18. Verbindung
Der General des Nordens ist angespannt. Nicht nur, weil er sich am Hof des Südens befindet und sich die ganze Zeit schon auf einen Angriff einstellt, sondern auch, weil Jelenas Worte Böses erahnen lassen.
Mahena ist ihr Schoßhund, doch anders als ein süßes kleines Fellknäuel ist er so groß wie ein Pferd mit borstigen Fell und messerscharfen Zähnen. Früher bevölkerten sie ganz Klatis bis sie ausgerottet wurden. Hat ein Mahena einmal Blut geleckt, verfolgt er sein Opfer solange bis er es hat. Eine mächtige Waffe, die in falschen Händen mehr Zerstörung als einen positiven Nutzen mit sich bringt. Jelena war einst die größte Fürsprecherin der Ausrottung und dennoch hält sie sich einen von ihnen selbst.
Sollten Dorias Worte wirklich der Wahrheit entsprechen, so würde all das, was dem Mädchen angetan wird eins zu eins Kinu widerfahren.
Kenaen knirscht mit den Zähnen. Hätte er gewusst, dass dieses Menschenkind so wichtig für den Hof werden würde, hätte er sie nicht ziehen lassen. Nein, er hätte sogar dafür gesorgt, dass Kinu auf dem schnellsten Wege wieder in den Norden zurückkehrt, damit dergleichen erst gar nicht geschehen kann, anstatt sich einverstanden zu erklären, dass er dabei ist.
"Gräm dich nicht." Dorias legt ihm die Hand auf die Schulter und drückt sie.
"Zu spät", murmelt Keanan und wendet sich ab. Er spürt den Blick des Herrschers auf sich ruhen, um abzulenken fragt er: "Warum lässt sie uns solange warten?"
Seitdem Jelena ihre Zustimmung gegeben hat, stehen sie im Schlosshof. Geschäftiges Treiben herrscht hier, auch wenn dieses einen großen Bogen um den Herrscher des Nordens und seinem Gefolge macht.
Blütler bringen auf Karren ganze Berge von getöteten Wild. Leblose Augen wohin man auch blickt.
Ein Überfluss, der unnötig ist, wie Kenaen findet. Ihm war es schon immer zuwider Leben zu nehmen. Er tut es, wenn es nötig ist. Doch das hier ist nicht nötig. Jelenas Volk wird keinen Bissen des Fleisches abbekommen, stattdessen wird alles in ihr Schloss gekarrt, wo es die Goldblütler nett anzusehen finden und ein Häppchen hier, ein Häppchen da sich genehmigen werden.
"Du weißt, dass sie einen gerne zappeln lässt", antwortet Dorias, als gerade ein weiterer Wagen über das Kopfsteinpflaster an ihnen vorbeirumpelt und der Blütler, der ihn schiebt, tunlichst darauf achtet ihnen nicht in die Augen zu sehen. Man könnte glauben, sie seien Luft für ihn.
"Ich hätte nicht soviel Zeit, würde ein Krieg vor meiner Tür stehen."
"Deswegen bist du ja auch kein Herrscher", meldet sich Mikonos zu Wort, der bisweilen auf einem Weinfass gesessen hat und von diesem nun herunterspringt.
Die Kettchen an seinem Fußgelenk klirren bei jedem Schritt, als er auf sie zugeht.
Er richtet seine schwarze Robe, die seinen spindeldürren Körper verdeckt.
"Ich bin mir sicher", sagt er gedehnt, als er neben sie tritt, "dass dieser Ort nicht ohne Grund ausgesucht wurde."
Auf Kenaens fragenden Blick fügt er hinzu: "Jeder soll sehen, warum der Hof des Nordens hier ist. Die Nachricht wird in aller Munde sein."
"Und soll meine Stellung, beziehungsweise die des Nordens untergraben", pflichtet Dorias ihm bei und wirft daraufhin einen kurzen Blick zu den Schlosstoren.
"Und das stört dich nicht?" Kenaen folgt seinem Blick.
Der Hof des Südens ist schon immer ein Paradies für Pflanzen jeglicher Art gewesen. Jelena schickt immer wieder Händler aus, die ihr Samen beschaffen sollen. Als Jelena Klatis hinter sich ließ, hat sie jeden wissen lassen, dass ihr Hof ein Heim für jede Pflanze dieser Welt werden würde, selbst für die, die andere als Unkraut bezeichnen. Und man sieht es. An den Stützbalken, die die Dächer rund um den Hof halten, klettern die unterschiedlichsten Pflanzen empor. Kleine Blättchen mit langen Dornen, große runde Blätter mit spitzen Blüten.
Efeu, wohin das Auge blickt, Goldregen, Winterjasmin, Hopfen; ein Sammelsurium von Blumen, die bei Jelena alle prächtig gedeihen.
Selbst ihr Schloss, aus Stein erbaut, sieht mittlerweile aus wie eine riesige Pflanze. Wilder Wein hat sich auf allen Wänden ausgebreitet, dazwischen irgendwas anderes mit gelben Blüten.
Kenaen fühlt sich jedes Mal von der Fülle der Farben erschlagen.
Da mag er den schlichten Glanz des Nordens deutlich lieber.
"Meine Stellung ist sicher. Da kann so etwas auch nichts ändern."
Plötzlich scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Blütler im Hof halten inne, als seien sie erstarrt. Egal, wo sie sich befinden und was sie gerade getan haben, sie stellen es ein und neigen ergeben ihren Kopf. Nur ein Moment später ertönt ein Donnern. Die Tore öffnen sich.
Jelenas Schlächter kommen zum Vorschein, doch ihr Anblick ist es nicht, der Keanan einen Schauder über den Rücken laufen lässt, sondern das Bündel, das sie an je einem Arm hinter sich herziehen.
Mehr tot als lebendig.
~•~
Zuvor am Hof des Nordens
"Wie geht's dir nun?", fragt die braunhaarige Frau und betrachtet den Jüngeren eingehend.
Sie sitzt im Schneidersitz vor ihm auf einem dunkelroten Kissen, um sie herum befinden sich unzählige Kerzen und Kreidezeichnungen auf dem dunklen Gestein.
Der Keller war schon immer ein Ort des Wachstums gewesen. Keanan trainiert hier regelmäßig und fordert sich und seine Ängste heraus.
Holankus, der Spiegel mit dem eisernen Rahmen und der milchigen Oberfläche, füllt fast die ganze hintere Wand aus.
Er ist ein Seelenportal und führt den Reisenden in den tiefsten Kern seines Selbst, wo er sich seinen inneren Dämonen stellen muss. Der Hof des Nordens nutzt ihn seit Jahrhunderten und hat deswegen auch die stärksten Krieger.
Aber der Spiegel sorgt nicht nur dafür, dass Ballast und Angst losgelassen wird, sondern auch, um zu reifen. Sein Betreten ist die erste Prüfung, um Herr seiner Fähigkeiten zu werden. Einige brauchen mehrere Besuche und andere nur einen.
Sie selbst, hat es nach einmaligen Male geschafft, ihre wahre Form anzunehmen.
Die Winterbärin.
Ihr Blick ruht auf dem jungen Mann, der fast zögerlich die drei Stufen vom Spiegel aus heruntergeht. Auch, wenn er verunsichert scheint, wirkt sein Gang nun animalischer sowie es sich für die Familie der Winterbären gehört.
"Anders", beantwortet er ihre Frage, "Irgendwie... anders."
Er bleibt am Fuße des Treppchens stehen und betrachtet seine langen Arme, tritt mit dem Fuß auf, spannt seinen Körper an und lässt seine Muskeln wieder erschlaffen.
"Ich fühle pure Energie. Sie fließt wie glühendes Lava durch meine Venen. Fast unangenehm."
Nila klappt das Buch zu und steht auf.
"Daran gewöhnst du dich. Aber eines musst du noch tun, um die Prüfung abzuschließen." Sie legt ihm die Hand auf die Schulter und blickt in seine aschgrauen Augen.
"Verwandel dich. Nur dann wird dein Tierbild seine Kindlichkeit hinter sich lassen. Nur dann wirst du zu einem Winterbären. Es muss genau jetzt geschehen, genau nach der Prüfung."
Das jugendliche Gesicht des Mannes verzieht sich zu einem gequälten Ausdruck, doch anstatt seiner Mutter zu widersprechen, entledigt er sich seiner blauen Tunika und der hellen Leinenhose.
So wie er die Welt betreten hat, steht er vor ihr und spannt sich erneut an. Seine drahtige Gestalt gewinnt an Masse. Die Beine nehmen fast den dreifachen Umfang an.
Aus seinem Rücken sprießt büschelweise braunes, zotteliges Fell. Er öffnet den Mund und ein Schrei schwillt an, der sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in ein Brüllen wandelt.
Nila beobachtet mitleidig die erste Verwandlung ihres Sohnes in einen ausgewachsenen Winterbären.
"Das erste Mal ist immer schmerzhaft", versucht sie ihn zu beruhigen, als sein Brüllen einen erstickten Ton annimmt.
Auch sie hat damals unermessliche Angst empfunden.
Als jeder einzelne Knochen in ihrem Körper gebrochen ist und sich neu formte, wusste sie wie sich sterben anfühlt und wäre ihr Vater nicht gewesen, der ihr gut zugeredet hat, hätte sie die Verwandlung vermutlich nicht überlebt.
Etwas, was sie Kinu verschwiegen hat. Auch ihr wurde es damals verschwiegen.
"Das ist völlig normal. Du musst es nur durchhalten", macht sie ihm Mut, als er auf alle Viere fällt.
Ein Fingernagel nach dem anderen löst sich. Zum Vorschein kommt das blanke, rote Nagelbett. Kinu lässt den Kopf hängen, während er gehetzt durch die Nase ein- und ausatmet.
Jetzt kommen seine Pfoten. Sie selbst hat sich dafür auf alle Viere fallen lassen, dachte, sie würde den Schmerz so besser aushalten. Ein Irrglaube wie sich herausstellte. Vielleicht hat es die Verwandlung nur noch schlimmer gemacht, denn so konnte sie sehen was geschieht. Das Knacken begleitet ihre Erinnerung. Ist wie eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit, nur dass dieses Mal ihr Sohn an ihrer Stelle hockt und den Schmerz spürt, den sie und alle Generationen vor ihr empfunden haben.
Ein widerlicher Ton ertönt.
Knack... Knack...
Jeder einzelne Finger bricht und steht daraufhin unnatürlich ab. Kinu heult auf, obwohl es sich eher wie ein Quietschen anhört. Seine Finger beginnen zittern, als würden Stromschläge durch sie gejagt werden und dann lösen sie sich auf. An ihre Stelle treten dicke beharrte Pranken. Kinu wirft den Kopf in den Nacken, als sich seine Krallen durch die gesunde Haut bohren. Blut färbt den Boden silbern.
Nila würde ihm gerne diese Bürde abnehmen, würde gerne dafür sorgen, dass der Schmerz vergeht, doch sie kann ihm nicht helfen. Er muss da alleine durch oder er wird daran zugrunde gehen. Sie kann nur da sein. Hier bei ihm.
Sie geht in die Hocke, betrachtet ihn aufmunternd und beginnt zu summen. Es ist ein Lied, mit dem sie Kinu als Kind in den Schlaf gesungen hat. Er kennt es. Er mag es. Und auch, wenn sein Brüllen und sein Schmerz ihr Summen übertönt, so ist sie sich sicher, dass es ihn doch irgendwie berührt.
Sie summt solange wie er schreit. Es dauert ewig, zumindest fühlt es sich so an. Sie weiß nicht wie oft sie die drei Strophen wiederholt, doch irgendwann ebbt sein Schreien ab. Langsam atmet sie aus. Der letzte Ton ihrer Lippen verklingt in der Stille.
Mit Stolz erhebt sie sich und steht einem ausgewachsenen Winterbären gegenüber, der von seiner ersten Verwandlung sichtlich mitgenommen wirkt, doch er hat sie geschafft. Er keucht und sein Körper zittert wie Espenlaub, doch in seinen Augen steht der gleiche Stolz, den auch Nila spürt.
Nun ist er der zweite Winterbär des Hofes des Nordens. Kein Jungtier mehr, nicht mehr auf den Schutz anderer angewiesen. Er ist nun stark und in der Lage, die Magie, die ihm in die Wiege gelegt worden ist, zu nutzen.
Plötzlich schnauft Kinu laut auf und Nila hört ein fürchterliches Geräusch, das sie nicht hören dürfte. Die Verwandlung ist abgeschlossen, die Prüfung absolviert, dennoch hört sie das Bersten von Knochen. Kinus Augen treten hervor, seine Schnauze öffnet sich und heraus kommt ein erstickter Ton. Sofort ist sie an seiner Seite.
"Was ist los?", fragt sie ihn und lässt ihren Blick über seinen Körper schweifen. Sie muss nicht lange suchen. Seine rechte Seite sieht aus, als hätte ein Stein ihn gerammt. Eingedellt, es sind bestimmt mehrere Rippen gebrochen.
Aber wie kann das sein?
Kinus Arm dreht sich langsam auf den Rücken. Hilflos windet er sich, sieht seine Mutter verzweifelt an, da knackt es an seiner Schulter und der Arm fällt leblos herab. Sein Brüllen ist ohrenbetäubend. Er kippt zur Seite und beginnt zu zappeln.
Nila ist wie erstarrt und kann nichts anderes tun, als zuzusehen wie ihr Sohn leidet.
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