45. Das gewaltige Meer
Das gewaltige Meer ist seit jeher hungrig. Stürme ziehen über die schäumende Oberfläche hinweg, deren Wellen sich auftürmen, als wollten sie den dunkelgrauen Himmel berühren.
Blitze zucken und erhellen die dunkle Wolkendecke, die viel zu schwer über dem schwarzen Schlund liegt.
Egal wie lange Hestis überlegt, er kann sich nicht erinnern, wann über diesem Tosen mal die Sonne geschienen hat: Sie es überhaupt jemals geschafft hat, mit auch nur einem Sonnenstrahl die Wolken zu durchbrechen.
Die Menschen nennen diese See den Schlund des Todes. Unzählige Schiffe hat er bereits verschluckt und nicht ein einziges wieder hervor gewürgt.
Er ist sich sicher, dass die Entscheidung, dass Dorias, Keanan und er diesen Weg auf sich nehmen, ihren Sieg sichern wird und sowie es der Herrscher des Nordens gewollt hat, die Verluste der Bevölkerung klein bleiben.
"Es ist nicht mehr weit", ruft der General des Nordens über die Schulter, während er wie ein Vogel die Arme ausgebreitet hat und durch den Sturm segelt.
Für einen Menschen mag der Flug des Windes wie Teleportation aussehen, doch in Wahrheit fliegen die Beherrscher der Fähigkeit so schnell, dass ein menschliches Auge sie nicht mehr wahrnehmen kann.
Doch schnell kommen sie nun nicht voran, dafür ist der Sturm zu unberechenbar. Sie würden vermutlich am anderen Ende von Mistis landen, würden sie den Flug des Windes in gewöhnlicher Intensität nutzen.
Hestis blickt zum Herrscher des Nordens. Sein weißes Haar weht im Wind wie der Schweif einer Sternschnuppe und hebt sich von dem dunklen Wolkengebilde ab.
Er fliegt näher an ihn heran, so nah, dass er seine kommenden Worte nicht brüllen muss und doch so fern, dass er Dorias Flug nicht behindert.
"Etwas interessiert mich", ruft er gegen den Sturm an, der mit kalten Fingern an ihm zieht und zerrt. Dorias dreht den Kopf. "Was willst du wissen?"
"Warum jetzt?"
Unverständnis kommt Hestis entgegen, so formuliert er die Frage weiter aus.
"Warum hast du den Pakt geltend gemacht? Es wäre ja nicht das erste Mal, das Jelena dein Land betreten hat."
Kurz wird Dorias Gesicht in gleißend helles Licht getaucht, als ein Blitz den grauen Dunst erhellt und sein ohrenbetäubendes Knallen ertönen lässt.
Den nachdenklichen Zug um Augen und Mund hat Hestis dennoch sehen können.
Unweigerlich fragt er sich, ob Dorias überlegt ihm ehrlich zu antworten. Er ist sich sicher, dass die Existenz des Mädchen an seinem Hof bei dieser Frage von großer Bedeutung ist.
"Du hast es gerade selber gesagt", antwortet Dorias so leise, dass Hestis sein übermenschliches Gehör anstrengen muss, um ihn überhaupt zu verstehen.
"Es war nicht das erste Mal. Jeder Herrscher akzeptiert die Regeln, doch Jelena nimmt sich immer wieder Freiheiten raus, die ich nicht mehr bereit bin zu geben."
"Aber warum jetzt und nicht schon vor Jahrzehnten?", bohrt Hestis weiter, versucht irgendetwas aus Dorias rauszukitzeln, dass seine Absicht verrät.
Die Tatsache, dass er selbst beim Fest versucht hat, ihn töten zu lassen, Jelena nun angreift und ein Mädchen an seinem Hof ist, das Schutzbarrieren durch bloße Berührung außer Kraft setzen kann, will für ihn nicht so recht zusammenpassen.
"Meine Geduldfaden ist nicht unendlich lang", antwortet Dorias und wendet den Blick ab. Ohne ihn anzusehen, sagt er: "Und du hast bei der Geltendmachung keinen Beweis gefordert, genauso wenig wie Cenros. Ihr seid mir einfach gefolgt. Was sagt das über euch aus?"
"Ich habe schon seit langem Grund, Jelenas Hof von der Landkarte zu wischen. Leider hat sie mein Land nur nie betreten." Hestis denkt an Mitär, an das, was sie ihm angetan hat und an die Hilflosigkeit, die er das erste Mal seit langem empfunden hat, als er zusehen musste, wie sie ihn gefoltert hat.
Er ist bis zum Ende geblieben. Hat nicht eine Sekunde den Blick abgewandt, hat sich das ganze Grauen bis zum Schluss angesehen - das ist er ihm schuldig gewesen.
"Ich habe viele Gründe Jelenas Kopf rollen zu sehen. Mir ist es gleich gewesen, ob sie wirklich dein Land betreten hat oder nicht."
"Warum fragst du mich dann jetzt?" Dorias Stimme gelangt derart ruhig zu ihm, dass man glauben könnte, um sie herum tobt kein Sturm.
"Neugier, reine Neugier", antwortet Hestis und beendet das Gespräch. Ihm ist klar, dass egal wie lange er fragen wird Dorias immer mit den gleichen Antworten kommt.
Stumm fliegen sie nebeneinander her, während Hestis seinen eigenen Gedanken nachhängt. Ihn wurmt zunehmend der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Mädchen und dem Angriff auf Jelenas Land.
Dorias war schon immer sehr tolerant mit Jelena gewesen. Im Krieg teilten sie eine Liebschaft miteinander. Von allen Herrschern hatte Hestis immer den Eindruck, Dorias sei Jelena am nächsten.
Wie häufig duldete er, dass sie ahnungslose Menschen durch sein Reich an ihren Hof geführt hat? Er hat nie dagegen etwas unternommen, schien nicht mal einen Gedanken an den Pakt zu verschwenden. Doch nun erscheint dieses ominöse Mädchen, das mit einer Gabe versehen zu sein scheint, von dem selbst ein Goldblütler nur träumen kann und hat einen Bund geschlossen, nur aufgrund der Tatsache, dass sie den Nachkommen der Winterbärin aus einer Falle befreit hat.
Da hielt sie ihn für einen gewöhnlichen Bären. Sie besaß nicht das Wissen seiner wahren Herkunft und dennoch hat sich dieser Bund geformt.
Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr schwirrt ihm der Kopf.
In all den Schriften, die er in seinem mentalen Raum archiviert hat, ist immer die Rede davon, dass nur dann ein Bund geschlossen wird, wenn ein Mensch aus der Güte eines reinen Herzens heraus das Leben eines Blütlers rettet.
Er hat die alten Worte lange studiert und ist sich sicher, dass der Mensch sich dessen bewusst sein muss. Doch das Mädchen wusste nicht, dass der Bär ein Blütler ist. Sie hat auch keine Entscheidung gefällt, die unmittelbar über Leben und Tod entscheidet.
Hätte sie ihn in der Falle gelassen, wäre er nicht zwangsläufig gestorben. Und dennoch hat sich der Bund geformt.
Hestis beißt die Zähne zusammen und knirscht vor lauter Frustration.
Damals im Krieg, als sich sein Bund zu Matius formte, lief alles völlig anders ab.
Damals als sich Matius Heer ihnen in den Weg gestellt hat und beide Seiten große Verluste zu verzeichnen hatten.
Damals als er noch ein anderer gewesen war. Ein freier Blütler, ohne Ketten, die ihm auferlegt wurden.
Damals... begann alles in einem Tal, das von dem Krieg zerrüttet gewesen ist...
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