12. Eis und Schnee
"Wann wollen wir es ihm sagen?", fragt die Frau mit den kinnlagen Haaren, deren Spitzen zu jeder Bewegung hin und her schwingen.
Er sitzt auf dem Schreibtischstuhl und sie auf dem dazugehörigen Tisch. Ihr eines Bein ruht auf dem anderen, während sie ihn nachdenklich ansieht.
Dunkle Haarbüschel sprießen in ihrem Gesicht, den nackten Beinen und Armen. Ihre Verwandlung ist noch nicht komplett abgeschlossen.
Auch das Braun ihrer Augen ist noch zu sehen. Nur langsam färbt die Farbe des Schnees ihre Iris weiß.
"Wir können es nicht vor ihm verbergen. Der Eid..."
Er unterbricht sie. "Der Eid trägt uns nur auf, den Hof des Nordens zu schützen. Nicht aber wie wir das tun."
"Ist es ein Schutz, wenn wir ihn nicht darüber nicht unterrichten?"
Er drückt sich vom Tisch weg, um Abstand zu ihr zu gewinnen.
"Kenaen." Sanft weht ihre Stimme zu ihm, streichelt seine geschundene Seele.
"Was soll ich ihm sagen? Dass dein Sohn eine Sterbliche zu Hilfe geholt hat und ich sie am Leben gelassen habe?", braust er auf.
"Du hast es Kinu versprochen", sagt sie und steht auf, um den Abstand zwischen ihnen wieder zu verkleinern, "Und mir auch. Sie hat ihn befreit, gab ihm Essen und ließ sich von ihm zur Lichtung führen. Wäre sie nicht gekommen, stände ich nun nicht mehr hier."
"Ich weiß." Er seufzt und reibt sich übers Gesicht. "Dennoch verkompliziert es alles umso mehr."
"Gräm dich nicht. Wir haben Gejo. Er hat gestanden, du hast es doch selbst aus ihm heraus geprügelt. Wenn Jelena etwas unternimmt, können wir dagegen halten. Der Pakt-"
"Der Pakt ist ein Witz", beendet Kenaen ihren Satz und seufzt, "Ich werde ihn unterrichten, aber ich wähle meine eigenen Zeitpunkt.
"Tu das", murmelt Nila und streicht ihm beim Gehen über die Schulter, "Lass dir aber nicht zu viel Zeit."
~•~
Im Thronsaal schneit es. Dorias scheint heute gute Laune zu haben. Als Kenaen das letzte Mal den Thronsaal betreten hat, fegte ein Schneesturm gerade durch ihn hindurch.
Der Herrscher des Nordens, ein hochgewachsener Mann mit schneeweißem Haar und hellen Augen, sitzt auf seinem Thron aus Eis und liest in einem dicken Wälzer.
"Was kann ich für dich tun, Kenaen?", fragt er, während eine Seite umblättert und seine Augen über die Zeilen schweifen.
"Ich habe dir heute nicht alles erzählt", gesteht Kenaen und tritt vor den Thron. Er verbeugt sich nicht, wartet nur darauf, dass der Herrscher des Nordens und gleichzeitig sein engster Freund den Blick hebt.
"Das dachte ich mir bereits. Du bist vorhin aus dem Thronsaal gestiefelt, als seist du wirklich verärgert. Gejo scheint deine Stimmung gehoben zu haben."
Dorias blickt auf, klappt das Buch zu und legt es auf seine Armlehne. Sofort breiten sich Eiskristalle auf dem Einband aus.
"Er war hilfreich", antwortet Kenaen vage.
"Nun gut, da es dir nun besser geht, was willst du berichten?"
"Nila wäre heute beinahe gestorben", beginnt er und hat das Gefühl, wenn er damit das Gespräch beginnt, dass der Ausgang dann milder verläuft.
"Hmmhmm, ich hörte bereits davon."
"Jelenas Späher griffen sie im neutralen Gebiet an."
Dorias seufzt. "Komm zum Punkt."
Nun wird Kenaen doch nervös.
"Ich war zu spät. Kam in letzter Sekunde."
"Kenaen", mahnt Dorias ungeduldig.
"Kinu hat ein Menschenmädchen zum Kampf geführt. Das hat den Kampf hingezogen, sodass ich ihn beenden konnte."
"Eine Sterbliche?", fragt Dorias ungläubig.
Er nickt.
"Und dann hast du sie getötet?"
Jetzt kommt der unangenehme Teil.
Kenaen schüttelt langsam den Kopf und wenn er es sich nicht einbildet, wird es gerade um einiges kälter im Thronsaal.
"Du hast sie am Leben gelassen?" Dorias Stimme ist kälter als Eis.
Er erhebt sich, geht langsam auf ihn zu, lange und stolze Schritte, die nur ein Herrscher der sechs Reiche machen kann.
Vor ihm kommt er zum Stehen.
Weiße Augen bohren sich in blaue Augen. Dorias Gesicht ist wie eine Maske, erstarrt und zu keinerlei Gefühl fähig.
"Ich habe ihr die Erinnerung genommen. Sie könnte nicht mal etwas erzählen, wenn sie wollte und selbst wenn, die Menschen hören nicht auf einen der ihrigen. Sie beenden lieber ein Leben, als nur einen Funken Glauben aufzubringen."
Kenaen muss an den Jungen denken, der in Jelenas Intrige verwickelt worden ist und sein Leben damit bezahlt hat.
Dorias bricht den Blickkontakt daraufhin ab.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen geht er in Richtung Thron, bleibt aber auf halber Strecke stehen.
"Warum hast du ihr Leben nicht genommen?"
Kenaen schluckt.
"Kinu, er ging mit uns rüber." Und bevor Dorias zu einer Frage ansetzen kann, schiebt er hinterher: "Wir wussten es nicht. Du weißt, wie er ist..."
Dorias seufzt und fasst sich an die Stirn. Der Herrscher des Nordens wirkt müde.
"Wird Zeit, dass er seine Prüfung ablegt. Sein Wagemut bringt den Hof in Gefahr."
"Er tappte in eine Menschenfalle. Das Mädchen hat ihn daraus gerettet und ließ ihn gehen."
Dorias wirkt nachdenklich, "Hat er es gefordert?"
Kenaen, kurz überrascht vom plötzlichen Themenwechsel, nickt, "Er wollte nicht, dass ich sie töte. Drohte mir, dass er mein Leben beenden würde, sobald er in der Lage dazu sei."
Dorias wirkt plötzlich viel älter, als sein Körper aussieht und das obwohl er schon mehr als 1000 Jahre über die Erde wandelt. Das Jugendliche ist aus seinem Gesicht komplett verschwunden.
"Dass so eine Tat bereits ausreicht", murmelt er, "Das wäre neu."
"Was meinst du?", fragt Kenaen und verlagert sein Gewicht vom einen Bein aufs andere.
"Was glaubst du, warum Wenterra noch von Menschen besiedelt wird, als einziges Land auf diesen Kontinent?"
Die Frage überrascht Kenaen und er versteht den Zusammenhang zu der jetzigen Situation nicht.
"Weil Hestis und du des Kämpfens müde geworden seid und einen Waffenstillstand ausgehandelt habt."
Dorias nickt. Er zeigt auf sich selbst.
"Auf mich mag das zutreffen, aber Hestis Hintergrund war viel komplexerer."
"Wirklich?", fragt Kenaen trocken. Jedesmal wenn er den Herrscher des Westens sieht, hat er das Gefühl seine Mordgier übersteigt selbst die von Jelena. Er ist ein grausamer Herrscher, der sein Volk für das kleinste Fehlverhalten bestraft.
Bei den Feierlichkeiten zu dem Geburtstags seines Sohnes, hat er eine Bedienstete vor versammelten Gästen auspeitschen lassen, weil ihr eine Porzellantasse vom Tablett gefallen ist. Das arme Ding durfte danach die Gäste weiterhin bedienen. Er drohte ihr, sollte noch etwas runterfallen, würde sie mit dem Leben dafür bezahlen.
Kenaen sieht noch den schlurfenden Gang der Rothaarigen, als sie ihm Tee anbot und das Zittern ihrer Hände, während Blut ihren Rücken silbern färbte.
"Hestis ist bestimmt alles. Ein Menschenfreund sicherlich nicht."
Menschen waren in seiner Welt noch weniger wert, als die Silberblütler.
"Da magst du Recht haben. Dennoch ist er damals die treibende Kraft gewesen, dass der Krieg endet."
"Ich verstehe es nicht", gibt Kenaen ehrlich zu, "Warum sollte er?"
Dorias lächelt und setzt sich wieder auf seinen Thron. Er legt die Hände ineinander sowie er es immer tut, wenn er zu erzählen beginnt.
"Hestis und ich kämpften damals an vorderer Front. Wir führten beide Legionen an. Waren bereits dabei Vensessas einzukesseln, das ist heute eines der Herrschaftsgebiete von Hestis, doch dann stellten sich uns eine menschliche Armee in den Weg. Angeführt von niemanden geringeren als König Matius aus Wenterra. Wir waren ihnen natürlich überlegen, dachten wir zumindest, bis unsere Männer fielen-"
"Wie kann das sein?", unterbricht Kenaen überrascht. "Kein Mensch kann Blütler töten. Nicht mit diesen billigen Materialien, die sie Waffen nennen."
"Ich weiß", antwortet Dorias und lächelt, "Nur hatten sie keine gewöhnlichen Waffen."
Kenaen sieht ihn aus weit aufgerissen Augen an. "Wie?", bringt er gerade so heraus.
"Das kann ich dir nicht beantworten", gibt Dorias unbekümmert von sich, "Ich habe nicht gefragt."
Kenaen schnauft, will gerade ansetzen etwas zu sagen, da redet sein Herrscher weiter: "Matius kämpfte mit Hestis. Es war ein Kampf um Leben und Tod. Er gewann die Oberhand und kurz bevor er Hestis den Todesstoß zu versetzen wollte, begann dieser zu flehen."
Kenaen entkommt ein trocknes Lachen.
"Das sieht ihm ähnlich und dann rammt er dir, sobald du dich abwendest seine Lanze in den Rücken." Etwas, was Kenaen häufig genug bei Showkämpfen seiner Generäle beobachten konnte.
Dorias nickt, "Genau das hatte er vor. Und Matius ließ tatsächlich sein Schwert sinken. Er sagte ihm, dass er keine winselnde Hunde töten könne. Hestis war bereits im Stande einen Gegenangriff zu starten, doch er konnte es nicht."
"Er konnte es nicht?"
Dorias schüttelt den Kopf. "Er konnte es nicht. Etwas hinderte ihn und plötzlich spürte er die Gefühle des Mannes, der ihn verschont hatte. Keiner weiß es, Kenaen, es ist ein gut gehütetes Geheimnis von Hestis und mir. Es ist auch kein Zufall, dass es unsere Reiche sind, die sich zum größten Teil um Wenterra herum befinden. Dass wir in den Pakt mit den anderen Herrschern aufgenommen haben, dass die Grenzen der Reiche nicht unerlaubter Weise überschritten werden dürfen."
Kenaen sieht Dorias fragend an. Er versteht nichts. Doch er muss nicht fragen, denn Dorias gibt ihm von selbst die Antwort.
"Rettet ein Mensch, ohne Eigennutz oder Hintergedanken, einem Blütler das Leben, entsteht ein Bund, der den Blütler mit dem Menschen verbindet. Zumindest sagen das Legenden aus ganz alter Zeit. Ich habe selbst nicht daran geglaubt bis ich mit Hestis in diesen Krieg gezogen bin. Aus Angst, dass jemand von seinem Geheimnis erfahren könnte, vernichtete er sämtliche Aufzeichnungen aus dieser Zeit und ich behielt sein Geheimnis für mich, immerhin ist er nicht nur ein Freund, sondern auch ein treuer Verbündeter meines Hofes."
Dorias seufzt, "Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass mir die Sagen der Legenden nochmal begegnen würden und vorallem nicht, dass es sich dabei um einen meiner Untertanen handelt." Er seufzt erneut und wirkt nachdenklich, während in Keanan die Skepsis immer größer wird.
"Aber", Er zieht die Augenbraue hoch, "Matius verschonte ein Leben. Rettete es nicht."
Dorias zuckt mit den Schultern, "Frag mich nicht, was Mutter Natur sich dabei gedacht hat."
Schweigen erfüllt den Thronsaal. Leise rieselt der Schnee, doch er kommt nicht auf dem eisigen Boden an, so als würde er sich kurz vorher in Luft auflösen.
"Das heißt also...", Keanan lässt den Satz offen nachklingen, während sein Verstand die Informationen verarbeitet.
Es dauert einen Moment ehe er die Augen aufreißt und laut aufkeucht.
"Das heißt, dass Kinu einen Bund einging und sollte das Mädchen getötet werden, wird er auch sterben."
Kenaen wird heiß und kalt, als ihm bewusst wird was das bedeutet. "Was?", fragt Dorias, dem der Blick seines Freundes scheinbar nicht entgeht.
"Der andere Späher ist geflohen."
Dorias sieht ihn entgeistert an. "Das erzählst du mir jetzt?"
Kenaen ballt die Hände zu Fäusten. "Ich ahnte ja nicht, worauf das hinausläuft."
Dorias steht ruckartig auf. Der entspannte Gesichtsausdruck, den er beim Erzählen angenommen hat, ist völlig verschwunden.
"Bring sie her. Wenn Jelena sie in die Finger bekommt, ist Kinus Leben in Gefahr und mein Hof gleich mit. Ich mache mich nicht erpressbar wegen eines Menschen!", donnert seine Stimme wie ein Gewitter durch den Thronsaal.
Der Schnee wandelt sich in große Hagelkörner, der Wind nimmt zu. Ein Sturm droht den Thronsaal zu verwüsten.
"Aber wenn sie von diesem Bund gar nichts weiß", gibt Kenaen zweifelnd zu Bedenken.
"Wenn sie glaubt, dass die Sterbliche Verbindung zu uns hat, dann ist egal, ob sie etwas vom Bund weiß oder nicht. Und sie wird es glauben, da bin ich mir sicher."
Die Stimme des Herrschers hallt wie ein böses Omen durch den Saal.
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