20. Stiller Sturm

Auf meine Antworten scheine ich noch warten zu müssen, denn seitdem sich der Weißhaarige in Bewegung gesetzt hat, bin ich nur mit dem Versuch beschäftigt Schritt zu halten.
Obwohl es nicht so aussieht, als würde er übermäßig schnell gehen, wird der Abstand zwischen uns dennoch größer.

"Hey!", rufe ich irgendwann völlig erschöpft und beuge mich laut keuchend vorn über.

In mein Blickfeld treten zwei nackte Füße.
"Verzeih, ich vergesse immer, dass Menschen derart langsam sind."
Empört blicke ich auf. Seine Entschuldigung kommt einer Beleidigung gleich.

Wartend steht er neben mir und seufzt, während er sich suchend umsieht.
... zuständig... sollte... Wachen...
"Wie bitte?", frage ich und richte mich auf.

War das an mich gerichtet?

Auf meine Nachfrage sieht er mich abschätzig an.
"Das war nicht für deine Ohren bestimmt."

Scheinbar nicht.

"Komm", sagt er in normaler Lautstärke und macht eine Handbewegung, die mir bedeutet ihm zu folgen, "Du hattest doch Fragen. Ich gehe auch langsamer. Versprochen."

Er wendet sich ab, doch wenn ich es mir nicht einbilde, haben sich seine Mundwinkel beim letzten Wort in die Höhe gezogen.

In der Vorahnung, dass sein Versprechen genauso viel Wert ist wie das meines Vaters...
Ich halte inne.

Vater...

Irgendwas klopft an die Tür meiner Gedankenwelt. Der Fetzen eines Bildes. Verblasst wie die staubigen Zeilen in Vaters Büchern.

Vater...

Eine geöffnete Tür. Das Licht reicht nicht weit genug, um die Dunkelheit dahinter zu erhellen. Das Bild, es wirkt, als liege es im Nebel. Undurchdringbarer Nebel, nur schemenhaft erkennt man Umrisse.

Vater...

Ein rauschender Ton schwillt an. Wie ein Brennen versenkt es meine Ohren. Brennt sich durch den Gehörgang, wandert den Hals hinab und in der Brust angekommen, explodiert es.

Ich falle auf die Knie und greife an meinen Hals, während ich versuche einzuatmen.

Vater...

Mein Herz bollert in meiner Brust, als wäre ich in größter Gefahr. Doch hier ist nichts außer Schnee und der Weißhaarige, der einfach weitergeht. Er scheint gar nicht mitzubekommen, dass ich zurück bleibe.

Ich falle vornüber, schaffe es gerade noch mich mit den Armen abzufangen und keuche laut. Obwohl der Atem meine Kehle verlässt, habe ich das Gefühl, als würde ich ersticken. Meine Brust ist schwer, das Herz viel zu schnell und meine Hände taub, als hätte jegliches Gefühl sie verlassen.

Woher kommt das?, frage ich mich und spüre wie Panik von mir Besitz ergreift. Tränen schießen mir in die Augen, während ich wie verrückt atme und versuche den Sturm in mir niederzuringen.

Plötzlich spüre ich eine Hand auf meinem Rücken. Aus verschwommener Sicht blicke ich empor. Der Weißhaarige steht neben mir, hat sich zu mir herunter gebeugt. Seine Lippen bewegen sich, doch kein Ton schafft es durch das Rauschen in meinen Ohren. Ich greife nach seinem Fußgelenk, klammere mich an ihm fest, als wäre er mein Rettungsanker.

Als würde die Berührung von Haut zu Haut mich beruhigen, nimmt der Sturm ab. Wird zu einem lauen Lüftchen bis es allmählich verstummt. Mit klammen Fingern löse ich den Griff und setze mich zittrig auf.

"Alles in Ordnung?", höre ich ihn fragen. Mehr als ein Nicken bringe ich als Antwort nicht hervor.
Ich fühle mich geschwächt wie damals, als ich nach einigen Tagen Fieber das erste Mal meinen Karren wieder über die unebenen Wege gezogen habe.
Meine Beine fühlten sich wie Pudding an und die Glieder zitterten bei jeder Kraftanstrengung.

"Tut mir leid", hauche ich und nicke seinem Fußgelenk zu.
"Brauch es nicht", antwortet er sanft und tritt einen Schritt weg, "Kannst du laufen?"
Vorsichtig drücke ich mich in die Höhe, schwanke kurz, finde dann aber einen sicheren Stand.
Der Weißhaarige beobachtet mich dabei genau.

"Ich denke schon", antworte ich schwach. Er nickt. "Dann komm", sagt er und geht den ersten Schritt, allerdings nicht ohne ein wachsames Auge auf mich zu werfen.

Immer noch ein wenig wackelig, folge ich ihm. Dieses Mal laufen wir auf gleicher Höhe. Stille legt sich über uns, die nur vom Wind unterbrochen wird. Ich spüre noch immer die Angst in meinen Gliedern und die Erinnerung an den Gefühlssturm lässt mich innerlich zittern. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, sehe ich den Mann neben mir an. Stolz wirkt er, der Blick hart, das Gesicht weich. Er sieht jung aus, doch durch die Art und Weise wie er sich ausdrückt, wirkt er viel älter. Wie alt mag er wohl sein und was haben diese harten Augen schon alles gesehen?

"Wo sind wir?", frage ich, um ein Gespräch anzufangen. Die flache Schneelandschaft wird von einer Gebirgskette in der Ferne durchbrochen, deren Ausläufe wir allmählich betreten. Es wird hügeliger und einer ist größer als der andere. Unser Weg führt uns durch sie hindurch.
"Am Hof des Nordens. Meinem Herrschaftsgebiet", antwortet er ohne mir einen Blick zu schenken.

"Außerhalb von Wenterra."
Es ist keine Frage, die ich stelle, sondern eher eine Gewissheit, die ich äußere.
Noch nie habe ich soviel Schnee gesehen.
"Im Schnee und Eis ist der Hof geboren, deswegen siehst du soviel davon. Er gehört zum Hof des Nordens."
Verwirrt sehe ich ihn an. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass ich meinen Gedanken laut ausgesprochen habe.

"Der Schnee ist nicht kalt. Warum nicht?"
Der Weißhaarige schenkt mir einen amüsierten Blick von der Seite ehe er wieder nach vorne sieht.
"Du bist ein Teil des Hofes. Zumindest zeitweise. Ein... Hmmm... Ein Gast. Sieh dich als Gast und deswegen spürst du seine Kälte auch nicht."
"Also machst du das?", versuche ich aus seinen Worten schlau zu werden.
"Der Hof macht das."

Der Weißhaarige redet über ihn, als wäre der Hof ein lebendig fühlendes Wesen, das eigenständig Entscheidungen treffen könnte. Gruselig, das ist mein Fazit dazu. Ich reibe mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben.

"Und warum bin ich ein Gast?", nehme ich das Gespräch wieder auf. Innerlich bin ich in Gedanken wieder dabei, mich aufzurufen endlich aufzuwachen. Das alles kann nur ein Traum sein.

"Alles hat Zeit", antwortet er mir ausweichend, was mich dazu veranlasst stehen zu bleiben.
"Ich habe keine Zeit", erwidere ich ungehalten.
"Warum nicht?" Er sieht mich fragend an, während er an mir vorüber geht. "Hier hast du Zeit", wehen seine Worte zu mir.

Ich balle die Hände zu Fäusten.
Er hingegen geht wieder weiter. Als schon ein gutes Stück uns voneinander trennt, rufe ich: "Hey!" und mache einen langen Schritt.

Er dreht sich um. Neutralität liegt in seinem Gesicht, als unsere Blicke einander treffen.
"Mag sein, dass du Zeit hast. Ich habe die nicht! All meine Erinnerungen sind weg. Ab dem Moment, in dem ich in dem Hügel aufgewacht bin. Ich weiß nicht warum ich hier bin oder was das eben war. Ich habe ein Recht zu erfahren..."
Plötzlich steht er mir genau gegenüber. So nah, dass ich ihn berühren könnte, ohne den Arm ausstrecken zu müssen.

Mein Herz macht einen Salto und ich stolpere erschrocken zurück. Langsam, als ob ihm bewusst wäre, welche Wirkung er bei mir erzielt, folgt er mir. Das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen verzogen und wenn ich mich nicht täusche, bleckt er sogar die Zähne.

Ein Schauder läuft meinen Rücken hinab, als er direkt vor mir stehen bleibt. Wie in Zeitlupe beugt er sich zu mir herab. Sein heißer Atem streichelt meine empfindsame Haut am Hals, als er flüstert: "Als ein Gast des Hofes ist dein einziges Recht hier zu sein. Alles andere sind Nettigkeiten meinerseits."

Ich unterdrücke den Schreck und schaffe es den Kopf zu heben. Lodernde Augen erwidern meinen Blick.
Mit aller größter Mühe unterdrücke ich das Zittern in meiner Stimme.
"Bin ich ein Gast oder eine Gefangene?"

"Das darfst du selbst entscheiden", flüstert er mit samtener Tonlage, "Ich habe mir mal sagen lassen, dass Verletzungen am Kopf zu Gedächtnisverlust führen können." Er blickt vielsagend in mein Gesicht, "Den konnte ich heilen, aber was du dadurch verloren hast, das kann ich dir nicht zurückgeben. Zumindest jetzt noch nicht."
Damit richtet er sich auf und wendet sich ab, während ich wie vom Donner gerührt dastehe und ihm zu sehe, wie er weitergeht.

Seine Antwort eröffnet zig weitere Fragen.

Ich beeile mich ihm nachzukommen. Auf seiner Höhe angekommen, sehe ich ihn ernst von der Seite her an. Die Arme vor der Brust verschränkt, sage ich: "Selbst wenn, dann verdiene ich dennoch eine Antwort. Wie zum Beispiel, woher ich überhaupt eine Kopfverletzung hatte?!"

"Das stimmt", bestätigt er überraschenderweise, "Aber, wie gesagt, nicht jetzt."
"Wann dann?" Ich merke selbst, dass ich mich wie ein kleines Kind anhöre, doch ich kann einfach nicht anders.
"Wenn die Zeit dafür reif ist", antwortet er und lächelt. Dieses Mal ist es ein sanftes. Die gruselige Maske ist verschwunden.

"Schau, wir sind da", sagt er und streckt den Arm aus, "Willkommen am Hof des Nordens."

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