11. Dunkle Leere
"Wo warst du denn?!"
Jemand rüttelt an meiner Schulter, fest, unnachgiebig und holt mich so aus einem viel zu tiefen Schlaf.
Ich blinzele. Über mich gebeugt, mit Zornesröte im Gesicht, steht Ida. Ihre Hand liegt noch immer viel zu schwer auf meiner Schulter.
"Wir haben uns bereits Sorgen gemacht! Es ist mitten in der Nacht. Normalerweise sagst du Bescheid, dass du heimgekommen bist!"
Ich gähne herzhaft und richte mich auf.
Die Wände meines Schuppen umgeben mich, während mein Körper unter der Decke steckt, die beim Aufsetzen nun von meiner Brust rutscht.
Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und sehe Ida an.
"Du scheinst heute nichts verkauft zu haben. Ist es der Scham gewesen, der dich abgehalten hat, zu sagen, dass du wieder zurück bist?"
Orientierungslos sehe ich sie an und winke ab.
"Lass mich erstmal wach werden."
Solche Gespräche, die voraussetzen, dass ich nachdenke, kann ich nicht direkt nach dem Aufwachen, führen.
Ida schnauft, tritt aber dennoch einen Schritt zurück.
Das Licht der Laterne, in ihren Händen, taucht ihre eine Gesichtshälfte in Schatten. Ihre Haare stehen ab, so als sei sie nicht zur Ruhe gekommen und hätte sich hin und her gewälzt.
Machte sie sich vielleicht wirklich Sorgen, weil ich nicht rein gekommen bin?
Doch warum?
Sie hat recht damit, dass ich normalerweise immer meine Rückkehr ankündige.
Ich überlege, lasse den Tag Revue passieren. Auf dem Marktplatz machte die andere Bäuerin mir meine Kunden abspenstig, deswegen verkaufte ich nichts. Schon mal eine Antwort auf eine von Idas Fragen.
Der Mann, oh...
Sofort schiebt sich sein zermaschtes Gesicht vor mein inneres Auge und ich muss mich beherrschen nicht vor Ida zu würgen.
Seine schmerzerfüllten Schreie hallen in meinen Ohren wieder.
Ich kneife die Augen zusammen, denke weiter.
Denke an den Moment, als ich den Weg verlassen habe und auf dem Trampelweg weiter gegangen bin.
Es war anstrengend, der Karren war voll.
Ich stocke, scheinbar so, dass es selbst Ida auffällt.
"Was?"
Ich krame mich durch meine Erinnerungen, doch ab dem Trampelweg ist alles dunkel. Wie kann das sein?
Ich kann mich weder daran erinnern heim gekommen zu sein noch daran, dass ich den Schuppen aufsuchte.
"Was?", fragt Ida erneut. Ungeduld liegt in ihrer Stimme.
Ich blicke in ihr Gesicht.
"Ich kann mich nicht erinnern, wie ich heim gekommen bin."
Sie harrt einen Moment aus, scheint selbst zu überlegen.
"Bist du vielleicht auf den Kopf gefallen?"
"Ha ha, sehr witzig. Ich meine das ernst."
"Ich auch", antwortet sie trocken und hockt sich vor mich.
Plötzlich schwebt ihre Laterne direkt vor meinem Gesicht. Meine müden Augen schließen sich.
"Hmm", macht sie, während ich das Quitschen der Laterne höre. Ihre andere Hand tastet vorsichtig meinen Kopf ab.
Der Lichtkegel entfernt sich aus meinem Gesicht.
"Ich sehe nichts, was auf eine Kopfverletzung hindeutet", stellt sie fest.
"Ich bin ja auch nicht gefallen", antworte ich scharf.
"Woher willst du das wissen, wenn du nicht mal mehr weißt, wie du her gekommen bist?"
Ich seufze. Punkt für sie.
"Also", sagt sie langgezogen, "Da ich weiß, dass du wieder da bist, kann ich ja endlich in Ruhe schlafen. Ich sehe mir dich morgen nochmal im Tageslicht an. Diese kleine Lampe..." Sie hebt sie ein Stück an und schüttelt dann den Kopf, "ist viel zu schwach."
"Ida", sage ich ihren Namen, als sie sich gerade umdreht.
Sie blickt über die Schulter. "Hmmm?"
"Hast du dir wirklich Sorgen gemacht?"
"Natürlich, du bist meine Schwester", antwortet sie wie selbstverständlich und verlässt daraufhin den Schuppen.
Wärme ergreift von mir Besitz und ich erinnere mich daran, warum ich ihr Käse mitbringen wollte.
~•~
"Dreh dich mal", fordert Ida.
Wir stehen vor dem Schuppen. Die Sonne schiebt sich allmählich an den höchsten Punkt des Himmels.
Überraschenderweise konnte ich nach ihrem nächtlichen Besuch sehr schnell einschlafen und habe im Vergleich zu den anderen Nächten auch wirklich lange geschlafen.
Bis Ida mich erneut geweckt hat, weil sie sich sorgte, ob ich im Schlaf gestorben sei. Normalerweise bin ich immer vor ihr wach.
Idas Körper steckt in einem hellroten Mantel, den ich ihr vor ein paar Jahren geschenkt habe. An einigen Stellen ist der Stoff dunkler als an anderen, was daran liegt, dass ich ihn stopfen musste. Doch er hält sie warm und manchmal, wenn sie wirklich guter Dinge ist, scherzt sie, dass ihr Mantel ein einzigartiges Stück sei.
Ich hingegen stehe in meinem Nachthemd vor ihr und fröstle.
Nur meine Füße stecken in meinem warmen Stiefeln.
Ida hat sich heute morgen zur Aufgabe gemacht meinen gesamten Körper abzusuchen. Auf meine Frage, ob wir das nicht drinnen tun könnten, hat sie nur geantwortet, das Licht sei hier besser.
Also lasse ich die kalte Luft und ihre kalten Finger einfach über mich ergehen, während ich bete, dass sie bald fertig ist.
Sie hebt gerade mein Nachthemd an und irgendwie beginne ich zu vermuten, dass es ihr eine diebische Freude bereitet mich bibbern zu sehen.
Es dauert ewig bis sie sagt: "Da ist nichts", und sie den Stoff wieder fallen lässt.
Nachdenklich steht sie mir gegenüber, die Stirn in Falten gelegt.
"Du siehst völlig normal aus. Keine einzige Wunde, nicht mal eine Schramme. Alles gut."
Ich nicke und eile an ihr vorbei in die Hütte.
Das empörte Hey ignoriere ich, als ich meinen Mantel vom Harken pflücke und mich in dem warmen Stoff einhülle. Sofort verlässt ein wohliger Atemzug meine Lippen.
"Man hätte eben meinen können, dich hätte es geärgert, dass ich nichts finde", sagt Ida, als sie durch den Türrahmen tritt und die kalte Herbstluft aussperrt.
"Mir war kalt", gebe ich das Offensichtliche von mir und ziehe den Mantel enger um meinen Körper.
"Ihn hast du scheinbar noch reingebracht."
Verwirrt sehe ich Ida an, was sie dazu bringt auf meinen Mantel zu zeigen.
"Du hast ihn doch eben von der Garderobe genommen, oder nicht?"
Mit großen Augen blicke ich an mir herunter. Sie hat recht. Ich muss drinnen gewesen sein, ansonsten hinge er nicht hier. Nur wann? Wann habe ich meinen Mantel reingebracht und allen voran, warum? Ich nehme ihn für gewöhnlich mit in den Schuppen, damit ich am nächsten Tag gleich los kann. Außerdem ist er eine prima Wärmequelle, wenn die Decke in dem zügigen Kabuff nicht ausreicht.
"Also warst du doch hier?"
Es ist mehr eine Feststellung, als eine Frage.
Ich stöhne. "Ida, ich weiß es nicht. Ich habe doch gesagt, ich-"
"Ja, ja, du kannst dich an nichts erinnern. Schon klar." Sie schüttelt missbilligend den Kopf, "Weißt du, ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Warum kannst du nicht einfach dazu stehen, wenn du dich schämst, anstatt mir so eine Geschichte aufzutischen?"
Ich öffne den Mund, "Ida, ich-"
Sie winkt ab, "Vergiss es einfach."
Sie stiefelt die Treppe hinauf und bleibt auf der letzten Stufe stehen.
"Was sorge ich mich überhaupt? Du sagst es doch immer wieder, ohne dich kämen wir nicht klar."
"Ida!" Ich will ihr nachlaufen, doch da höre ich auch schon eine Tür knallen.
Stöhnend bleibe ich stehen.
"Ich habe mir das wirklich nicht ausgedacht", murmele ich.
~•~
Es ist schon spät, als Ida sich entschließt wieder runter zu kommen. In ihrem Schlepptau hat sie Vater, der mit müden Augen und einem herzhaften Gähnen, die Treppe runter schlurft.
Ich stelle mich innerlich schon eine Predigt von ihm ein, ziehe meine Beine vom Couchtisch und drehe mich wartend um.
Den Mantel habe ich gegen ein Flanellhemd und eine Korthose getauscht. Mein Arm hängt in dem rot- schwarz karierten Ärmel über die Sofalehne, während meine Augen jede von Vaters Bewegungen verfolgen.
Anders als gedacht, baut er sich nicht vor mir auf, sondern schlürft in die Küche. Einen Blick in den Korb später, kommt er zurück, murmelt kurz, er ginge Holz holen und verschwindet damit aus der Hütte.
Als die Tür ins Schloss fällt, sehe ich Ida an, die sich an den Tisch gesetzt hat und beginnt ihre Fingernägel zu pfeilen.
"Du hast ihm nichts gesagt."
Sie sieht auf, während die Pfeile weiter über ihre Nägel schrabbt. "Richtig."
Ich ziehe den Arm zurück und stehe auf.
"Warum?", frage ich, als ich zu ihr herüber gehe und den Platz vor ihr einnehme.
"Warum sollte ich?"
Kreatin rieselt auf die Tischoberfläche.
"Weil du ihm meistens alles erzählst?" Verblüfft sehe ich sie an. Allein, dass ich das erklären muss...
"Ich erzähle ihm nur Dinge, wenn ich Angst habe, dass du etwas Dummes tust."
Ich blähe die Wangen auf, um nicht laut loszulachen und lehne mich zurück.
"Du magst den Eindruck haben, ich sei eine verwöhnte Kuh, die ihrem alten Leben nachtrauert-"
Das trifft es so ziemlich auf den Kopf.
"Und du hast Recht, genau das tue ich."
Überrascht sehe ich sie an, während die Luft langsam aus meinen Wangen entweicht.
"Ich habe mir anderes von meinem Leben erhofft und ob es dir klar ist oder nicht, ich wurde dahin gedrängt. Als ich jünger war, wollte ich genauso wie du den Hof übernehmen und in Vaters Fußstapfen treten. Er hat mich da nicht gesehen. Ich sei zu schmal, zu zerbrechlich für harte Arbeit. Er wollte, dass ich in eine gut betuchte Familie einheirate, um seinen Stand am Hofe zu verbessern."
Mir klappt die Kinnlade runter.
"Ich habe mich die ersten Male strikt geweigert Teegesellschaften zu besuchen oder auf irgendwelchen Bällen zu tanzen mit irgendwelchen widerlichen Kerlen, die mich immer nur als Bauerntochter angesehen haben. Ihrer nicht würdig. Könne mich glücklich schätzen, dass sie sich überhaupt meiner annehmen."
Ida verzieht das Gesicht, als habe sie Schmerzen.
Dennoch blickt sie auf ihre Pfeile und wie hypnotisiert auf ihre Nägel.
Schrab, schrab, schrab
"So häufig stritten wir. Du warst noch zu jung, um es mitzubekommen und Mutter hat dich auch immer ganz wunderbar abgeschirmt."
Nun verziehe ich das Gesicht. Ein Bild schiebt sich in meinem Kopf. Blut färbt die Pfützen rot. Regen pladdert auf den Boden. Braunes Gras. Eine alter Ahorn, der seine Arme über mich streckt.
Ich schließe die Augen, verdränge dieses Bild und konzentriere mich auf meine Atmung.
Dass Ida weiterredet, hilft enorm. Ihre Stimme schiebt das Bild allmählich in die dunkle Kiste zurück, aus der es sich immer mal wieder befreit.
"Irgendwann nahm ich mein Schicksal an und ja, ich habe die Vorzüge kennengelernt. Es tut mir leid, Alva, dass ich den goldenen Käfig irgendwann anfing zu genießen. Doch mach dir nichts vor, du steckst genauso wie ich in einem Käfig. Deiner ist nur nicht golden."
Mit diesen Worten steht sie auf. Sie sieht mich aus lodernden Augen an.
"Ich gehe zu Bett." Sie will gerade die Treppe hochgehen, da erklingt ein markerschüttender Schrei und ein Knallen.
Wir beide wirbeln herum, sehen zur Tür, die im nächsten Moment aufgestoßen wird.
Kalte Luft zerrt an ihr, lässt sie zittern. Eine gespenstische Stille weht im Mantel der Nacht herein.
Ida kommt an meine Seite. Ihr Körper ist steif, angespannt und zu meiner Überraschung stellt sie sich vor mich.
"Vater?", ruft sie zögerlich und das Pfeifen des Windes antwortet.
Ich schiebe mich an ihr vorbei, will auf die Tür zugehen, doch sie hält mich am Handgelenk fest.
Fragend sehe ich sie an.
"Nicht." Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.
In normaler Lautstärke sage ich: "Entspann dich. Vater hat sich gerade vermutlich gerade selbst mit einem Holzscheit erschlagen."
"Und die Tür?", wispert sie mit hochgezogenen Schultern.
"Der Wind", antworte ich und löse mich aus ihrem Griff.
Ich laufe auf den Eingang zur Hütte zu. Frage mich währenddessen, wo Vater seinen Alkohol versteckt hat. Er macht das, seitdem ich seine Flaschen mal aus Wut entleert habe. Doch jetzt würde sich eine von ihnen wunderbar eignen, um eine Kopfwunde zu desinfizieren. Ich sehe es förmlich vor mir, wie Vater nach den oberen Holzscheiten hinter der Hütte greift, wie er sich dabei auf die Zehenspitzen stellt und auf dem nassen Gras abrutscht.
Ich komme am Türrahmen an, will mich gerade hinausschieben, da fliegt etwas an mir vorbei.
Mit einem dumpfen Geräusch kommt es auf den Dielen in meinem Rücken auf.
Es dauert nur einen Wimpernschlag, da ertönt ein schriller Schrei.
Ida.
Langsam drehe ich mich um und sehe ein unförmiges Gebilde. Es könnte ein Ball sein, nur dass dieser Haare hat.
Er kullert über den Boden und es fühlt sich an, als würde die Zeit langsamer verlaufen bis er auf einer Seite liegen bleibt.
Mir bleibt die Luft weg. Ein Schrei löst sich aus meiner Kehle, heraus kommt allerdings nur ein Fiepen.
Weit aufgerissene Augen starren mich an, als sei ich das Monster, das desnachts um unsere Hütte herum geschlichen ist. Der Mund zu einem Schrei verzogen. Es ist das letzte gewesen, was er tat, bevor der Kopf gewaltsam vom Körper getrennt wurde.
Ich stolpere soweit zurück, dass ich drohe über den Couchtisch zu fallen. Mein Herz rast und ein Blick zu der offen stehenden Tür, lässt es noch schneller schlagen.
Ohne zu überlegen, springe ich wieder nach vorne. Vorbei an Vaters Kopf, der mit Schrecken nach draußen sieht, so als sei das, was ihm das angetan hat, noch immer da. Wartend, lauernd...
Ich greife nach dem Knauf, will gerade kräftig an ihm ziehen, da fällt mein Blick nach draußen.
Mein Herz vollführt einen Salto. Ich wage es nicht zu atmen. Das Licht der Hütte durchbricht die Dunkelheit der Nacht und gibt eine schemenhafte Gestalt preis, die vor der Treppe zur Veranda steht.
Ein tiefer Atemzug weht zu mir herüber und als ob sie meinen Blick bemerkt hat, donnert sie plötzlich los.
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