißhaarige geht auf mich zu.
"Täusch dich nicht. Du weißt so wenig über uns oder auch die Geschichte deines Landes. Lass mich dir sagen", er beugt sich plötzlich zu mir herab und ich trete unwillkürlich einen Schritt zurück, "dass alles was du über uns gehört hast im Kern der Wahrheit entspricht. Wir töten und quälen, wie es uns beliebt. Wir sind genau das, was du über uns glaubst. Das hier", er macht einen langen Arm nach hinten, "ist keine Einladung an dich, weil wir Menschen mögen oder ihnen gegenüber freundlich gesinnt sind. Du bist hier, weil es das kleinere Übel ist."

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Ich bin wie erstarrt. Er richtet sich wieder zu seiner vollständigen Größe auf und blickt auf mich herab.

Ich brauche einen Moment ehe ich meinen Schock überwunden habe, dann überbrücke ich den letzten Schritt. Wut kocht in mir hoch. Was bildet sich dieser Typ überhaupt ein?
Warum ist er dann so gewesen... So freundlich?
"Ich", betone ich ungehalten, "habe nicht darum gebeten herzukommen! Wenn man es genau nimmt, wurde ich nicht mal gefra..."
"Du wärst tot, wärst du nicht hier", unterbricht er mich unbekümmert und sein lockerer Tonfall nimmt mir jeglichen Wind aus den Segeln.

"W-wi-wie bit-te? Wa-s?", stottere ich unbeholfen.
"Du wärst gestorben", wiederholt er.
"Ich...", ich schüttle den Kopf. In meinem Leben habe ich über vieles bereits nachgedacht, doch trotz der widrigen Umstände noch nie über meinen Tod.

"Ich habe dir das gesagt, damit du verstehst, dass das hier kein Ort ist, der jemanden wie dir wohlgesonnen ist. Normalerweise töten wir Menschen, die unseren Weg kreuzen."

Ich stolpere zurück und verstehe es nun endlich. Zumindest etwas. Er warnt mich und sofort muss ich an meine flapsige Art gegenüber dem Hasen denken. Ich darf es nicht vergessen. Kein Sprungkissen, kein sprechend übergroßer Hase und keine Winterwunderlandschaft dürfen es mich vergessen lassen- am Ende bin ich im Feindesland.

~•~

Danach herrscht eine angespannte Stille zwischen uns.
Ich folge ihm durch die Korridore, während ich meinen eigenen Gedanken nach hänge.
Dieser plötzliche Wandel von ihm hat mich überrascht, obwohl er für mich eigentlich nicht überraschend sein sollte. Immerhin ist er ein Arraris, das meist gefürchtetste Monster in ganz Wenterra. Doch er war mir gegenüber auch freundlich, sanft und hilfsbereit. War das alles eine Illusion?
Vielleicht hätte ich ihm kein Kompliment machen sollen. Ich weiß nicht, was da über mich kam. Doch seine Meinung verleitete mich dazu. Vielleicht habe ich dadurch eine Grenze der Distanz überschritten.

Plötzlich laufe ich in etwas hinein. Ein Rücken wie sich herausstellt. Beklommen trete ich schnell einen Schritt zurück, während ich überall hin sehe, nur nicht in das Gesicht, das mich kritisch mustert.

"Wir sind da", kommt es von ihm, "Hier bekommst du deine Antworten."
Überrascht sehe ich nun doch auf. Wir stehen vor einer riesigen Flügeltür.
Ohne ein weiteres Wort stößt er sie auf und geht hinein. Etwas unsicher trete ich von einem Fuß auf den anderen bis ich mir einen Ruck gebe und ihm folge.

Meine Mund formt sich zu einem O, während ich mich umsehe.
"Wahnsinn", hauche ich voller Faszination. Vor mir eröffnet sich eine riesige, gläserne Bibliothek mit drei Balkonen.
Ich kann durch Regale und durch Wände nach draußen sehen. Wie verrückt ist das denn?
Ein verschneiter Wald, dessen Bäume sich bis zum Horizont erstrecken, erwidert meinen Blick.
"Was ist das?", entkommt es mir, während ich den Blick zu allen Seiten schweifen lasse.
"Wir nennen sie die gläserne Bibliothek", antwortet der Herrscher und geht an mir vorbei zu der marineblauen Sofagarnitur, die mittig im Raum angeordnet ist.

Hinter ihr lodert in einem imposanten und auch gläsernen Kamin ein Feuer. Es knackt und knistert, dabei befindet sich im Kamin selbst kein einziges Holzscheit. Es sieht so aus, als würde es aus dem Glas entstehen und von ihm genährt werden.

Verrückt... Ich kann es nur immer wieder betonen. Es ist verrückt. Alles ist hier so anders. Nicht an Naturgesetze gebunden. Es ist... magisch.

Die Regale sind mit Büchern gefüllt. Schmale, dicke, kleine und große. Unzählige Farben und unzählige Lettern. Ich habe noch nie so viele Bücher gesehen.

Einige sehen so alt aus, als würde die bloße Berührung sie zu Asche zerfallen lassen.

Auch wenn ich mich an diesem Anblick nicht satt sehen kann, so wächst in mir dennoch eine Skepsis heran.
"Soll ich etwa nachles...", ich halte inne und korrigiere: "Ich verstehe nicht, wie ich hier eine Antwort bekommen soll", gebe ich ehrlich zu, obwohl mir im ersten Moment eine ganz andere Frage auf der Zunge gelegen hat.

Der Weißhaarige, der mittlerweile Platz genommen hat und dessen weißes Gewand ganz wunderbar zu den Polstern passt, blickt nach oben.
"Er hält sich hier am liebsten auf", murmelt er.
Bevor ich fragen kann, wer er ist, ruft der Herrscher bereits: "Nun komm schon runter!"

Nun folge ich doch dem Blick und zucke zusammen, als ich eine Gestalt am obersten Geländer sehe. Wie konnte ich ihn eben nicht bemerkt haben? Ein Mann blickt auf uns herab und selbst aus der Distanz kann ich seinen grimmigen Blick sehen. Irgendwas kommt mir an ihm bekannt vor, doch mir will auf biegen und brechen nicht einfallen was. Diese pechschwarzen Haare und diese eisblauen Augen...
Moment, ich kann die Farbe auch aus der Distanz erkennen?

Ich stolpere zurück. Was zum...?
"Zügle dich, du scheinst ihr Angst zu machen", kommentiert der Sitzende und schlägt seine Beine übereinander.
Das Leuchten der Augen nimmt ab. Nun kann ich nicht mal mehr sagen, welche Farbe sie haben.

Oh heilige Mutter...

Plötzlich löst er sich in Luft auf. Er ist einfach weg. Meine Augen suchen das ganze Geländer ab, doch er ist nirgends zu sehen.
Der Weißhaarige seufzt und sieht mich direkt an: "Erschreck dich nicht."
"Was... Warum?"
"Weil ich hinter dir bin", antwortet eine andere Stimme ganz dicht an meinem Ohr. Sämtliche Nackenhaare stellen sich auf, als ich einen Satz nach vorne mache und herum wirble.
Mein Herz bollert nur so in meiner Brust... trotz der Warnung.
"Wie? Wie bist du...?" Ich sehe nach oben und an die Stelle, wo er nun steht, "Wie hast du...?"
Da ist sie weg, die Fähigkeit eine vollständige Frage zu formulieren.

Er grinst abschätzig und geht an mir vorbei.
"Das genieße ich immer wieder", sagt er zum Weißhaarigen, als er sich neben ihn setzt.

Wie vom Donner gerührt stehe ich da. Ich brauche einen Moment ehe ich meine Sprache wieder finde.
"Warum bin ich hier? Nur damit ich erschreckt werde? Macht euch das an?"

Dahin sind die guten Vorsätze. Soviel dazu, die Zunge hüten.
"Wo sind meine Antworten?", knurre ich, obwohl meine innere Stimme mich anbettelt endlich die Klappe zu halten, setze ich sogar noch einen drauf.
"Wie stark ihr sein müsst, wenn ihr euch an dem Schrecken einer wehrlosen Frau ergötzt?"

Was rede ich hier eigentlich? Wehrlose Frau? Innerlich kann ich nur den Kopf schütteln, aber verdammt, was bilden die sich eigentlich ein?

"Hör auf dich künstlich aufzuregen. Du kannst froh sein, dass dein Kopf noch auf deinem Körper sitzt", antwortet der Schwarzhaarige mir und grinst hämisch, "Normalerweise passiert jemanden anderes, wenn ich lautlos hinter ihm erscheine."

Drohung, Drohung, Drohung, ruft meine innerliche Stimme, während meine Wut sich aufbläst wie ein Ballon. Kurz vorm Platzen.
"Oh wie gnädig... Nun da muss ich wohl vor dem werten Herren auf die Knie fallen, um meinen Dank auszudrücken", gebe ich sarkastisch von mir und bereue es schon im nächsten Moment, als der Kerl mich dreckig an lächelt.
"Das könnte mir gefallen."

Ich werde puterrot im Gesicht, ob vor Wut oder Scham kann ich nicht genau bestimmen, doch bevor ich etwas sage, was ich wirklich bereuen könnte, mischt sich der Weißhaarige ein.

"Hört auf wie kleine Kinder zu streiten. Du wolltest Antworten, hier sind sie." Er zeigt auf seinen Nebenmann.
Meine Wut löst sich innerhalb einer Sekunde auf. Irritation tritt an ihre Stelle. "Was?", frage ich verdattert.

"Genau", stimmt der Schwarzhaarige zu und zeigt mit einem fiesen Blick auf sich selbst, "Ich bin deine Antwort. Du musst nur herkommen und sie dir holen."

Das klingt wie der Anfang vom Ende und ich zweifle daran, dass ich mich freiwillig auch nur einen weiteren Schritt in seine Nähe begebe. Warum sollte er Antworten für mich haben? Wer ist er und warum muss ich ihm dafür näher kommen?

Das ungute Gefühl wächst in mir heran. Aber was soll ich anderes tun? Hier stehen bleiben und Däumchen drehen, kann auch nicht die Lösung sein und so wie es aussieht, werden die beiden Herrschaften sich nicht erheben.
Wartend sehen sie mich an, während der Hohn im Gesicht des Schwarzhaarigen wächst.

"Traust du dich etwa nicht?"
Ich schüttle den Kopf, "Nein", antworte ich ganz ehrlich, setze mich aber dennoch in Bewegung.

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