7. Das Wiedersehen
Was wohl mit dem jungen Mann nun geschieht? Werden sie ihn hängen oder warten sie damit bis er genesen ist.
Ich erschaudere, als sich mir erneut das Bild seines Gesichtes vor Augen schiebt. Soviel Schmerz hat in ihm gelegen.
Ich ziehe meinen Mantel enger und gehe schneller. Die Sonne ist bereits auf dem Weg zum Horizont. Nicht lange und die Nacht wird hereinbrechen und mit ihr die Dunkelheit.
Mein Weg führt mich die Hauptstraße entlang, auf der für gewöhnlich Fuhrwagen von der Hauptstadt zu dem Dorf, Foris, fahren, aus dem ich gerade gekommen bin.
Zu meiner Linken und Rechten liegen weite Wiesen. Vom Frühjahr bis zum Herbst grasen hier Kuh- und Schafsherden. Doch die immer kürzeren Tage veranlassen die Bauern dazu, ihre Tiere in den Ställen zu lassen.
Die Hauptstraße schlängelt sich in ein kleines Waldstück hinein und gabelt sich dort. Nach rechts geht es zur Grenze und zu einem der Hauptquartiere, in denen die Soldaten, die zum Schutz abgestellt worden sind, wohnen. Mittlerweile dürften es nicht mehr viele sein. Der Krieg liegt lange zurück und abgesehen von ein paar Gerüchten, die solche Menschen wie der Dachtänzer verbreiten, ist in Wenterra seit ewigen Zeiten nichts mehr geschehen.
Der linke Weg hingegen führt zur Hauptstadt. Ich werde keinen der beiden benutzen. Mein Weg führt den Trampelweg geradeaus weiter, den ich gerade betrete. Sofort verändert sich das Zieh-Gefühl meines Wagens. Ging es mir zuvor leicht von der Hand, muss ich nun meine Kraft zusammennehmen, um über den unebenen Boden und hervorstehende Wurzeln hinweg zu kommen.
Dass mein Wagen noch immer gut gefüllt ist, macht den Heimweg nicht leichter.
Links und rechts säumt dichtes Gebüsch mit feinen Zweigen und dunkelroten Blättern den Weg. Sie wirken wie Wände, die den Rest des Waldes abschirmen.
Getier raschelt durchs Laub, irgendwo schreit ein Uhu.
Die Sonnenstrahlen lassen den Boden wie ein Flickenteppich aus Licht und Schatten aussehen.
Der Wagen ruckelt hinter mir her, während die Kohlköpfe in ihm auf und ab hüpfen. Es ist eine dumpfe Melodie, die jeden meiner Schritte begleitet.
Ich halte an. Löse meine Hand vom Griff des Wagens und schüttle sie. Jeder einzelne Finger fühlt sich taub an, als würden sie nicht mehr durchblutet werden.
Ein Seufzen entkommt meiner Kehle. Lang und frustriert.
Hätte ich nur ein paar Kohlköpfe verkauft, wäre der Heimweg nun nicht so anstrengend wie der Hinweg. Einmal am Tag reicht mir das. Ich sollte wirklich überlegen, ob ich Foris mit Kohlköpfen besuche und nicht lieber mit leichterem...
Ein lautes Schreien hallt durch den Wald. Mein Kopf ruckt hoch. Was zum...
Ich sehe mich um. Erst nach links, dann nach rechts. Lausche in den Wald hinein, der mir mit Stille antwortet. Kein Tier raschelt mehr durchs Laub und selbst der Wind scheint sich zurückgezogen zu haben. Als hätte jemand die Geräusche des Waldes einfach abgeschaltet.
Eine Gänsehaut zieht sich über meinen Körper. Ich fröstle, obwohl ich einen dicken Mantel trage.
Ich straffe die Schultern, greife mit tauben Fingern den Griff und gehe weiter. Nun in absoluter Stille klingt das Rumpeln unnatürlich laut.
Dennoch bleibe ich nicht stehen, obwohl ich es gerne würde und mich zwingen muss diesen Impuls zu unterdrücken.
Neben mir ertönt ein Rascheln. Erst ist es leise, ja fast zaghaft, doch das bleibt nicht so. Es wird lauter und das schlimmste, es folgt mir. Als würde etwas oder jemand auf der anderen Seite des Gebüschs auf meiner Höhe laufen.
Mein Herzschlag verdoppelt sich und mein Mund fühlt sich mit einem Mal staubtrocken an.
Ich werde schneller, das Rascheln auch.
Währenddessen versuche ich durch die spindeldürren Zweige etwas zu sehen, doch sie wachsen zu dicht, als das ich einen Blick auf die andere Seite werfen könnte.
Ich werde noch schneller, ziehe den Wagen unerbittlich hinter mir her und dann geht es plötzlich nicht mehr weiter. Mein Herz rast, wie eine Geisteskranke ziehe ich am Griff. Versuche weiter zu kommen. Weg von dem Geraschel und raus aus dem Wald. Ich blicke mich nicht um, will nur noch weg. Plötzlich rumst es.
Der Griff dreht sich aus meiner Hand und als ich über die Schulter blicke, sehe ich den Wagen zur Seite kippen. Es scheppert. Die Kohlköpfe fluten den Boden.
Das war laut.
Ein Schauder läuft meinen Rücken hinab.
Nein, nein, nein, nein...
Das Rascheln verstummt. Ich blicke ins Gebüsch, erwarte fast Augen zu sehen, die mich anstarren. Das Adrenalin breitet sich in meinem Körper aus, lässt meine Muskeln zittern und mein Herz donnern.
Ohne nachzudenken, wirble ich herum und laufe los. Das Rascheln ertönt erneut und auch wenn ich ohne den Wagen schneller bin, ist es das leider auch. Es folgt mir auf konstanter Höhe.
Ich versuche es zu ignorieren, konzentriere mich auf den Weg. Sehe in der Ferne schon den Waldausgang, der mir wie eine Tür aus Licht entgegenstrahlt.
Ein paar Schritte noch, nur noch ein paar wenige und da bricht etwas aus dem Unterholz.
Schlitternd komme ich zum Stehen und mache große Augen, als ich mein Hindernis betrachte.
Ein kleines Häufchen, braunes Fell und schwarze Knopfaugen.
"Du", rufe ich erleichtert aus, um mich im nächsten Moment vorn über zu beugen und nach Luft zu schnappen.
Die Anspannung weicht aus meinem Körper.
Das Bärenkind gibt einen kläglichen Ton von sich, als es auf mich zu gewatschelt kommt.
"Du hast mich erschreckt!" Der Vorwurf aus meiner Stimme ist nicht zu überhören. "Dieses Mal habe ich kein Fleisch für dich."
Ich richte mich auf und blicke zurück. Innerlich seufze ich, als ich mich in Bewegung setze und zu meinem Wagen gehe.
Das Bärenkind folgt mir. Immer wieder kommt es mir dabei nah, stupst mich mit seiner Nase an.
"Was willst du?" Ich blicke über die Schulter und sehe wie es mich umrundet. Nun neben mir, blickt es immer wieder in Richtung Gebüsch. Dabei gibt es klägliche Töne von sich.
Allmählich bekomme ich das Gefühl, dass es mir zeigen will, dass irgendwas auf der anderen Seite ist. Vielleicht ist es vor etwas geflohen und hat mich dabei angetroffen.
Nur vor was sollte ein Bär fliehen?
Der Bär ist nun vor mir und läuft immer wieder in Richtung Gebüsch. Blickt über die Schulter, als würde er kontrollieren, ob ich ihm folge und wenn er feststellt, dass ich weiter geradeaus gehe, kommt er zurück und dreht wieder Richtung Gebüsch ab. So geht das bis ich an meinem Wagen ankomme.
Ich ziehe ihn mühsam hoch und beginne den Kohl einzusammeln.
Der Bär wird nun immer unruhiger. Er tänzelt auf und ab und gibt klägliche Laute von sich.
"Willst du, dass ich dir folge?", frage ich, während mir selbst auffällt, wie dämlich diese Frage ist. In vielerlei Hinsicht. Doch anders als andere Tiere, scheint er mich zu verstehen und wird plötzlich viel lauter, als würde er meine Frage bestätigen wollen.
"Da rein?" Ich blicke ins Gebüsch. "Damit deine Mutter ein Abendessen hat?"
Das Bärenkind sieht mich empört an, wenn das überhaupt möglich ist und beginnt wieder zu tänzeln.
Eigentlich will ich den Weg nicht verlassen. Das ist eine meiner goldenen Regeln, niemals den Weg verlassen.
Und die habe ich bereits gebrochen, jetzt noch einmal? Für was? Was sollte meine Aufmerksamkeit benötigen?
Vielleicht ist die Mutter des Bärenkindes in eine Falle geraten und er will, dass ich sie befreie. Doch will ich das? Am Ende geht sie auf mich los. Doch wenn das wirklich der Fall ist, würde der Kleine nicht überleben können. Er ist sicherlich noch auf seine Mutter angewiesen.
Ich überlege hin und her, während meine innere Stimme mich schimpft, dass ich überhaupt überlege. Mein eigenes Wohl für das eines anderen Lebewesen aufs Spiel zu setzen, sollte eigentlich keine Überlegung wert sein.
Der Bär schreit nun kläglich. Die Zeit drängt. Heim gehen und mit ihm gehen?
Er beginnt mich wieder anzustupsen. Stellt sich sogar auf seine Hinterbeine und klettert an mir hoch. Sieht mich flehentlich an. Sein Blick nimmt mich gefangen, umspült mein Herz, lässt es erweichen.
Ich stöhne laut auf und zücke mein Messer.
"Dann los", sage ich und das Bärenkind lässt von mir ab.
Er schiebt sich stehend durch das Gebüsch. Ein Zugang wird frei.
Ich hocke mich hin und watschle ihm nach. Zweige kratzen meine Wange entlang, verfangen sich in meinem Haar. An meiner Kopfhaut zieht es, als ich mich vorwärts schiebe. Auf der anderen Seite drücke ich mich in die Höhe.
Der Waldboden ist von roten, gelben und braunen Laub bedeckt. Stämme schieben sich in die Höhe. Zwischen ihnen wachsen kleine Tannen und ihre Füße werden von Moos gewärmt. Die Sonnenstrahlen, die es schaffen sich durch das Astwerk zu schieben, lassen die Luft glitzern. Eine Welt aus Schatten und Licht.
Das Bärenkind läuft voraus. Schnell und kraftvoll. Immer wieder blickt es über die Schulter, wird dabei langsamer und wenn ich aufhole, läuft er wieder schneller.
So geht es eine Zeitlang bis wir uns einer Tannenformation nähern. Der Bär legt sich plötzlich ganz flach hin und kriecht auf dem Bauch weiter.
Wenn ich ihm unterstellen würde, dass er dazu in der Lage ist, würde ich jetzt denken, dass er mich auffordernd ansieht. Kopfschüttelnd tue ich es ihm gleich: Sinke auf die Knie, lege mich auf den Bauch und robbe, angetrieben durch Ellenbogen und Füße, ihm nach.
Die Zweige der ausladenden Tannen wirken wie eine Barriere, die uns vom Rest der Welt trennen. Ich gebe sicherlich ein merkwürdiges Bild ab und frage mich gleichzeitig, ob ich meinen Verstand verloren habe. In derartiger Situation bestimmt. Ich höre nichts, was auf eine Gefahrensituation hindeutet, geschweige denn etwas, was mein Robben rechtfertigt.
Das Bärenkind bleibt ganz nah bei den Zweigen liegen. Wenn es mich nicht täuscht durchläuft ein Zittern seinen Körper. Seine rechtes Ohr zuckt und er hebt die Nase, als wolle er einen ganz bestimmten Geruch einfangen.
Ich seufze in mich hinein, krieche neben ihn und drücke vorsichtig den Nadelzweig in Augenhöhe ein Stück hoch.
Erst sehe ich nichts, außer eine friedlich darliegende Lichtung. Eine grüne Fläche, die von den braunen Tupfen vertrockneter Blumen durchbrochen wird. Doch dann fällt mein Blick auf einen unbestimmten Punkt im Gras.
Meine Augen werden groß. Je länger ich dieses Fleckchen Wiese beobachte, desto mehr Bewegung kommt in die langen Grashalme. Sie schieben sich hin und her, als gehe der Wind hindurch und werden an einigen Stellen platt gedrückt, so als würden unsichtbare Wesen dazwischen tanzen.
Der Bär gibt neben mir ein leises Winseln von sich. Immer wieder werden stehende Halme runterdrückt. Meine Augen können gar nicht schnell genug folgen, da geschieht es an anderer Stelle.
Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt, doch ich rutsche ein Stück vor. Strecke auf dem laubigen Boden, unterm Zweig hindurch und am Stamm der Tanne vorbei, meinen Arm aus bis meine Fingerspitzen eine harten Widerstand berühren. Ich strecke mich ein wenig mehr. Meine Hand liegt nun vollständig auf einer harten Oberfläche. Sie fühlt sich glatt und warm an; so wie Glas, wenn die Sonne darauf scheint. Meine Hand fährt die Fläche ab und ich komme mehr und mehr zu der Einsicht, dass der Widerstand als eine Art Barriere fungiert. Plötzlich jagt ein warmes Pulsieren durch meine Haut.
Ich quietsche überrascht auf und reiße meine Hand zurück. Rot leuchtet sie mir entgegen, als ich sie betrachte sie. Es sieht so aus, als hätte ich mich verbrannt. Noch immer spüre ich dieses Pulsieren wie... wie ein Herzschlag.
Als ob zig Wespen und umschwirren, schwillt ein Summen an. Die Barriere nimmt einen milchigen Ton an, der zu wabern beginnt. Nun sehe ich keine Lichtung mehr, nur noch diesen milchigen Ton, der immer heller wird. So hell, dass ich mich abwenden muss. Ich halte meinen Arm schützend vor die Augen, dennoch schafft es das Licht durch ihn hindurch.
Es blendet mich selbst hinter geschlossenen Augenlidern.
"Was ist das?", keuche ich und höre meine eigene Stimme nicht mal mehr. Das Summen wird so laut, dass es jeden Ton verschluckt und dann auf dem Höhepunkt, bei dem ich schon glaube, meine Sehkraft und mein Gehör zu verlieren, gibt es ein leises Puff und der Spuk scheint vorbei. Das Licht erlischt schlagartig und das Summen verstummt. Zurück bleibt ein Rauschen in meinen Ohren, als ob sie mit Watte gestopft worden sind.
Atemlos lasse ich den Arm sinken und blinzele mehrfach, bis sich meine Augen wieder an die normalen Lichtverhältnisse gewöhnen. Das Gesicht des Bärenkindes nimmt Gestalt an. Irritiert sieht es mich mit großen Augen an, so als habe es kein Lichtspektakel und Summen gegeben.
Es stupst mich an, sieht nach vorne, stupst mich an, sieht nach vorne.
Ich schüttele mich, versuche das Erlebnis einfach abzuschütteln. Ein Zittern nimmt meinen Körper gefangen und plötzlich ist mir ähnlich übel wie wo ich die Straße getränkt habe.
Es braucht meine ganze Willenskraft um seinen Blick zu folgen und in dem Moment, als ich es schaffe, wünsche ich mir es nicht getan zu haben.
Nun wo die Barriere mir nicht mehr die Sicht versperrt und meinen Augen vorspielt, dass vor mir eine friedliche Lichtung liegt, sehe ich die Wirklichkeit. Es sind keine unsichtbaren Wesen, die zwischen den Grashalmen tanzen. Nein, sie kämpfen.
Ich sehe Wut, Angst und eine Menge Leid.
Meine Augen weiten sich und meinem Mund entkommt ein stummer Schrei, als ich den Grund sehe, warum das Bärenkind mich geholt hat.
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