19. Heilung
Was ist passiert? Wo bin ich?, schießt es mir durch den Kopf.
Es ist hell, viel zu hell, dafür, dass ich tot sein müsste oder habe ich nun einen Platz bei der heiligen Mutter? Ist es deswegen so hell?
Ich öffne die Augen und kneife sie direkt wieder zu.
"Zu hell", brumme ich.
"Dagegen kann ich nichts tun, auch wenn ich es gerne würde", antwortet mir eine unbekannte Stimme.
Ich müsste nun Schock oder Angst empfinden oder zumindest einen Hauch von Überraschung. Doch da ist nichts. Mein Geist erwacht nicht, fühlt sich an, als befände er sich in einem undurchdringbaren Dunst des Nichts. Selbst mein Körper fühlt sich an, als würde er schweben, als sei er nicht existent.
Das ist alles so merkwürdig, dass ich nun zumindest doch die Augen öffne. Eine Lichtlandschaft ohne Konturen. Es dauert bis sich ein Bild formt und das sorgt dafür, dass sich mein Mund zu einem O öffnet.
Schnee - überall Schnee, wohin das Auge auch blickt, ein verhangener Himmel, von dem unzählige kleine Flocken herunter rieseln und weit in der Ferne Bäume, die wie ein gemalter grauer Strich den Horizont vom Boden trennen. Noch nie sah ich so eine große, leere Fläche, in der sich nichts befindet. Hier sind keine Hütten, keine Ställe, keine Viehherden. Es finden sich nicht mal vereinzelte Bäume oder Büsche. Ein riesiger leerer Platz.
Nur langsam schweifen meine Augen von meinem Umfeld meinen Körper hinab und es dauert nicht lange, da weiten sie sich.
Was zum?
Mein Körper steckt in aufrechter Position in einem Schneehügel, dennoch habe ich das Gefühl, als würde ich liegen. Neben dem Schneehügel kniet ein Mann.
Ein alter Mann, betrachtet man den hellen Haarschopf, der sich kaum vom Schnee abhebt.
"Wo bin ich? Und was macht Ihr da?!"
Der Mann, der seine Hände bis zum Ellenbogen in meinen Hügel gesteckt hat, blickt auf. Doch nicht alt, jung, sehr jung sogar. Jünger, als man es seiner Haarfarbe hätte denken können.
Ein feminines Gesicht, dennoch mit ausgeprägten Wangenknochen und schmalen Lippen begutachtet mich aus weißen Augen. Ich blinzele, in dem Glauben, ich hätte Wahrnehmungsstörungen.
Weiße Augen, dunkel, weiße Augen dunkel, weiße Augen, dunkel, weiße Augen...
Mein Mund öffnet sich und heraus kommt ein Ton des Unglaubens. Er hat weiße Augen. Ob er wie Sokis blind ist, doch selbst er hat nicht so helle Augen. Und er scheint sehen zu können, das sagt mir allein die Art und Weise wie er mich betrachtet.
"Am Hof des Nordens", antwortet der Mann neutral, als hätte ich ihn nach dem Wetter gefragt. Seine Antwort bringt mich zum Grübeln, doch mein Kopf will die Information nicht so richtig verarbeiten. Etwas klingelt, doch es ist so zart, dass ich damit nicht viel anfangen kann und warum ich in einem Schneehügel stecke, beantwortet mir diese Antwort auch nicht.
"Und hier?" Ich blicke vielsagend herab, auch wenn schwierig ist. Der Schnee ist bis zu meinem Kinn aufgetürmt.
Der Mann folgt meinem Blick.
"Im Schnee?"
Ich nicke daraufhin und jedesmal tippt mein Kinn die weiße Masse an.
Verwirrung explodiert in mir.
"Nicht kalt", stelle ich dümmlich fest und tippe mit meinem Kinn den Schnee erneut an, ungeachtet dessen, dass mein ganzer Körper darin steckt.
Der Mann murmelt etwas und wenn ich es mir nicht eingebildet habe, war es sowas wie: Da hat sich Kinu ja eine ganz schlaue ausgesucht...
Etwas lauter sagt er: "Du warst verletzt. Ziemlich schlimm sogar. Der Schnee heilt."
Den letzten Teil habe ich zwar gehört, aber ich hänge noch immer in der Aussage, ich sei verletzt gewesen. Es fühlt sich nicht so an und warum sollte ich verletzt gewesen sein. Was ist passiert?
Ehe mir die Zeit nehme weiter darüber nachdenken, entscheide ich, dass ich erstmal aus diesem Hügel raus muss. Auch wenn die Schneemasse schwer liegt und mein Körper gefangen nimmt, beginne ich mich wie ein Aal zu winden. Schneebröckchen kullern zu Boden, was den Mann streng auf blicken lässt.
"Was tust du da?"
Als ob das nicht offensichtlich wäre....
Ich schnaufe vor Anstrengung und merke wie ich einen hochroten Kopf bekomme.
"Ich... versuche... hier... rauszukommen...", keuche ich.
Der Weißhaarige erhebt sich und verschränkt die Arme vor der Brust. Fehlt nur noch, dass er mit seinem Fuß auf den Boden tippt.
Moment, ich mache einen langen Hals.
"Du bist ja barfuß!"
Er schnauft, "Wusste nicht, dass wir bereits beim Du sind."
"Ist das nicht kalt?"
Was rede ich hier eigentlich schon wieder? Zeit aus diesem Hügel rauszukommen.
Während ich mich abmühe und meinen Befreiungsversuch wieder aufnehme, seufzt der Weißhaarige laut und beginnt am Ärmel seines grauen Gewands zu zupfen.
Unbeteiligt steht er neben mir, als hätten seine Hände eben nicht bis zum Ellenbogen in meinem Hügel gesteckt.
Ich trage Schicht um Schicht ab, wobei abschütteln wäre die richtige Bezeichnung.
Mittlerweile sind meine Schultern frei und ich bin mir sicher, wenn ich an den Beinen ankomme, brauche ich eine gehörige Portion Schlaf. Ich bin jetzt schon fix und fertig, dabei kann ich noch nicht mal meine Taille sehen.
"Ich könnte dir helfen", sagt er gedehnt, während er noch immer ganz versessen auf seine Ärmel scheint.
"Wirklich?", keuche ich, während ich beginne meine Schultern kreisen zu lassen.
"Hmmhmm..."
Ich halte inne und rolle mit den Augen. "Dann tu es doch einfach."
"Du hast mich nicht gebeten", stellt er fest. Meine Augen werden groß.
Ernsthaft?
"Dann bitte ich dich eben jetzt."
Der Weißhaarige sieht einen Moment nachdenklich aus, doch dann nickt er. Er winkt kurz, so als versuche er eine Fliege zu vertreiben.
Wusch!
Der Schnee wirbelt davon, als hätte ihn eine Windböe erwischt und ich stehe da, frei und in einem viel zu kurzen Nachthemd.
Nun lodert mein Gesicht nicht vor Anstrengung sondern vor Scham.
"Wer hat mich umgezogen?", frage ich und schaffe es kaum aufzublicken, während ich mit den Händen probiere den Saum des Hemdes hinabzuziehen. Das sorgt dafür, dass an anderer Stelle der Stoff zu kurz ist.
Entrüstet schnaufe ich und lasse den Saum fallen.
"Deine Wunden sind verheilt", antwortet er sachlich und tritt einen Schritt zurück, während sein Blick über meinen Körper wandert.
Das macht es noch viel schlimmer. Ich unterdrücke den Drang mich wegzudrehen. Stattdessen nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und gehe energisch auf den Mann zu.
Meine Füße versinken im Schnee, mir müsste eigentlich bitterkalt sein. Doch das ist etwas, darüber denke ich wann anders nach. Nun komme ich direkt vor ihm zum Stehen und blicke zu ihm hoch.
Er ist größer, als es die Position in meinem Hügel erahnen ließ. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, damit sich unsere Blicke treffen und mit meinen 1.75m bin ich nicht gerade klein geraten.
Unbeeindruckt erwidert er meinen Blick.
und diese Gleichgültigkeit sorgt dafür, dass meine Fragen geradezu aus mir heraus platzen.
"Wer bist du? Wo bin ich? Was ist passiert?!"
Dass er den Schnee mit einer Handbewegung einfach wegwischen kann, lässt mich böses ahnen, aber bei der heiligen Mutter, was ist passiert, dass ich hier überhaupt her gelangt bin?!
In meinen Kopf herrscht ein undurchdringbarer Nebel und egal wie sehr ich es versuche auch nur einen Funken einer Erinnerung zu finden, es bleibt dunkel. Da ist nichts.
Es wird Zeit für Antworten.
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