48. Der Sohn meines Vaters
"Euer Vater ist nicht in seinem Zelt", sprach ein Soldat, dessen Gesicht Hestis noch nie gesehen hatte. Er trat gerade aus seinem eigenen Zelt heraus, um Dorias und Jelena, die in Kürze ankommen dürften, zu begrüßen.
"Das sagst du mir, weil...?" Hestis ließ die Frage offen nach klingen. Der Soldat, ein junger Blütler von schmächtiger Figur und strubbeligen blondem Haar, das unter seinem Helm hervorlugte, schnappte wie ein Fisch auf dem trockenen nach Luft.
"Er... Er wurde... Da ist nur...", haspelte er, während Hestis spürte, wie ihm die Geduld verloren ging.
"Sprich!", herrschte er ihn an, was den Soldaten verstummen ließ.
"Er ist nicht auffindbar. Da ist nur ein wenig Blut", antwortete der Junge langsam, nachdem er Luft holte.
"Wo?", knurrte Hestis und ließ sich vom Soldaten zur besagten Stelle führen.
Die Legionen standen da, wo das Zelt seines Vaters aufgebaut war. Laute Stimmen wehten durch die Luft. Ärger paarte sich mit Fassungslosigkeit und die wildesten Theorien wurden hinausgerufen.
Einige sprachen von Cenros, andere von Jelena und wieder andere von ihr, die sie bis nach Mistis zu verfolgen schien.
Mit Hestis Ankommen verstummten nach und nach die aufgebrachten Stimme. Jeder drehte sich nach ihm um, betrachtete ihn, als ob er die Antwort auf all ihre Fragen hätte.
Hestis ignorierte sie, als er sich an den Männern vorbei, in den Kern ihres Kreises, schob.
Das Zelt seines Vaters sah aus, als sei eine Walze darüber gerollt. Der Stützpfeiler müsste irgendwo unter den Massen an Plane liegen, die sich wie ein Knäuel auftürmt.
"Dort, mein Herr", haucht die zarte Stimme, die ihm nachgekommen war.
Hestis folgte dem ausgestreckten Arm zu dem Punkt am Boden, über den er gestern noch eilig das Zelt verließ.
Er hockte sich hin und fuhr vorsichtig mit seinem Finger hauchzart über das Büschel Gras, das von all der Asche seine grüne Farbe vollständig verloren hatte. Grau und trostlos schoben sich die Halme empor, als seien sie Widerstandskämpfer, die trotz der widrigsten Umstände nicht aufgeben wollten.
Auf der Spitze des höchsten Hames schillerte ein einzelner Tropfen Blut. Das Zelt wurde zerstört, sein Vater war verschwunden und das einzige, was Hestis fand, war dieser eine Tropfen.
Ruckartig richtete er sich auf und drehte sich zu den wartenden Soldaten um.
"Sucht jeden Winkel dieses Tals ab und achtet auf alles, was ihr seht. Ich erwarte euren Bericht!"
Ohne ihre Antworten abzuwarten, eilte er davon. Weg von den Gesichtern, weg von den Stimmen in die Einsamkeit seines Zeltes.
Dort angekommen, ging er in die Knie, legte seinen Kopf in die Hände und atmete.
Die Worte seines Vaters hallten wie ein Echo in seinen Gedanken wieder.
Der Tag wird kommen...
Hatte er etwas geahnt oder ließ dieser Mistkerl ihn absichtlich jetzt zurück?
Vielleicht war es ein Test?
Hestis knurrte. Die Konsequenzen der Abwesenheit seines Vaters bereitete ihm Magenschmerzen. Er hoffte, wie er es noch nie gehofft hatte, dass der Alte einfach die Nacht woanders verbracht hatte. Wer weiß das schon? So ein einzelner Tropfen Blut ist doch noch kein Indiz dafür, dass ihm etwas passiert war.
Doch alle Hoffnungen, die Hestis hatte, wurden in den weiteren Stunden zerstört. Nach und nach trudelte Soldat um Soldat ein. Jeder Bericht glich dem Vorherigen.
Keiner hatte seinen Vater gesehen oder etwas in der Nacht gehört. Im Tal wurden keine Spuren gefunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Hestis innere Verzweiflung wuchs mit jedem weiteren Soldaten, auch wenn er sich das nach außen hin nicht anmerken ließ. Er verspürte den ungeahnten Drang selbst einfach zu verschwinden, doch dann könnte er auch gleich den Hof in die Hände eines anderen Herrschers geben. Etwas, was ihm noch größerere Schmerzen verursachte, als die Abwesenheit seines Vaters.
Als die Zeltplane erneut umgeschlagen wurde und ein Soldat hereinkam, saß er gerade auf seinem Feldbett und versuchte sich mit seinem Schicksal abzufinden.
"Herrscher", sprach dieser ihn an, was Hestis mit den Zähnen knirschen ließ. Er war nun ein Herrscher.
"Der Norden und Süden kam soeben an."
Hestis holte tief Luft.
"Lasst sie herein."
Der Soldat nickte und trat beiseite.
Ein Blütler von schlanker Figur, langen weißen Haaren und Augen, die aussahen, als würde es in ihnen schneien, betrat das Zelt als Erster. In seinem Gesicht, das sonst von Härte gezeichnet war, lag ein sanfter Ausdruck.
Hinter ihm folgte eine Schönheit, deren Anblick man mit ihr verwechseln könnte. Ihre Anmut war kaum zu übertreffen. Samtige Haut, volle Lippen und Haare, die wie Gold ihren Rücken hinabflossen.
"Hestis", ergriff Dorias das Wort, was Besagten aufstehen ließ, "Ich weiß um deinen Schmerz."
"Das glaube ich kaum", antwortete dieser bitter.
Im Gegensatz zu ihm pflegte Hestis kein gutes Verhältnis zu seinem Vater - seine schwarzen Augen werden immer ein Zeugnis dessen sein.
"Es ist wie es ist", thönte die goldene Schönheit und trat vor. Der Saum ihres roten Rocks schliff über den Boden und brachte verwelkte Blätter und Erdkrumen in sein Zelt.
"Es ist keine Zeit zum Trauern. Wir haben hier ein Ziel, das dürft ihr nicht vergessen!"
"Ich trauere nicht", gab Hestis von sich, die Stimme von Bitterkeit gezeichnet.
Sein fester Blick traf den von Jelena, die ihn lodernd erwiderte.
"Dann setzt mich mal ins Bild, welche Pläne ihr geschmiedet habt."
"Sehr gerne", antwortete die Herrscherin mit lieblicher Tonlage und wischte mit einem Fingerspitzen all seine Sachen vom Tisch. Das Tintenfass fiel herab und färbte das Bärenfell daraufhin blau. All seine Zeichnungen, auch die von dem Jungen, der den Betrachter voller Überraschung ansah, wirbelten hinfort und segelten zu Boden.
Hestis ignorierte diese Spitze, ignorierte wie sie mit seinem Hab und Gut umging und ihre Frechheit dies überhaupt zutun bei dem neuen Herrscher des Westens. Doch ihm war klar, für Jelena war er nur der Sohn seines Vaters. Er hatte sich noch nicht als Herrscher bewiesen.
Auf dem freigewordenen Platz rollte sie eine Karte aus, die der seines Vaters sehr ähnlich sah. Eigentlich ein genaues Abbild dieser war, nur mit dem Unterschied, dass statt seiner sperrigen Handschrift die filigrane Jelenas die Ländereien der Menschen betitelte.
"Wir sind hier." Jelena bohrt förmlich ihre Fingerkuppe auf einen Punkt, der von roter Tinte durchgestrichen worden war.
"Ihr habt die Obstplantagen von Vensessas eingenommen. Diese liegt, wie ihr seht, außerhalb ihrer Grenzen, aber nahe ihrer Hauptstadt. Wenn wir von hier, hier und hier angreifen, dürfte es nicht allzu lange dauern an den Königshof vorzudringen."
Jelenas Finger schweift bei ihrer Erzählung zu verschiedenen Seiten der Grenze.
"Der Königshof soll das hier darstellen?" Hestis Finger zeigte zu einer Abbildung, die wie ein einfaches Haus mit einer Krone, gezeichnet worden war.
"Korrekt", antwortete sie ihm zuckersüß, was ihn innerlich knurren ließ.
Ihr Umgang war ihm schon immer ein Dorn im Auge. Sie waren von ihrer Stellung gleichwertig, jetzt sogar noch mehr. Dennoch behandelte sie ihn und auch seinen Vater immer von oben herab, als seien sie minderwertig.
Wie Dorias es mit dieser Hexe aushielt, war ihm ein mittelschweres Rätsel und er fragte sich immer häufiger, was das über den Norden aussagte.
Unwillkürlich dachte er an die Worte seines Vaters. Daran, dass ihnen nicht zu trauen sei und in ihm wuchs ein ungeahntes Misstrauen heran. Zuvor war es für ihn eine Möglichkeit, dass sein Vater ihn absichtlich alleine ließ, doch nun, kam in ihm unweigerlich die Frage auf, ob sie damit etwas zu tun hatten.
Hatten sie seinen Vater verschwinden lassen? Doch wie sollte das möglich sein? Er war stark, ein mächtiger Goldblütler, jahrtausende alt. Soviel Macht besitzen Dorias und Jelena nicht. Oder doch?
"Der Königshof liegt in einem Gebirge. Umgeben von Bergketten. Sicherlich bewusst so gewählt, um Angriffe zu erschweren", erklärt Dorias und bringt die Schönheit neben ihm zum Kichern. "Gut, dass wir nicht diese menschliche Krankheit besitzen. Sie sind so schwach. Wir drei könnten alleine den Königshof erobern."
"Warum tun wir das dann nicht?", fragte Hestis nach und brachte Jelenas Gelächter zum Verstummen. Sie sah ihn an, als läge die Antwort auf der Hand und als sei er zu dumm, sie zu sehen.
Sie hüstelte hinter vorgehaltener Hand und warf Dorias ein vielsagenden Blick zu.
Dieser seufzte und wand sich an Hestis. Sein Gesicht nahm einen kalten Ton an, so kalt wie das Eis und der Schnee von dem Kontinent, von dem sie kamen.
Klatis
"Du warst nicht dabei, als wir wie Bettler an ihre Tür geklopft haben und um Einlass bitteten."
Dorias Stimme könnte nun selbst Gestein schneiden.
"Du warst nicht dabei, wie sie uns forstgejagt haben, als seien wir wie die Ratten, die ihre Straßen vollkoten."
Hestis seufzt.
"Du willst sagen, dieser ganze Krieg, der ganze Aufmarsch unserer Legionen dient nur dazu sich zu rächen?"
"Sie haben es nicht anders verdient. Sie sollen den Tod sehen, der an ihre Türe klopft, bevor er sie verschlingt. Die Angst spüren und das Omen ihres Untergangs hallen hören, bevor es über ihre Länder hinwegrollt und alles mit sich nimmt."
Jelena lächelt, als sie endet.
"Also machen wir genau das Gleiche wie Haro und Atropis?"
Hestis musste daran denken, wie seine Heimat dem Erdboden gleich gemacht wurde. Wie aus einer Bitte sich Tod und Zerstörung geformt hatte.
"Sie haben uns erfolgreich vertrieben, oder nicht?" Jelena betrachtete plötzlich höchst interessiert ihre Fingernägel ehe sie aufblickte und Hestis mit einem einfachen Ausatmen zu Boden beförderte.
Ihre Attacke traf ihn unvorbereitet und mit voller Wucht in den Bauch. Seine Augen weiteten sich, er schnappte nach Luft und brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie ihn angegriffen hatte.
Wut entflammte in ihm.
Gemächlich lief sie auf ihn zu. Er, der gerade sich wieder aufgesetzt hatte, war schon dabei seine Macht zu formen, als sie sich neben ihn hockte.
"Du magst zwar jetzt Herrscher genannt werden, aber das macht dich noch nicht zu Einem", zischte sie. Sie hob den Arm, seine Augen folgten ihrer Hand, bis sie seine Wange hauchzart berührte.
"Wenn du dich gegen unsere Sache stellst, bist du nicht besser als die Menschen. Geh zurück nach Klatis und lass dich von ihrem Schicksal ereilen", flüsterte sie hauchzart, während sich ihr schönes Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzog.
Hestis Blick schweifte an ihrem vorbei zu dem Herrscher des Nordens. Unbeteiligt stand dieser neben ihnen und verzog keine Miene.
Ihm wurde klar, dass er sich entweder gegen sie stellen könnte und er somit sein Volk ausliefern würde oder er mit guter Miene zum bösen Spiel mitmacht.
Gestern hatte er es noch seinem Vater gesagt, er wäre ein besserer Herrscher. Er würde für sein Volk einstehen und genau das tat er, als er die Mundwinkel zu einem Grinsen anhob und Jelenas Hand in einer fließenden Bewegung von seiner Wange löste.
Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, ignorierte den Schmerz in seinem Magen und sprach in aller Ruhe: "Du musst nicht gleich aus deiner schönen Haut fahren, Jelena. Ich habe lediglich eine Frage gestellt."
Auch die blonde Schönheit erhob sich.
"Also?", fragte sie gedehnt, "Bist du für oder gegen uns?"
"Ich bin der Sohn meines Vaters. Das sollte dir Antwort genug sein."
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