6. Der Dachtänzer

Ich stehe mir wortwörtlich die Beine in den Bauch, während ich versuche meinen Ärger zu zügeln.

Jedes Mal, wenn jemand interessiert an meinem Wagen stehen bleibt und sich meine Kohlköpfe ansieht, hallt ein derartig lauter Ruf zu uns herüber, das selbst das Geschreie vom Stand direkt neben mir übertönt.

Wie kann ein Mensch nur ein derart lautes Organ besitzen?

"Kohl! Kohl! Zum halben Preis!", ruft das Weib vom Gemüsestand oder sie ruft: "Kauft zwei und zahlt nur einen!"
Egal was sie ruft, die Leute wenden sich von mir ab und schlendern zu ihr hinüber.

Als sie mir erneut einen potentiellen Kunden abspenstig macht, kann ich mich nicht mehr beherrschen und stapfe mit geballten Fäusten zu ihr. Den Karren nehme ich mit, ansonsten denkt noch jemand, dass mein Kohl zum Verschenken ist. Dann hätte ich definitiv Kundschaft.

Sie verstaut gerade Kupfermünzen in einer kleinen Blechschatuelle, als ich bei ihr ankomme.
"Kann ich dir helfen?", fragt sie abweisend, ohne aufzusehen.
"Tatsächlich", antworte ich gedehnt und stemme mich mit beiden Armen auf die Oberfläche. Der Tisch wackelt.

Nun hebt sie ihren Blick. Mustert mich mit spitzen Lippen von Kopf bis Fuß.
"Wenn du meinen Stand niederreißt", droht sie mir mit freundlichem Tonfall, "dann melde ich dich den Wachen. Ich habe hier Vorrecht."
"Oh, das habe ich nicht vor." Ich übe ein wenig mehr Druck aus, sodass der Tisch sich in einer gefährlichen Schräglage befindet. Noch nicht so sehr, dass Kartoffeln und Kohl herunterrollen.

"Was willst du?", zischt sie mit Blick auf ihr Gemüse.
"Hör auf mir meine Kunden abspenstig zu machen."
Sie lacht. "Es sind erst deine Kunden, wenn du ihr Geld in der Tasche hast." Sie sieht mich wissend an. "Hast du aber nicht, oder?"

Ich schnaufe. Das Gespräch entwickelt sich anders, als ich es mir wünsche.
Nur, was habe ich auch erwartet? Dass sie die Hände hebt und sagt, es täte ihr leid.

"Hör auf einfach auf damit, sonst-"
"Sonst was?" Sie beugt sich mir entgegen, als würde sie wirklich interessieren, womit ich drohen will.
Doch bevor ich ihr antworten kann, hallt ein lauter Ruf durch die Luft.

"Wähnt euch nicht in Sicherheit! Nach 1000 Jahren des Todes, steht die Auslöschung kurz bevor!"

Die Gemüseverkäuferin stöhnt. "Er schon wieder."
Ich sehe mich um und egal wohin mein Blick schweift, sehe ich gereizte Gesichter.
"Wo sind die Soldaten, wenn man sie braucht", höre ich die Verkäuferin murmeln.

"Ich sah es! Sah wie die Macht des Todes sich hinter der Grenze vereint!"

"Er war hinter der Grenze?", frage ich laut und ernte ein böses Lachen von der stämmigen Frau.
"Das wünscht er sich bestimmt, um dem Galgen zu entkommen."
"Wer ist er?", frage ich weiter, ohne sie anzusehen, da meine Augen noch immer den Sprecher suchen.
"Sah wie sie anschwillt und wenn sie über Wenterra hinwegfegt, wird kein Stein mehr über dem anderen stehen!"

"Ein Taugenichts, der nichts als Lügen verbreitet", höre ich sie mit einem Ohr antworten.
Seitdem dieser Taugenichts seine Rufe ertönen lässt, ist der Marktplatz merklich voller geworden und jeder scheint auf der Suche zu sein.
Entweder sowie ich nach der Quelle der Rufe oder nach den Soldaten.

Ich sehe zum meinem Karren. In ihm die Kohlköpfe, die ich heute Morgen geerntet habe. Ein lautes Seufzen entkommt meinen Lippen. Heute werde ich keine mehr von ihnen verkaufen können, unabhängig davon, dass meine Konkurrentin das zu verhindern weiß, so liegt die Ausmerksamkeit der Marktbesucher nun auf dem Gerufe.

"Bis zum nächsten Mal", verabschiede ich mich von der grimmig dreinblickenden Frau.
Ich fasse nach dem Griff und ziehe den Wagen hinter mir her. Der Weg vom Marktplatz runter dauert ewig. Es ist einfach zu voll und als ich an der Gabelung zum Hauptweg ankomme, haben alle Menschen ihren Kopf in den Nacken gelegt, während sich Soldaten in silbernen Rüstungen durch die Menge schieben. Auch ihr Blick schweift immer wieder nach oben.

Ich lasse meinen Wagen stehen, trete von der Hausecke weg und lege meinen Kopf in den Nacken.
Genau in diesem Moment weht ein Lachen zu mir herunter.

Ein junger, schlacksiger Mann, von vielleicht 20 Jahren, drückt sich auf dem Dach in den freien Stand. Er schwankt kurz bis er sein Gleichgewicht findet und mit ausgestreckten Armen zu balancieren beginnt. Sein blonder Zopf weht dabei im Wind und wirkt wie der Schweif eines Pferdes.

Tänzelnd vollführt er eine wackelige Drehung, die ihn erneut ins Taumeln bringt, doch anstatt in die Hocke zu gehen, wie ich es sicherlich getan hätte, grinst er und wischt sich theatralisch über die Stirn. Nachdenklich überblickt er die Menschenmenge, die sich auf dem Weg versammelt hat. Er streckt die Arme erneut aus und positioniert sich über ihnen wie ein Redner vor seinem Publikum.

Fluchen entkommt den Menschen. Einige stöhnen laut und schütteln mit dem Kopf, während andere ihm wüste Beschimpfungen entgegen rufen. Der Dachtänzer deutet eine Verbeugung an, bevor er missbilligend ruft: "Jetzt wollt ihr mich noch hängen, aber wenn erstmal die Grenze gefallen ist, dann werdet ihr an mich denken und ihr werdet euch wünschen, mir geglaubt zu haben!" Er stellt sich auf die Zehenspitzen und dreht sich auf ihnen so, dass er das Dach wieder entlang gehen kann.

"Du Lügenmaul!", antwortet ihm ein aufgebrachter Mann, der puterrot im Gesicht ist, "Dass du dich noch traust hierher zurück zu kommen!"
Eine jüngere Frau stimmt mit ein und zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf ihn: "Der Tod soll dich langsam holen! Nichts als Ärger bringt dein Gefasel! Meine Marie hatte nichts als Alpträume und Angst das Haus zu verlassen!" Wie zur Bestätigung zieht sie das kleine Mädchen hinter ihren Beinen hervor.

Die Menschen um sie herum nicken bestätigend, einige fassen sich an die Brust, als würden sie gerade einen Herzinfarkt erleiden.
Eine andere Frau von pummeliger Statur sieht sich nach den Soldaten um. "Nun tut doch was!"
"Ja!", schreien auch andere, "Holt ihn darunter!"

Der Soldat, der mir am nächsten steht, stößt ein Knurren aus, während er seine Männer heranwinkt und in die Gasse zeigt, aus der ich vor kurzem gekommen bin. Sofort läuft einer von ihnen mit blechernden Schritten an ihm und meinem Wagen, der noch immer an der Hausecke steht, vorbei. 

Der Befehlshaber wendet sich mir zu. Wobei, das ist nicht ganz richtig. Er stellt sich lediglich neben mich und blickt zu dem Jüngling empor, der sich gerade seine welligen Haare aus der Stirn wischt.

"Junge", spricht er ungehalten, "Warum musst du der Bevölkerung Angst machen? Wir leben hier doch in Sicherheit."
"Pah!", stößt dieser aus, "Das ist keine Sicherheit! Das ist reiner Irrglaube!"
"Und woher hast du deine Informationen? Woher willst du wissen, dass ein Krieg bevorsteht? Sag es mir."
"Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!" Der Dachtänzer zeigt auf seine Augen und wiederholt schrill: "Mit eigenen Augen!"
"Schwachsinn", murmelt der Soldat und ruft dann: "Du sagst, wir müssen uns auf einen Krieg einstellen?"
"Jaha! Der Krieg kommt. Wir sollten jeden verfügbaren Mann an die Grenzen schicken mit allen Waffen, die wir haben!"
"Nun macht schon. Nun macht schon", kommt es leise von dem Soldaten, während er wieder mit lauter Stimme fragt: "Und wann? Auf was müssen wir uns einstellen?"

Und in dem Moment, wird mir klar, was der Mann damit bezweckt. Ihn interessiert kein Stück, was der Dachtänzer zu sagen hat, er schindet Zeit. Zeit, in der er seine volle Aufmerksamkeit auf sich zieht, damit dieser nicht mitbekommt wie ein anderer Soldat gerade auf das Dach steigt.

Der Junge, wie ihn der Soldat nennt, hat sich in Rage geredet. Seine Stimme wird lauter, der Ton kreischender.
Der Soldat hinter ihm schleicht sich langsam an, kommt dem jungen Mann Stück um Stück näher.

In der Menschenmenge wird es still, so als würde jeder den Atem anhalten, gespannt auf den Fortgang.
Der Soldat ist nun genau hinter dem Reden-Schwingenden. Braucht theoretisch nur noch den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren, da verstummt der Junge plötzlich.
Stocksteif steht er da, als hätte er selbst das Atmen eingestellt. Auch der Soldat erstarrt in seiner Bewegung.

Der Dachtänzer dreht langsam seinen Kopf, sieht über die Schulter und gibt einen erschrockenen Laut von sich. Er stolpert ungelenk nach vorne.
Zu weit nach vorne, denn damit hat er den Rand erreicht. Wild rudert er mit dem Armen, als er beginnt in Schieflage zu geraten.

Schwankend wie eine Boje versucht er sein Gleichgewicht zu finden, während seinem Mund zusammenhanglose Worte entkommen. Die Menge keucht auf.
Der Soldat hat die Arme hinterm Rücken verschränkt und macht einen großen Schritt vorwärts. Er scheint kein Interesse daran zu haben, den Schwankenden zurück zu ziehen.

"Von mir aus auch so", höre ich den Befehlshaber neben mir grummeln und sehe ihn überrascht an. Er scheint meinen Blick zu spüren, denn er dreht sein Gesicht zu mir, das von einem silbernen Helm verdeckt wird. Nur durch den breiten Schlitz auf Augenhöhe, kann ich erkennen, dass er braune Augen hat.
"Er wird sowieso hängen." Eine Antwort auf meinen fassungslosen Blick.

"H-H-H-Hilf-fe", höre ich es vom Dach und blicke zu dem armen Tropf, der immer noch versucht sein Gleichgewicht zu halten. Der Soldat steht in aller Seelenruhe hinter ihm und zu meinem Schrecken, scheint er zu warten. Und er muss nicht lange warten, denn als er den nächsten Schritt macht, wirkt es so, als würde die bloße Nähe und somit der Gang zum Galgen ein Fluchtreflex auslösen.

Der junge Mann verliert sein Gleichgewicht. Sein Gesicht verzieht sich zu einer verzerrten Maske, er reißt die Augen auf, dem Mund entkommt Jaulen und dann fällt er.

Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Die Zeit dehnt sich wie ein Gummiband aus, scheint vollständig stehen zu bleiben, während sich das von Angst verzerrte Gesicht in mein Gedächtnis brennt. Dann ploppt sie mit einem dumpfen Geräusch zurück und schon einen Wimpernschlag später hallen markerschütternde Schreie durch die Gassen.
Die Menge keucht, viele wenden sich ab, doch ich kann es nicht, auch wenn ich es gerne wollen würde.

Der junge Mann liegt auf dem Bauch. Blut färbt das Kopfsteinpflaster rot. Sein linkes Bein ist in einem unnatürlichen Winkel verdreht und wenn ich es mir nicht einbilde, kann ich zwischen dem roten Brei einen Knochen hervorschimmern sehen.

Mir wird speiübel. Galle steigt meine Kehle empor, als ich beobachte wie die Blutlache um seinen Körper größer wird.

Er hebt den Kopf und der Anblick lässt meinen Magen unaufhörlich rumoren. Ich würge hinter vorgehaltener Hand. Seine linke Gesichtshälfte ist ein undefinierbarer roter Klumpen aus Blut, Sehnen, Haut und Zähnen.
Er muss ungeheure Schmerzen haben, dass er noch bei Bewusstsein ist gleicht einem Wunder. Doch für ihn würd es nun zum Fluch, denn der Soldaten neben mir, kümmert das wenig. Beherzt packt er den Mann an der Schulter und zieht ihn mitleidlos in die Höhe. Der Dachtänzer schreit, schreit unaufhörlich und dennoch erhält er keine Gnade.
Er wird den gaffenden Menschen präsentiert, als sei er eine Trophäe.

"Das Spiel ist nun vorbei."
Die Menge applaudiert, während ich das Gefühl habe, dass sich mein mehrfach Magen umdreht.

Zurschaustellung von Grausamkeiten haben mich noch nie fasziniert, ganz im Gegensatz zu einigen der Bürger, die dem Soldaten nun im Vorbeigehen anerkennend auf die Schulter klopfen.
Andere hingegen bespucken den Dachtänzer, während er unbarmherzig vorwärts gedrückt wird. Klagelaute, Gewinsel und Flehen vermischt sich zu einer Melodie des Grauens, die jeden Schritt, den der Dachtänzer machen muss, begleitet.

Der Soldat vom Dach hat nun wieder festen Boden unter den Füßen und läuft an dem Gemisch aus Blut und Fleisch vorbei, als sei es für ihn völlig normal.

Ich hingegen, die derartige Anblicke nicht gewohnt ist, wende mich schließlich ab. Endlich wende ich mich ab. Als würde ich gerade anfangen das Gesehene zu verarbeiten, kann ich nicht anders, als mich vorn über zu beugen und mein Frühstück zu erbrechen.
Ein neue Pfütze entsteht.
Blut vermischt sich mit Erbrochenem und die kleinen Haferflocken erinnern an Knochensplitter.
Das bringt mein Magen dazu, erneut einen Schwall meine Kehle empor zu schieben. Es platscht.

Tränen steigen mir in die Augen. Ich kann fühlen wie mein Gesicht rot wird.
Die Magensäure hinterlässt ein Brennen im Hals, in meinem Mund und leider auch in meiner Nase.
Ich hätte ewig so weiter machen können, hätte sich nicht jemand meiner erbarmt.

Ich höre das Rattern meines Wagens, dann legt sich eine schwere Hand in meinem Rücken, die mich vorwärts schiebt. Weg von der Hausecke und dem Blut.
Es muss ein komisches Bild sein wie ich mit dem Kopf gen Boden vorwärts geschoben werde.

"Du kannst aufschauen", erklingt eine samtene Stimme und der Druck an meinem Rücken verschwindet.
Mein Magen ist nun leer, hoffe ich zumindest. Ich hebe den Kopf. Meine Sicht verschwimmt und ich schwanke leicht. Sofort greift eine Hand nach meinem Oberarm.
Es dauert nicht lange, da klärt sich mein Blick und mein Gleichgewichtssinn kehrt zurück. Ich kann meine Umgebung wieder mit klaren Farben und Formen wahrnehmen.
Ich blicke zu der Hand hinab, die meinen Oberarm festhält.
Langsam wandern meine Augen von ihr einen Arm hinauf bis zu dem Besitzer dessen.
Meine Augen weiten sich und mir bleibt wortwörtlich die Spucke weg, als ich meinen Retter betrachte.

Vor mir steht bestimmt der schönste Mann, den ich jemals gesehen habe. Er ist von drahtiger Gestalt, groß und kräftig. Unter seinen dunklen Hemd kann ich einzelne Muskelpartien erkennen.
In seinem Gesicht liegt ein sanfter Zug, doch in seinen eisblauen Augen lodert es. Er trägt seine schwarzen Haare kurz.
Hohe Wangenknochen und eine markante Kinnlinie lassen ihn maskulin, aber irgendwie auch jugendlich wirken. An seiner rechten Schläfe befindet sich eine lange Narbe.

"Alles in Ordnung?", fragt der Fremde, der noch immer meinen Arm hält.
Ich nicke und entziehe ihm ihn. Kurz sieht er verwundert aus, doch es ist nur ein Wimpernschlag, dann nimmt sein Gesicht einen neutralen Ton an.
"Wenn du sowas nicht abkannst, solltest du es dir nicht ansehen."
Ich will gerade etwas erwidern, da tritt er einen Schritt zurück und wirft kurz einen Blick über die Schulter.
Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber es sieht so aus, als würde er jemanden zunicken.
Doch niemand sieht in unsere Richtung und nimmt gar Notiz von uns.

Merkwürdiger Kerl. Ich habe so jemanden wie ihn hier noch nie gesehen. Ob er ein Reisender ist?

"Nun", sagt er, als er sich wieder zu mir umdreht und schiebt seine Hände in die Taschen seiner grauen Hose, "Du kommst bestimmt nun alleine klar. Dein Magen dürfte ja leer sein." Ein amüsiertes Grinsen sieht mir entgegen.
Empört öffne ich den Mund, will was auch immer erwidern, doch da dreht er sich schon um und läuft in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind.

Wie vom Donner gerührt stehe ich da und kann dennoch nicht verhindern mir sein Gangbild anzusehen. Es strahlt pure Kraft aus, mit der Fähigkeit diese dosieren zu können wie eine Raubkatze.
Er verschwindet in der Menge, die immer noch nahe des Ortes steht, wo der Dachtänzer seinen Tanz beendet hat.

Allein sie da stehen zu sehen, gaffend und lachend, dreht meinen Magen nochmal herum.
Ehe ich nochmal den Weg beschmutze, greife ich nach dem Griff meines Wagens und mache mich auf den Heimweg. Den Fremden verbanne ich dabei aus meinen Gedanken, auch wenn mich die lodernden eisblauen Augen nicht in Ruhe lassen wollen.

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