29. Das Nebelkind

Nachdem Nila das Mädchen in Sicherheit gebracht hat, schließt Keanan die Augen und konzentriert sich auf die Sichtbarmachung. Eine alte Magie, deren Studium er sich vor zwei Jahrhunderten gewidmet hat und von der er sich einen gewissen Nutzen erhofft hat.

Der Geruch des Honigs materialisiert sich in der Dunkelheit zu einem goldenen Hauch. Keanan dreht sich einmal um sich selbst, die Augen weiterhin geschlossen, und erkennt, wo der Geruch dran haftet. Es sieht wie kleine Flecken aus, die in der Dunkelheit schweben. Da wo die Flecken intensiver aussehen, muss sich der Geruchsträger länger aufgehalten haben.

Er konzentriert sich noch mehr, legt den Schleier der Sichtbarmachung über seine Augen und öffnet sie. Der goldene Hauch ist nun für ihn auch bei geöffneten Augen sichtbar und zeigt ihm ganz wunderbar an, wohin der Geruchsträger gegangen ist.

Ehe er den ersten Schritt machen kann, erscheint Aknos an seiner Seite.
Das Nebelkind hat sich in seine Kampfuniform gekleidet. Ein weißes Hemd und Hose, verstärkt durch Silber, das sich in feinen Adern durch den Stoff zieht und den Körper vor gegnerischen magischen Angriffen schützt. Die Erschaffer haben mehrere Jahrhunderte an dieser Kleidung gesessen, sie mit Schutzzaubern versehen, sodass der Träger von sich aus gegen bestimmte Magie immun ist. Seine Gedanken sind geschützt, denn er kann nicht manipuliert werden. Elementarmagie prallt einfach an ihm ab.
Nur den Angriffen von Waffen, denen muss er selbst standhalten.

Aknos betrachtet die Umgebung und zieht die Luft kräftig ein.
Sein langes Haar, das er gebunden zu einem Zopf trägt, rutscht ihm dabei von der Schulter.
"Der Hof des Südens", stellt er fest und atmet wieder aus. Schwarze Augen treffen fragend auf eisblaue Augen.
Keanan nickt in die Richtung, in die sich der goldene Hauch verflüchtigt.
"Dort ist er lang", sagt er und setzt sich in Bewegung.

"Du hast nach mir gerufen. Warum?", fragt Aknos, während er ihm folgt.

Bei jedem anderen würde Keanan diese Frage als Ungehorsam deuten, doch nicht bei Aknos. Er gehört zu den Nebelkindern, die der Hof besitzt und Aknos, als ihr Anführer, kann unabhängig von Keanans Weisung agieren. Anders als alle anderen Soldaten untersteht er ihm nicht direkt, sondern Dorias Weisung.
Keanan kann ihn lediglich herbeirufen lassen und um Hilfe bitten. Diese zu gewähren obliegt Aknos, außer es ist ein direkter Befehl von Dorias.

Der Name Nebelkind kommt auch nicht von ungefähr, denn Aknos ist in der Lage Nebel zu erschaffen und selbst zu Nebel zu werden. Eine Lehre, die seitdem Krieg keiner mehr erlernen konnte, da die alten Schriften, die diese enthalten haben, verschwunden sind.
Keanan ist der Meinung, dass die anderen Herrscher ihre Finger im Spiel haben und dafür sorgten, dass diese mächtigen Krieger nicht reproduziert werden können. Aussprechen tut er es nicht, es käme einem Todesurteil gleich.

'Weil ich um deine Hilfe bitten wollte", bringt Keanan zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Er hasst es diese Worte sagen zu müssen, vorallem bei jemandem wie ihm. Doch die Fähigkeit zu Nebel werden zu können, bringt durchaus gewisse Vorteile mit sich.
Aknos läuft neben ihm und wirkt nachdenklich. "Warum braucht den der ehrenwerte General Hilfe einen Späher aufzuspüren?"

"Falls es einer ist", korrigiert er und nickt der goldene Spur zu, die vor den Augen des Nebelkindes verborgen bleibt, "Hier zeigt sich, es sind mindestens zwei, wenn nicht sogar drei. Die Spuren laufen zwar aufeinander, so als hätten sie darauf geachtet, dass es so aussieht, als wäre es eine, doch sieht man genau hin, finden sich neben der Hauptspur immer wieder Austritte."

"Hmmhmm", macht Aknos so als würde das sehen, von dem Keanan spricht, "Und du hast nach mir rufen lassen, weil...?"
Keanan seufzt, "Wenn ich den Flug des Windes nutze, werde ich aller Voraussicht nach bemerkt."
Das Nebelkind nickt zustimmend, "Aller Voraussicht nach schon."
"Es wäre hingegen nichts ungewöhnliches, wenn Nebel aufzieht. Du kannst sie festsetzen bis ich ankomme, damit-"
"Damit sie nicht über die Grenze verschwinden. Logisch", beendet er Keanans Satz und tritt vor ihn, sodass dieser anhalten muss.

"Deine Bitte wird dir erfüllt", kommt es ihm pathetisch über die Lippen, was Keanan mit einem Knurren erwidert.
Das Nebelkind schließt seine schwarzen Augen und als es sie wieder öffnet, sind sie weiß. Sein fester Körper wird schwammig und verliert nach und nach alle Farbe. Die schwarzen Haare könnten nun auch die eines alten Greises sein.
Allmählich verliert das Nebelkind seine Form, Dunstschwaden steigen aus dem Überbleibsel seines Körpers hervor, hüllen ihn auch bis auch er zu Nebel geworden ist.

Das alles geschieht innerhalb von Sekundenbruchteilen. Für einen Menschen muss es so aussehen, als würde von einem auf den anderen Moment ein Körper im Nebel verschwinden. Doch Keanan ist kein Mensch, seine Sicht ist deutlich geschärfter und so sieht er den ganzen Prozess, den Aknos Körper durchläuft.

"Beeil dich", haucht die Nebelstimme und es klingt wie ein leise hallendes Echo. Damit ist sie fort und Keanan folgt ihm in einem gebührenden Abstand durch den Flug des Windes.
Er fliegt über die Schneelandschaft hinweg. Immer darauf Bedacht der Nebelwolke nicht zu nah zu kommen bis sie an einem Punkt am Himmel hinabstürzt. Schon im nächsten Moment ertönt ein überraschter Schrei und dann noch einer.

Auch Keanan lässt sich fallen und kommt, durch einen von ihm erzeugten Luftdruck, geschmeidig auf den Füßen an.
Er hat Recht behalten. Es sind Drei. Suchend drehen und wenden sie sich nacheinander um, doch das Nebelkind leistet ganze Arbeit. Der Dunst ist so dicht, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen sehen können.

Wunderbar, er spürt ein Kribbeln der Vorfreude. Es pulsiert in seinen Adern, seine Muskeln spannen sich an und er zieht seinen Stab.
Jéhen ist aus Alamitstahl gegossen. Ein Material, das nicht zerbrochen werden kann und fähig ist, die Magie des Trägers in sich zu tragen.
Um seine Waffe zu aktivieren, flüstert er seinen Namen.
Weiß leuchtet der Stahl auf, als er sich mit Keanan Kräften verbindet.

Er schleicht an den ersten Späher heran und ist überrascht ein bekanntes Gesicht wiederzusehen.
Der Gelbe hat die Arme gehoben und versucht irgendetwas zu erkennen, dabei ruft er immer wieder nach seinen Verbündeten.

"Mejas? Tinkoa?"
Man kann die Angst aus seinem Tonfall heraushören, doch seine Stimme wird von dem Dunst verschluckt.
Keanan steht direkt neben ihm, doch er nimmt ihn nicht wahr, während Keanan alles sehen kann.
Das sind wieder die Momente, in denen ihm bewusst wird, dass er ungern ein Gegner des Hofes des Nordens wäre. Während Eindringlinge durch den Nebel ihrer Sinne beraubt werden, behält er seine.

"Was machst du schon wieder hier?", fragt Keanan in normaler Lautstärke und tritt einen Schritt zur Seite, um einer fliegenden Hand auszuweichen.
"Dir hätte doch klar sein müssen, dass ihr entdeckt werdet oder nicht?"

Der Gelbe knurrt.
"Ich dachte mir bereits, dass der Nebel nicht natürlich ist", antwortet der Knurrende und schlägt erneut in die Leere.
"Natürlich ist in unserer Welt ein interessantes Wort, findest du nicht?"
Keanan geht um sein Opfer langsam herum und beobachtet jede Regung von seiner Seite.
"Also...", Keanan zieht das Wort in die Länge, "Was machst du hier? Dir ist klar, dass ich dich dieses Mal nicht entkommen lasse, oder? Dummerweise bist du der Erste, dem ich begegne."

Keanan erinnert ihn zu gerne daran, dass er ihre letzte Begegnung nur überlebt hat, weil Fenris und Gejo zuerst in seinen Fokus gefallen sind.

"Das weiß ich", antwortet der Späher und stellt seine Schläge in die Luft ein. Plötzlich wirkt er wie ein Häufchen Elend. Er könnte einem fast leid tun.
"Ich hatte keine Wahl. Die Rose..." Er zeigt seinen Handrücken und selbst Keanan kann sehen, wie sie bereits jetzt schon pulsiert. Allein, dass er mit ihm redet, erzeugt ihm Schmerzen.

Keanan weiß es genau. Er hat es bei Gejo gesehen, als er ihn befragt hat. Diesen Eid, den Jelena ihre Untertanen leisten lässt, raubt ihnen ihre Selbstbestimmtheit und lässt sie bei Ungehorsam in Flammen aufgehen. Diese Art von Magie ist alt und stammt noch aus einer Zeit, in der die Untertanen eines Herrschers versklavt wurden. Keanan folgt Dorias, weil er ihm loyal ist, weil er sich dazu entschieden hat, ganz bewusst.

Ich bin nur einer von vielen. Es stört sie nicht, wenn ich hier sterbe."
"Das tut mir wirklich leid", gibt Keanan mitleidlos von sich und fragt: "Warum seid ihr hier?"

Der Gelbe lacht bitter auf.
"Soll ich wirklich meine Herrscherin hintergehen?"
"Deine Herrscherin hat dich in den Tod geschickt und ich bezweifle, dass du ihr immer noch folgen würdest, wäre da nicht dein Eid."
Das Lachen verklingt. Der Gelbe lässt die Schultern hängen und sich auf die Knie gleiten.
"Ich sterbe sowieso", haucht er und fügt mit schluchzender Stimme hinzu: "Es war von Anfang an klar. Ich sterbe, weil sie es will."

Die Rose glüht mittlerweile. Keanan verliert Zeit. Es sei dem Späher gegönnt, dass er feststellt, dass sein Herrscher sich keinen Deut um seine Untertanen schert, doch Keanan muss wissen, warum sie gekommen sind. Er muss es hören, damit Dorias es hört. Er spürt ihn wie eine warme Präsenz in seinem Rücken. Auch wenn Dorias keinen Ton von sich gibt, wie er es normalerweise tut, wenn er die Seelenstimme einsetzt, so ist er hier und er wartet.

"Willst du dich für deinen Tod rächen, dann sage mir, warum", versucht es Keanan auf eine andere Schiene.
Rache ist immer ein guter Motivator.
Der Gelbe zittert, das Glühen wird so stark, dass es ihm allmählich die Hand versenkt. Der Geruch von verbrannten Fleisch steigt ihm in die Nase.

Der Späher scheint über seine Worte nachzudenken, zieht sie zumindest in Betracht. Andernfalls würde der Eid ihm nichts anhaben, wenn er genauso sterben würde wie Jelena es sich wünscht - mit einem Schweigen auf den Lippen und völliger Hingabe in seinem Geist.

"Sie wollte..." Die Rose beginnt nun Funken zu schlagen. Der Gelbe zieht zischend die Luft ein und bringt im nächsten Atemzug heraus: "Herausfinden..."
Er stockt und ein Schmerzensschrei bricht aus seiner Kehle heraus. Ein Finger nach dem anderen verglüht und rieselt zu Boden.
Verbrannt, nicht mehr als Asche.

"Was? Was wollte sie herausfinden?", fragt Keanan und hockt sich neben den Späher, "Ob das Mädchen noch bei uns ist?"
Dieser nickt. Nur eine Sekunde später geht Besagter in lichterlohen Flammen auf. Sein Schrei hallt durch den undurchdringbaren Dunst, sodass selbst seine Kameraden ihn hören können.

Panik bricht unter ihnen aus. Rufe und Schreie werden laut.

Keanan erhebt sich und betrachtet die zusammengesunkene Gestalt, deren Substanz sich allmählich in den Winden des Nordens verliert.

"Reicht dir das?", fragt er ins Nichts hinein und Dorias Stimme antwortet ihm mit einem Flüstern: "Das ist ausreichend. Entledige dich der anderen beiden und dann komm zurück. Wir haben einiges zu besprechen."



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