28. Am Kristallsee

Wir kommen in einer hügeligen Schneelandschaft an.
Erleichtert atme ich aus. Jedes Mal, wenn ich mich mit dem Flug des Windes fortbewege, habe ich Angst, dass mir am Ende Gliedmaßen fehlen.

Aber, es scheint noch alles dran zu sein, wie ein Blick mir verrät.
Die Winterbärin ist schon einige Schritte vorausgegangen ehe sie sich zu mir umdreht.
Sie winkt mich zu sich.
"Du hast doch gehört, was der werte Herr gesagt hat. Ich soll dir den Kristallsee zeigen. Also komm schon."

"Ihr versteht einander nicht sonderlich gut, oder?", frage ich offen, als ich bei ihr ankomme.
Überrascht sieht sie mich an.
"Wir sind nicht immer einer Meinung, aber eigentlich mögen wir einander recht gerne", verrät sie mir mit einem Zwinkern und ich werde prompt rot im Gesicht.
Mit so einer Antwort habe ich nicht gerechnet.

Sie bemerkt meine Errötung und ihr entkommt ein glockenhelles Lachen.
"Gibt es das in deiner Welt nicht?", fragt sie glucksend und geht kopfschüttelnd weiter.

Irgendwie werde ich aus den Arraris nicht schlau.
Dorias scheint von seinen Stimmungen einer Boje auf hoher See zu gleichen. Keanan ist gefühlt voller Hohn und Kälte und Nila so überaus freundlich, so als würden wir einander schon lange kennen. Sie ist so herzlich zu mir, das bringt mich aus dem Konzept.

Ist sie wirklich so oder spielt sie es nur?
Ich beeile mich ihr nach zu kommen und erklimme die Anhöhe.
Meine Füße sacken im Schnee bei jedem Schritt ein und jeder von ihnen hinterlässt ein tiefes Loch, während Nila leichtfüßig über die Oberfläche läuft.

Ich keuche, als ich mich vorwärts kämpfe.
Auf Hälfte des Weges halte ich an und beuge mich vorn über.
Nila, die bereits oben angekommen ist, dreht sich um und kommt zurück.

"Tut mir leid, ich vergesse manchmal, dass Menschen nicht so schnell sind."
"Witzig", keuche ich und richte mich auf, "Das höre ich nun schon zum zweiten Mal."
"Ich gehe nun langsamer", verspricht sie.
Das höre ich auch schon zum zweiten Mal.

Ich nehme meine ganze Willenskraft zusammen meine Beine wieder in Bewegung zu setzen und stiefele weiter. Nila die ganze Zeit dabei an meiner Seite.

"Sag mal, wie häufig liest Keanan denn so die Gedanken von anderen?", frage ich nach einigen Schritten und sehe sie von der Seite her an.
Sie schmunzelt. "Das hat dich erschrocken, nicht wahr?"
"Nun ja", antworte ich vage, "Die Gedanken sind immerhin das Einzige, was wirklich frei ist und sie sind das Intimste, was ein Mensch besitzen kann", ich stocke kurz und füge schnell ein: "Und ein Blütler" hinzu.

"Du brauchst dir keine Gedanken machen. Keanan akzeptiert für gewöhnlich die Privatsphäre anderer. Nur bei mir, da erlaubt er sich so manches Mal einen Spaß." Sie zwinkert verschmitzt.
Doch irgendwie wollen ihre Worte mich nicht beruhigen. Allein die Tatsache, dass er es kann, löst in mir Unbehagen aus.

Wenn er wollte, könnte er meine dunkelsten Gedanken lesen. Ich muss unbedingt vorsichtig sein, woran ich denke, wenn er in der Nähe ist.
Innerlich stelle ich mich schon darauf ein, das Dankeslied an die heilige Mutter  in Gedanken zu singen, wenn ich ihm wieder begegne.

Es ist schon schlimm genug, dass er meinen Namen in Erfahrung bringen konnte. Wer weiß, was er in der Zeit als seine Händchen auf meinem Kopf lagen noch so über mich erfahren hat? Pah, er hat mir nicht nur meine Erinnerung zurückzugeben. Er hat sich auch schon wieder etwas genommen.

"Du kannst ihn aussperren, wenn du nicht willst, dass er deine Gedanken liest", unterbricht Nila meine Grübeleien.
"Echt? Wie?"
"Indem du eine Mauer errichtest, die sie schützt", antwortet sie als sei es das selbstverständlichste der Welt.

Ich hingegen sehe sie bloß mit großen Augen an, doch ehe sich die Frage über meine Lippen stehlen kann, wie ich das anstellen soll, bleibt sie plötzlich stehen und hebt präsentierend den Arm.

"Wir sind da."

~•~

Der Kristallsee ist nicht einfach im ursprünglichen Sinne ein See. Ich habe gedacht, es sei ein Name, da das Wasser vielleicht besonders klar ist, doch ich habe mich getäuscht.

Ich habe keine Ahnung, warum man das, was ich hier sehe, See nennt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kristall, zumindest sieht er von der Form so aus, doch die Oberfläche ist nicht glatt und hart, sondern wabernd und durchlässig.

Ich kann meinen ganzen Arm hineinstecken und er kommt nass wieder heraus.
Das Wasser liegt nicht in einer Kuhle oder einem Flussbett, es schwebt in Kristallform mehrere Zentimeter über dem Boden und diese Form ist riesig. Höher als der Baum, der daneben steht und dessen Zweige in dieses Ungetüm hineinragen.

"Was ist das?", frage ich verdattert und betrachte die lila schimmernde Oberfläche.
"Eine Spielerei von Dorias", antwortet Nila, die fast gelangweilt an besagten Baum lehnt, "Früher war es ein normaler See." Sie stampft mit dem rechten Fuß auf den Boden, "Er lag genau hier, wo heute der Baum steht. Eine Wette führte vor einigen Jahrhunderten dazu, dass daraus das hier wurde."
"Aber warum einen See verändern?"
Nila zuckt die Schultern, "Langeweile? Ich weiß es nicht und ich hinterfrage Dorias nicht."

Ich nicke und blicke erneut zu dem schwebenden See. Es ist der reine Wahnsinn.
"Du?", frage ich und bringe Nila dazu aufzublicken, nachdem sie ihre Fingernägel inspiziert hat, "Dorias, der Herrscher, ist ein Goldblütler nicht?"
Er muss einer sein, wenn er die Elemente so manipulieren kann.
Nila nickt, "Jeder der Herrscher ist es und ihre Generäle sind es auch."
"Und..." Ich hadere. Ob ich ihr einfach so weitere Fragen stellen kann?
"Hmmm?", kommt von ihr indes und sie sieht mich wartend an.
"Gibt es viele Goldblütler und bestimmt bereits die Geburt welchen Rang ein Blütler hat?"

Ich erinnere mich, dass Nila erklärte, dass die Farbe auch für den Rang steht.

"Zu deiner ersten Frage, es gibt einige. Bei weitem nicht so viele wie Silberblütler. Und ja die reinrassigen werden so geboren. Jeder Herrscher stammt aus einer langen goldenen Linie. Auch einige Generäle gehören dazu."

Ich nicke und versuche ihre Antwort zu sortieren.
"Du sagtest einige, gibt es unter den Generälen auch Silberblütler?"
Nila stößt sich vom Baum ab.
"Nein, alle Generäle sind Goldblütler, doch ein paar von ihnen entstammen keiner goldenen Linie. Sie waren einst Silberblütler, doch mit dem Eintritt in die Position eines Generals erhält jeder von ihnen ein Seelenstück seines Herrschers. Es gibt ihnen Kraft, Macht und eben auch das Dasein eines Goldblütlers", erklärt sie und schiebt hinterher: "Wenn sie es nicht bereits sind."

"Wow", bringe ich beeindruckt hervor, "Also könntest du theoretisch auch zu einem Goldblütler werden?"
"In der Theorie schon, doch ich bin eine Winterbärin. Meine Berufung liegt im Wachen und Beschützen, nicht darin, sich strategische Züge auszudenken und ein Heer zu befehligen." Sie lächelt stolz.
"Aber es wäre möglich?", bleibe ich dran.
Sie schüttelt den Kopf, "Aufgrund meiner Berufung würde ich nie erwählt werden. Keiner meiner Vorfahren war jemals ein General. Wir waren schon immer die Winterbären."

Ich nicke und mir drängt sich gleich die nächste Frage auf. Jede Antwort formt neue Fragen, entfacht meine Neugier. Es gibt so viel neues zu entdecken, zu erfahren, ob ein Menschenleben dafür ausreicht? Die Arraris oder die Blütler sind viel interessanter, als ich angenommen habe. Anstatt nur blutrünstige Bestien zu sein, leben sie aufgegliedert an verschiedenen Höfen. Sicherlich mit einer eigenen Funktion. Sie sind der Magie mächtig und können physikalische Gesetze aushebeln, und sie haben ihr eigenes System.
Eine völlig andere Welt.

"Wie wird denn ein General erwählt?"
Nila sieht einen Moment nachdenklich aus, dann als sei sie ganz weit weg gewesen, sieht sie mich plötzlich an.
"Alles in Ordnung?", frage ich.
Sie nickt, "Ich habe mich gerade nur abgesichert, ob ich davon sprechen darf."
Überrascht sehe ich sie an, doch sie winkt ab und wendet sich mir vollständig zu.
"Unsere Götter entscheiden das in uralten Riten. Sie..."
Plötzlich hält Nila inne und erstarrt vollständig.
Von ihrem ganzen Körper geht keine einzige Regung aus, so als hätte sie selbst die Atmung eingestellt.

"Was ist los", will ich fragen, doch schon beim Öffnen meines Mundes, hebt sie die Hand. Irritiert sehe ich sie an, schließe ihn aber wieder.

Unruhe ergreift mich je länger wir hier stehen und sie ihren Blick auf einen Punkt in meinem Rücken richtet.
Sekunden verstreichen, in denen der Wind an uns vorbeirauscht.

"Was ist los?", flüstere ich nun doch und blicke zaghaft über die Schulter. Doch da ist nichts, außer die schöne weiße Landschaft und Bäume, die aussehen, als wären sie mit Puderzucker bestäubt worden. Ich sehe nichts, was hier nicht auch hingehört.

"Still", zischt sie und lässt ihren Arm sinken. Stattdessen legt sie nun ihren Kopf in den Nacken und riecht.
Ein bekanntes Bild, das mich an die Lichtung erinnert. Die gelben Männer haben genau das gleiche getan, bevor mich mein Geruch verraten hat.

"Riechst du das?"
Ich schnuppere daraufhin, doch ich rieche nichts außer die klare Winterluft.
"Nein, ich..."
"Die Frage war nicht an dich gerichtet", unterbricht mich eine angespannte Stimme. Mein Herz setzt aus, der Schrei formt sich bereits in meiner Kehle, doch bevor er herauskommen kann, schlage ich die Hände vor den Mund und presse die Lippen zusammen.
Ein abgedämpftes Hmmmmm erklingt.

Keanan ist neben Nila getreten und betrachtet die Umgebung hinter mir eingehend.
"Honig", stellt er fest.
"Also bilde ich es mir nicht ein?", fragt Nila, ohne den Blick abzuwenden.
Er schüttelt den Kopf, "Es ist nur ein Hauch. Weit weg."

Ich, die immer noch mit den Händen vor dem Mund dasteht, lasse sie sinken.
"Was heißt das? Honig?"
Keanan sieht mich bei der Frage kurz an, doch dann schweifen seine eisblauen Augen wieder zu Nila.

Ohne auf meine Frage einzugehen, weist er sie an: "Bring das Mädchen zurück ins Schloss und schick Aknos heraus."
Sie nickt und fasst nach meiner Hand, während ich mit noch größerer Unruhe die Beiden betrachte.
Irgendetwas ist los, das meinen Sinnen verborgen bleibt, doch es scheint sie nervös werden zu lassen.
Nila murmelt die Worte für den Flug des Windes und schaut dabei immer wieder über die Schulter, als würde sie gleich einen Angriff erwarten.

Auch wenn ich keine Ahnung habe, was vor sich geht, spüre ich ihre Anspannung so deutlich, dass sie zu meiner eigenen wird.
Keanan hat sich derweil kampfesbereit einem Gebüsch entgegen gestellt, als würde der Leibhaftige darin hocken.

Wusch

Und da bin ich auch schon wieder in dem Zimmer, in dem ich mehrere Tage verbracht habe.
Nila lässt meine Hand los und wendet sich mir zu. In ihren Augen eine stumme Mahnung.
"Bleib hier und komm nicht raus." Sie wendet sich ab, ich höre sie schon wieder murmeln, da greife ich nach ihrem Arm.
"Was ist los?", frage ich die Anspannung nicht mehr aushaltend. In meinem Bauch ein nervöses Kribbeln. Sie blickt mich über die Schulter an, ein kurzer Blick, ehe sie sich aus meinem Griff befreit und den Kopf schüttelt.

"Nicht jetzt. Ich habe keine Zeit für Erklärungen", antwortet sie gehetzt und beginnt erneut zu murmeln.
Dieses Mal lasse ich sie gewähren, trete sogar einen Schritt zurück, damit ich nicht wieder auf die Idee komme sie aufzuhalten.

Nur einen Moment später ist sie verschwunden und ich bin erneut alleine. Unzählige Fragen wirbeln durch meinen Kopf, als ich mich aufs Bett gleiten und die Zeit an mir vorbeiziehen lasse.

Irgendetwas ist da draußen gewesen. Etwas, was selbst eine Bärin angespannt werden ließ und ich habe nichts, rein gar nichts, davon wahrgenommen.

Diese Welt ist noch viel gefährlicher, als ich es gedacht habe, denn die Gefahr schleicht sich lautlos an, lauert im Unsichtbaren und wenn sie sich zeigt, ist es vermutlich zu spät für mich.

Wie soll ich hier irgendetwas erreichen, wenn meine Sinne so verdammt menschlich sind?

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