15. Das Loch
Ich schreie so laut, dass meine Schreie vermutlich von jeder Ecke her gehört werden können, während ich versuche mich aus den schwitzigen Armen des Mannes zu befreien. Gnadenlos umklammert er mich und schiebt mich förmlich durch den langen Korridor.
Blumen wachsen hier, als bestehe der Boden aus Erde, nicht aus Stein und eine Unmenge an Schmetterlingen fliegen umher.
Wie kann ein so schöner Ort nur so hässlich sein?
Es geht eine moosbewachsene Treppe hinab, Farn wächst auf den Stufen und von dort aus in einen weiteren Korridor bis wir an einer Steintür zum Stehen kommen. Sie ist cremefarben, sieht ein wenig wie Sandstein aus und in die Oberfläche wurden Ornamente gehauen. Der Rahmen wird von einer Girlande aus Rosen umgeben, die ihren süßlichen Geruch in der Luft verströmen.
Der Mann umarmt meine Taille mit einem Arm, während er mit der freien Hand die Tür aufstößt.
Sonnenlicht fällt uns entgegen und lässt Staubpartikel in der Luft glitzern.
Ein Paradies öffnet sich vor mir. Gras, so saftig grün, wie es nur an einem schönen Sommertag aussehen kann. Meterhohe Bäume stehen vereinzelt in dem Garten. Zwischen ihnen wachsen Blumen und Sträucher. Nur in der Mitte gibt es eine leere Stelle.
Das Loch ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Loch. Ein Loch im Boden, umgeben von grünen Gras. Es ist rund und hat einen Durchmesser von etwa drei Metern. Der Bulle schleift mich förmlich dahin, denn als ich es sehe, ramme ich die Fersen in den Boden und mache mich schwer.
Dennoch komme ich ihm Stück für Stück näher und ich habe das Gefühl, der Mann genießt meine Befreiungsversuche. Er hätte mich genauso wie Ida über die Schulter werfen können, so wäre er sicherlich viel schneller vorangekommen, doch scheinbar zieht er es vor mir die Möglichkeit zu geben mich zu wehren, zu versuchen, dem Unausweichlichen zu entgehen, um mir dann zu zeigen, dass all das keinen Sinn hat. Und es funktioniert prima. Mit jedem Versuch seine Arme um meinen Körper zu lösen, mich aus seinem Griff zu befreien, wird die Angst größer.
Meine Füße sind am Rand angekommen, dennoch drückt der Bulle weiter. Nun versuche ich nicht mehr mich von ihm zu befreien, sondern klammere mich an ihm fest, als wäre er mein Rettungsanker.
Der Bulle grinst, vermutlich die erste richtige Reaktion, die er zeigt. Auf all meine wüsten Beleidigungen, Forderungen hat er nicht reagiert. Kein Ton verließ seine Lippen, als sei er stumm. Sein Gesicht regungslos wie das einer Puppe. Doch nun grinst der Fette, drückt das Fett seiner Wangen in die Höhe.
Er befreit sich aus meinen Armen und gibt mir einen Stoß. Ich beginne zu taumeln, rudere noch mit den Armen, als könnte das mich retten. Die Dunkelheit des Erdreichs kommt mir näher. Kurz denke ich an den Dachtänzer. Das ist der Moment. Ich verliere mein Gleichgewicht und falle.
Mein schriller Schrei hallt von den Wänden wieder und nimmt abrupt ein Ende, als ich aufkomme.
Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen. Dringt in meine Nase, den geöffneten Mund ein, greift mit kalten Händen nach mir. Ich schreie und schlucke. Meine Lunge explodiert. Sternchen tanzen vor meinen Augen, dann drücke ich mich hoch.
Stark huste ich, erbreche einen Schwall Wasser, huste erneut. Meine Hand sucht nach Halt. Fährt die kühle und bröcklige Wand ab.
Ich beuge mich vorn über, meine nassen Haare fallen mir vors Gesicht, machen die Dunkelheit nochmal dunkler.
So stehe ich da, während ich um Atem ringe.
Nach einiger Zeit blicke ich auf. Das Wasser reicht mir bis zur Taille. Es ist kalt, auch wenn sich alles unterhalb an die Kälte gewöhnt hat, so friere ich dennoch so stark, dass meine Zähne klappern.
Warmes Licht fällt von oben herein, doch es reicht nicht weit genug, das mich auch nur ein Strahl berühren könnte.
"Hallo?", rufe ich mit krächzender Stimme, "Hallo?"
Keine Antwort.
Ich schnaufe und drehe mich mit dem Gesicht zur Wand. Laufe einmal im Kreis, versuche etwas zu finden an dem ich mich hochziehen kann. Doch die Erde zu bröckelig und Wurzeln befinden sich in einer Höhe, die ich selbst durch einen Sprung nicht erreichen kann.
Ich probiere es dennoch. Springe hinauf, mache den Arm ganz lang.
Platsch!
Dieses Mal bin ich vorbereitet und saufe nicht den ganzen Graben aus.
Ich komme wieder hoch, schüttel mich und probiere es erneut.
Platsch!
So schnell gebe ich nicht auf. Ich probiere es an anderer Stelle. Grabe meine Hände in die Erde, versuche so eine bessere Ausgangssituation zu bekommen. Fokussiere mein Ziel, eine Wurzel, die schön aus der Erde hervorsteht. Mache den Arm lang, öffne die Hand und springe.
Platsch!
Knurrend tauche ich auf und im nächsten Moment entlädt sich mein Frust.
"So ein verdammter Mist! Das kann doch nicht wahr sein!"
Wie ein kleines Kind, schlage ich trotzig auf die Wasseroberfläche. Es spritzt zu allen Seiten.
Jelena sagte, ich würde mir ein Gespräch mit ihr wünschen. Ist das die Möglichkeit hier rauszukommen? Nur was sollte ich ihr erzählen, wenn ich nichts weiß?
Sehnsüchtig blicke ich empor. Wie gerne ich nun daheim wäre, selbst Vaters Nichtstun und seine trüben Gedanken, die er zugern geteilt hat, würde ich nun vorziehen. Wie es ihm wohl geht? Ob ihm schon aufgefallen ist, dass seine Töchter nicht da sind? Bei Ida sicherlich, sie ist ja immer daheim gewesen. Bei mir erst am Abend oder in der Nacht, obwohl ich mir dabei auch nicht sicher bin. Es würde ihm vermutlich erst auffallen, wenn er jemanden braucht, der seine Hose stopft oder wenn das Geld aus ist. Ich seufze laut.
Die Kälte macht meinen Körper taub, bringt die Gedanken zum Erliegen.
Einer flattert noch hauchzart durch meinen Kopf. Ein Gesicht vom Sonnenlicht beschienen, mit einem Lächeln auf den Zügen. Er ist wie eine Feder im Wind und bevor sich meine Augen schließen, ist das letzte, woran ich denke, eine unbekümmerte Ida, die der Sonne entgegenläuft.
~•~
"Ich war an der Hütte, von der Nila gesprochen hat", sagt der General zum Herrscher des Nordens.
Dieser sitzt entspannt auf seinem Thron, die Beine überschlagen und den Kopf auf einem Hand abgestützt. Man könnte meinen, er döst. Doch Dorias ist weit weg davon. Sein Geist befindet sich auf einer Reise durch seinen eigenen Hof. Jede Ecke und jeden Winkel bereist er und ruft sein Volk zur Vorsicht auf.
Seelenstimme nennt man diese Magie und sie wird nur von den höchsten Blütlern beherrscht, denen deren Knochen und Blut golden sind und die zum Herrschen erkoren wurden. Der Geist verlässt den Körper und bereist Orte, zu denen er eine Verbindung hat. Dort kann er seine Worte erklingen lassen.
Dorias summt eine Melodie, die das Volk ihres Hofes zum Fest der vier Reiche singt. Er summt es jedesmal, wenn er die Seelenstimme einsetzt. Sie ist sein Anker, um den Körper wiederzufinden.
"Die Hütte war niedergebrannt. Ich fand eine Leiche. Einen Mann, kaum noch zu identifizieren. Das Mädchen ist weg", spricht Kenaen in dem Wissen, dass ein Teil von Dorias ihm zuhört, "Ich kam zu spät."
Dorias schlägt die Augen auf und setzt sich aufrecht hin. Kleine Schneeflocken fallen von seinen Schultern.
"Honig?", fragt er.
Kenaen nickt, "Schwer und drückend. Der gesamte Umkreis der Hütte wurde von dem Geruch geschwängert."
"Dann haben wir wohl keine Wahl", murmelt der Herrscher des Nordens nachdenklich und erhebt sich in seiner ganzen Pracht. Schnee wirbelt auf, tanzt um ihn herum und als er sich in Bewegung setzt, bilden sich Eiskristalle auf dem Boden.
"Dann ist es nun wohl an der Zeit, Jelena einen Besuch abzustatten." Seine Stimme gleicht einem unheilvollen Omen.
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