32. "Oh du heilige Mutter!"

Langsam schlurfe ich auf die große Flügeltür zu. Sie ist in einem hellen weiß gehalten. Nur die Klinken schimmern silbern.

Eigentlich will ich nicht hierher und dass ich es tue, hat den einfachen Grund, dass ich den Eindruck erwecken will, ich hätte mich damit abgefunden hier zu sein. Und jemand, der das wirklich täte, der würde mit seinen "Gastgebern" natürlich frühstücken.
Nila hat mich nun schon mehrere Male dazu eingeladen, doch ich habe mein Brot lieber abgeschieden von ihnen gegessen. Allein in meinem Zimmer, während mich düstere Gedanken verfolgt haben.

Meine Hand ruht auf der Klinke, während ich den Stimmen auf der anderen Seite der Tür lausche. So klingt scheinbar Freude und ein gutes Miteinander. Daheim habe ich auch immer alleine gegessen. Selbst an Feiertagen kamen wir nicht gemeinsam an einen Tisch. Meistens nicht, weil Vater die Nacht gesoffen und am Morgen eines neuen Tages geschlafen hat.
Sein billiger Fusel ist ihm eine angenehmere Gesellschaft gewesen, als die seiner Töchter.

Und auch, wenn heute nicht mehr unter uns weilt und ich jedes Mal Trauer verspüre, wenn ich an den Mann aus meiner Kindheit denke und an den Mann, der keine Chance mehr hat wieder zu ihm zu werden, so fühle ich in solchen Momenten auch eine enorme Wut. Etwas, was ich mir nie zugestanden habe. Etwas, was aber durchaus seine Berechtigung hatte.

Ich atme tief ein und wappne mich gegen die Blicke, die mir vermutlich gleich entgegen geworfen werden.
So harre ich aus. Es braucht nicht viel. Ich muss nur die Klinke runterdrücken und dennoch liegt meine Hand noch immer seelenruhig auf ihr.

Ich hadere mit mir. Soll ich es wirklich durchziehen? Was ist, wenn jemand meine Absichten erkennt, vorallem der General, der die Fähigkeit besitzt, Gedanken zu lesen. Was ist, wenn er meinen Kopf durchstöbert und meinen Plan zunichte macht? Dann wäre alles vorbei noch bevor es angefangen hat.

Gerade als die Zweifel groß genug werden, dass ich auf dem Absatz kehrt machen will, ertönt es gedämpft durch die Tür: "Nun komm schon rein!"

Ich zucke zusammen, meine Hand rutscht von der Klinke, während ich bereue überhaupt mein Zimmer verlassen zu haben.

Verdammt...

Was nun? Ich muss nun rein gehen, immerhin wurde ich bemerkt.
Ich straffe die Schultern und drücke die Tür langsam auf, gerade als jemand fragt, ob ich da draußen Wurzeln geschlagen hätte.

Ein langer Tisch präsentiert sich mir, an dessen Ende Dorias sitzt und mir desinteressiert entgegen sieht. Er hat den Ellenbogen auf der Oberfläche abgestützt, die Wange ruht auf seiner Hand, während er gelangweilt von seinem Brötchen abbeißt.

Zu seiner Linken sitzt Nila, die mich aufmunternd ansieht und mir zunickt. Neben ihr Kinu, der vertieft in einem Buch liest und dessen Omelette unangetastet auf dem Teller daneben liegt. Keanan betrachtet mich argwöhnisch. Er sitzt auf der rechten Seite von seinem Herrscher, vor ihm nichts weiter als eine dampfende Tasse.

Zum Gruß hebe ich die Hand und versuche zu lächeln. Mein Mut hat mich mittlerweile komplett verlassen. Nicht ein Fünkchen findet sich noch, genauso wie die Fähigkeit zu sprechen. Egal, was ich sagen könnte, in meinem Kopf herrscht völlige Leere. Zugegeben, hat das auch etwas gutes, wenn ich so Keanans Blick beachte, wie er auf mir ruht.

Oh heilige Mutter,
du gütige Frau,
gabst Leben und nahmst Pein,
im Herzen sind wir mit dir ein, trällere ich in Gedanken. Lieber Vorsicht als Nachsicht.

Dass Keanan so rücksichtsvoll ist nicht in der Privatsphäre anderer zu schnüffeln, wage ich zu bezweifeln, egal was Nila gesagt hat.

Ich muss immer dran denken. Ich bin hier im Feindesland.

"Setzt dich doch", sagt Nila, während ich immer noch planlos am Tisch stehe. Sie zeigt auf den freien Platz neben Keanan.
"Keine Sorge, ich beiße nicht." Besagter grinst auf seine Tasse hinab, doch als er den Blick hebt, schiebt er ein schnurrendes: "Außer du willst es" hinterher.

"Keanan!", rügt ihn Nila von der anderen Seite des Tisches und wirft ihre Serviette nach ihm. Gekonnt fängt er sie auf und legt sie auf den Tisch.
"Heute keinen Humor?", fragt er abschätzig, während er sie mit Schalk in den Augen betrachtet.
Nila schüttelt den Kopf und wendet sich dann wieder mir zu.

"Versprochen, wenn er sich unanständig benimmt, werde ich mein Messer werfen." Drohend hält sie das Brotmesser in die Höhe, was Keanan grinsen lässt.

Genau diese Momente machen es mir schwer sie als das zu sehen, was sie sind. Meine Retter und gleichzeitig meine Geiselnehmer. Freundlich und dennoch tödlich.

"Setz dich, Alva", fordert mich nun auch Dorias sanft, aber dennoch bestimmt auf.
Ich nicke und gehe langsam um den Tisch herum. Keanans Augen folgen jede meiner Bewegungen wie ein Raubtier, das auf den richtigen Moment wartet. Unbewusst spanne ich mich an.

Das Haar so golden,
die Haut so blass.
Oh du Herrlichkeit,
In all ihrer Schönheit!

Ich lasse mich auf den Stuhl neben ihn gleiten und vermeide es ihn anzusehen. Dennoch sehe ich aus dem Augenwinkel wie er sein Gesicht mir zugewandt hat. Ich spüre seinen Blick. Er brennt sich wie ein heißes Eisen in meine Haut.

Um uns herum bricht wieder das Leben aus. Nila rügt Kinu dafür, dass er noch keinen einzigen Bissen zu sich genommen hat und schnappt sich kurzerhand seine Lektüre, was er mit einem empörten Ton kommentiert. Dorias betrachtet die Beiden kopfschüttelnd, während er sich seiner zweiten Brötchenhälfte widmet.

Und ich, ich beobachte die Diskussion von Nila und ihrem Sohn, während ich gegen den Drang ankämpfe den Blick von der Seite nicht zu erwidern.
Man könnte meinen, eine Statur sitzt neben mir, denn genauso verhält sich der General des Nordens. Starr.

Ich versuche mich abzulenken. Betrachte all die Speisen auf dem Tisch. Von Eiern in allen Variationen zu Brötchen, frischen Obst, Joghurt und Speck ist alles dabei. Vorallem das hauchdünn geschnittene Bauchfleisch, das knusprig gebraten, mir schräg gegenüber liegt, zieht mich in einen magischen Bann.

Das ist ein Festmahl und für sie nur ein Frühstück. Es ist lange her, dass ein Tisch, an dem ich sitze, so gedeckt ist.
Auf einer ovalen Platte liegen Weintrauben, Erdbeeren, Mangoscheiben und Feigen.
Unwillkürlich frage ich mich, woher ein Land, das im Schnee und Eis liegt, solche Köstlichkeiten bekommt. Bei den Temperaturen fällt es mir schwer zu glauben, dass sie es selbst anbauen.

Würde ich noch das Ziel verfolgen, möglichst viel über die Arraris und ihre Welt in Erfahrung zu bringen, würde ich nun nachfragen. Doch das spare ich mir, ich habe ja an...

Mein Gedanke bricht mitten im Satz ab. Mir wird heiß und kalt.

Oh ja, wir lieben dich,
wir die Kinder,
die Kin-der,
der heiligen Mutter

Die Singstimme in meinem Kopf nimmt ungeahnte Töne an. Sie schreit in der Dunkelheit meines Kopfes. Würde ich laut singen, hätte ich spätestens jetzt die volle Aufmerksamkeit.

Doch mir wird nur von einem diese geschenkt, der der die ganze Zeit neben mir sitzt und mich anstarrt, noch immer.

Innerlich seufze ich und wende mich ihm nun doch zu.
"Kann ich dir helfen?"

Es sollte kühl, vielleicht sogar ein wenig von oben herab klingen. Tut es nur leider nicht. Meine Stimme entkommt mir wie ein leises Flüstern. Von Selbstsicherheit keine Spur. Allein mein Tonfall ist eine Bitte, er möge doch endlich woanders hinsehen, er mache mich nervös.
Innerlich schlage ich mir gegen die Stirn.

Sein neutraler Gesichtsausdruck wird von einem süffisanten Grinsen abgelöst.
Er beugt sich zu mir und löst in mir den Drang aus mit dem Stuhl bis ans Ende des Raumes rutschen zu wollen.

Ich verkrampfe, auch wenn ich es nicht will, tut es mein Körper ganz automatisch. Sein Gesicht kommt dem Meinen näher und noch näher. Innerlich beginne ich zu zählen.

Oh heilige Mutter...! Meine Hände ballen sich in meinem Schoß zu Fäusten.
Der Herzschlag beschleunigt sich indes merklich, als sein heißer Atem die kühle Haut an meinem Hals streichelt. Eine Gänsehaut stellt meine Armhärrchen auf.

So harre ich aus und er leider auch. Nur am Rande nehme ich wahr, dass Dorias uns beobachtet, was das Ganze noch eine Spur unangenehmer macht. Kinu und Nila befinden sich mittlerweile in einem regen Austausch darüber, ob das Buch, welches Kinu verschlingt, es überhaupt wert ist gelesen zu werden. Der Protagonist sei ein dummer Held, dem immer alles zu jeder Zeit gelingt, argumentiert gerade Nila. Ihr Versprechen, ihr Messer zu werfen, scheint sie somit nicht wahr zu machen.

Mittlerweile hat sich aus der Gänsehaut ein Schauder entwickelt, der rhythmisch meinen Rücken runterläuft. Einer nach dem anderen - es will gar nicht mehr aufhören.

Als ich kurz davor bin aufzuspringen und meinen Stuhl als Schutzschild zu verwenden, schnurrt dieser Mistkerl:
"Du solltest Gesangsunterricht nehmen."


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