43. Dunkle Erinnerungen
Mit tauben Fingern ziehe ich mich am Rahmen hinein ins Zimmer und erblicke die altbekannten leuchtenden Symbole, die die Tür zum Korridor versiegeln.
Ich reibe mir über die Arme. Ein Kälte hat von mir Besitz ergriffen, die tief in meinem Inneren geboren worden ist.
Der letzten Momente hängen mir nach - der Schwur, der einer Vergewaltigung glich, das Zurückkehren ins Zimmer, dessen Weg wieder über den Mauervorsprung führte und Hestis Worte, die er gesprochen hat, bevor er verschwand.
"Ich werde in deinem Kopf einen Raum erschaffen, in dem ich unseren Handel verschließe", sagte er und bevor ich wusste, wie mir geschieht, hob er die Hände. Es passierte nichts, womit ich gerechnet hatte und nichts, was mich überrascht hätte. Es passierte einfach rein gar nichts.
"Keiner, selbst der General des Nordens, wird nun davon erfahren können, außer du entscheidest dich darüber zu sprechen."
Auf meine Frage, was das genau bedeutete, wiederholte er lediglich seine Worte.
Ich habe nicht weiter nach gebohrt, es war mir in dem Moment auch gleich.
"Du wirst hier bleiben bis der Krieg geschlagen ist. Dann kehre ich zurück und unser Handel wird in Kraft treten." Damit war er verschwunden und ich sah mich dem Mauervorsprung wieder gegenüber stehen.
Nun in meinem Zimmer, in meinem Gefängnis, lasten die Ereignisse schwer auf meinen Schultern. Vielleicht bin ich naiv oder handle zu impulsiv oder überlege nicht weitreichend genug.
Wir haben unseren Schwur, das was ich gewollt habe, das, worauf ich regelrecht zugesteuert bin, doch er fühlt sich so schwer an, dass ich das Gefühl habe, er würde mich hinabziehen. Als stände ich wieder in diesem tiefen und kalten Loch, in dem dieser ganze Alptraum erst richtig begonnen hat.
Hestis hat mir zwar sein Wort gegeben, mir nichts anzutun, hat es sogar besiegelt, doch am Ende hat er mir dafür auch etwas genommen - genauso wie der Hof des Nordens es tut. Sie sind einander so ähnlich. Jeder Herrscher spielt mit dem Leben anderer.
Ich lasse mich aufs Bett sinken und lege mir die blaue Wolldecke um die Schultern. Kinu hat sie mir vor einiger Zeit gebracht, als ich ihm erzählte, dass ich kalte Wintertage daheim mit einem guten Buch und eben einer solchen Decke verbracht habe.
Als ich am nächsten Tag von einem Spaziergang vom Kristallsee zurück gekommen bin, lag sie auf meinem Bett.
Auch das hier kann ein Heim sein, stand auf einem kleinen Zettel, der säuberlich gefaltet daneben gelegen hatte.
Er hat mir damit eine Freude machen wollen, bei mir führte es hingegen dazu, dass ich die Decke umklammerte wie eine Schiffsbrüchige ein Stück Treibholz auf hoher See und ein Meer an Tränen vergoss.
Mein Herz hat geschrien, mein Mund leise geschluchzt.
Mein Heim habe ich verloren. Meine Familie zerbröckelte über die Jahre wie ein jahrhundertealter Grabstein.
Mein bleibt nicht mehr viel. Nur noch ich selbst und mein Leben, das ich gestalten kann. Vielleicht habe ich eines Tages eine eigene Familie und kann die Fehler die Vergangenheit wieder gut machen, doch dafür muss ich den Hof des Nordens hinter mir lassen. Somit ist der Herrscher des Westens meine einzige Möglichkeit diesem Gefängnis zu entkommen, auch wenn ich nicht weiß, wohin mich diese Entscheidung führt.
Doch weiß überhaupt irgendwer wie die Zukunft sich gestaltet?
Ich streife die Decke von den Schultern und stehe auf.
Eine Feuer erwacht in mir. Mag sein, dass der Handel mit Hestis eine schlechte Entscheidung gewesen ist, mag sein, dass er nur jeden so kleinen Vorteil sich zur Nutze machen wird, doch meine Entscheidung bringt mich wieder voran.
Auch wenn ich dafür opfern muss und verliere, gewinne ich am Ende gegen den Stillstand in dieser Welt aus Eis und Schnee
~•~
Im Thronsaal am Hof des Nordens
Die Herrscher der Höfe, ihre Generäle und Berater stehen im Thronsaal und warten auf den, der den Pakt geltend gemacht hat.
Dorias lässt sich Zeit. Wo er steckt, weiß niemand, nicht mal sein General, der von Cenros immer wieder ungeduldig ausgefragt wird.
"Wo bleibt er denn?", fragt eben jener und streckt sich in seiner schwarzen Kutte, sodass die dünnen Ärmchen sichtbar werden.
Keanan, der nahe des Thrones steht, seufzt und massiert sich den Nasenrücken.
"Als guter General solltest du wissen, wo dein Herrscher ist!", eifert Cenros weiter.
Mit eiserner Miene, antwortet Besagter: "Dorias bindet mich nicht in alles ein."
Cenros scheint die Luft wegzubleiben, denn seinem Mund entkommen zusammenhangslose Silben.
"Wartet noch ein wenig. Er ist sicherlich gleich hier", mischt sich Nila ein und tritt an Keanans Seite.
Cenros geht in die Knie und im nächsten Moment hockt er auf dem Boden.
"Ich habe ein gutes Fest genossen, wirklich", grummelt er, "Aber ich bin nicht zum Warten hier her gekommen. Weckt mich, wenn es soweit ist und
Wehe!", ruft er plötzlich aus, um dann wieder zu murmeln, "Ich wache von alleine auf, dann nehme ich mein Hof mit und verschwinde von hier. Pakt hin oder her, man lässt mich nicht warten!"
Keanan seufzt erneut und blickt vielsagend zu Nila, die seinen Blick mit einem Nicken erwidert. Man merkt ihnen die Erleichterung an, dass Cenros endlich dazu über gegangen ist zu warten wie jeder andere es tut.
Es zerrt sowieso schon an ihren Nerven, dass zwei Höfe sich an ihrem aufhalten. Permanent sind sie auf der Hut und beobachten jeden von ihnen mit Argusaugen, so als würden sie im nächsten Moment einen Hinterhalt erwarten. Derartige Versammlungen bieten recht viel Konfliktpotential wie der Herrscher des Westens am eigenen Leib erfahren hat, als er seinen letzten General an Jelena verlor.
Keanan hört noch heute die Schreie von Mitär, als Jelena ihm Stück für Stück die Haut abzog. Sein Blut färbte den Boden golden. Jelena vollzog an ihm eine offene Bestrafung. Jeder konnte zusehen wie sie ihn folterte. Sie wollte, dass er bereut - wollte, dass er um ihre Gnade winselt, doch verließ nur der Schmerz seinen Mund.
Am Hofe ließ sie ihre liebliche Stimme ertönen, die von Grausamkeit und Kälte gezeichnet war.
"Hiermit beschuldige ich den General des Westens des Auskundschaften meines Hofes!"
Das Aufkeuchen war laut, der Unglaube groß.
Vorallem Hestis sah so aus, als könne er nicht fassen, was seinem General und somit auch ihm zur Last gelegt wird.
"Beweise!", rief er und so offenbarte Jelena ihre ganz persönliche Fähigkeit. Sie offenbarte ihre Erinnerungen. Bilder schwebten durch den Raum, für Jedermann sichtbar und sie zeigten Mitär nackt in ihrem Schlafgemach. Ein sinnliches Lächeln lag auf seinen Zügen, während er einladende Geste macht.
"Ist das Beweis genug?", fragte Jelena erregt, "Ganze Monate trieb er sich in meinem Bett herum, versuchte mein Herz zu erobern! Doch Interesse hegte er nie an mir! Es ging ihm nur um Wissen und ich war so naiv, anderes zu glauben." Theatralisch legte sie sich ihre Hand auf die Brust.
Diese Liebschaft war Mitärs Untergang und selbst Hestis, als Herrscher, konnte dagegen rein gar nichts unternehmen, ohne einen Krieg anzufangen, bei dem er auf verlorenen Posten gespielt hätte.
Keanan erinnert sich heute noch, wie er Mitär davon abriet, ihn regelrecht anflehte, seine Finger bei sich zu lassen. Kein General sollte derartige Beziehungen zu einem Herrscher pflegen, doch er wollte einfach nicht auf ihn hören - zu sehr war er von der goldenen Schönheit betört.
Doch Jelena Wesen ist nicht beständig. Je mehr sich Mitär auf sie einließ, desto mehr begann sie an ihm und seiner Zuneigung zu zweifeln.
Bei dem Fest, zu dem Jelena alle Hundert Jahre lud, erreichten ihre Zweifel den Höhepunkt.
"Ich hätte auf dich hören sollen", sagte Mitär und Keanan sieht noch heute, wie angespannt er gewesen ist. Immer wieder sah er nach links und rechts, blickte über die Schulter, als hätte er Angst.
"Was ist passiert?", hatte Keanan gefragt, der von diesem Wandel mehr als überrascht gewesen ist. Sie standen in einem der Korridore, durch den ganze Armeen an Schmetterlingen flogen und dennoch wirkte Mitär, als stände er mitten auf einem Friedhof. Kreidebleich, eingefallene Augen. Er schüttelte den Kopf und hauchte: "Ich kann es nicht rückgängig machen und ich kann ihr nicht beweisen, was sie bewiesen haben will. Sie glaubt mir nicht."
Hätte Keanan nur seine Worte gehört, so hätte er nicht verstanden, doch entgegen dem, was er von sich selbst erwartet, hat er dieses Mal ungefragt Gedanken gelesen. Mit einem Mal wurde ihm die ganze Misere bewusst, in die der General des Westens hinein geschlittert ist. Dass dieses Gespräch, das letzte sein würde, dass sie führen, war ihm hingegen nicht bewusst. Umso größer war für Keanan der Schock als Mitär im Thronsaal angekettet worden ist.
Jeder Versuch von Hestis ihn zu befreien, gegen Jelena Behauptung zu argumentieren, ohne selbst sein Gesicht zu verlieren, wurde im Keim erstickt, denn dann hätte auch er sich schuldig gemacht. Denn Jelena tat ja nur, was ihr zustand, wenn ein anderer Hof bei ihr spioniert.
Deswegen fühlt sich Keanan in Gesellschaft anderer Herrscher auch so unwohl. Sobald man zwischen die Fronten gerät oder auch nur einen von ihnen verärgert, steht das eigene Leben auf dem Spiel und Cenros ist jemand, der sich leicht verärgern lässt.
~•~
Hestis steht neben Desos und verspürt eine ungeahnte Anspannung. Es ist nicht die erwartete Vorfreude auf eine Schlacht, sondern eher ein Unwohlsein, mit dem er die Blütler um ihn rum betrachtet. Ganz besonders liegt sein Blick auf Mikonos, dem Attentäter des Nordens, der sich gemütlich auf Dorias Thron räkelt.
Hestis versteht bis heute nicht, was Dorias sich dabei gedacht hat, dieses Waisenkind aufzunehmen, ohne ihn in irgendeiner Form an seinen Hof zu binden.
Die Freien sind in ihrer Welt selten geworden, doch wie man Mikonos sieht, existieren sie heute noch.
Der Attentäter ist vermutlich der Einzige unter ihnen, der den Schutz eines Hofes genießt, ohne nach seinen Regeln spielen zu müssen.
Normalerweise gelten sie als Freiwild, mit dem man machen kann, wonach es einem beliebt.
Sein Vater selbst hielt sich eine Freie, die er nach Lust und Laune für seine Spielchen am Hofe eingesetzt hat. Hestis denkt ungern an diese Zeit zurück, als er noch ein Junge war, dessen Seele noch so hell strahlte wie die Sonne selbst. Zu Desos hatte er mal gesagt, er sei nicht als Monster geboren worden - er wurde zu einem gemacht.
Jedesmal, wenn er sich für andere eingesetzt hatte, Güte spürte und Gnade zeigte, wurde er gezeichnet. Sein Körper gleicht einem Portrait an Wunden, die nie ganz verheilt sind.
Dass er für dieses junge Ding, dieses Mädchen so etwas wie Gnade gezeigt hat, wurmt ihn zunehmend, je länger er darüber nachdenkt. Er hätte soviel mit ihr tun können, doch er schwor ihr stattdessen, dass er ihr kein Leid antut.
Warum?
Warum fiel es ihm bei ihr so schwer, der zu sein, der er ist? Ihre Informationen und die Tatsache, dass sie einen Bund zum Winterbären hat, sind tatsächlich Gold wert und damit hat sie Recht, durch sie werden endlich die Seiten ausgeglichen. Er ist nicht mehr an Dorias und seine Gunst gekettet.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top