1. Das Dorf nahe des großen Flusses
Die Sonne kriecht langsam am Horizont empor, verdrängt die blauen Schattierungen auf ihrem Weg und taucht den Himmel in einen zarten Rosaton.
Der Tag erwacht und mit ihm die Vögel, die ihr zartes Lied in der kühlen Morgenluft erklingen lassen.
Ich hingegen bin schon lange wach. Bin aufgestanden, als Vater noch geschlafen und bin an meiner Schwester vorbei geschlichen, als sie sich nochmal umgedreht hat. Habe mich für den heutigen Tag zurecht gemacht. Nicht wie eine Lady es tut. Sondern wie jemand, der hart arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich trage die alte braune Hose meines Vaters, deren Hosenbeine viel zu lang sind und die ich mehrmals umkrempeln musste. Mein Oberkörper steckt in einem dunkelrotem Hemd, auch etwas was ich meinem Vater entwendet habe und das auch viel zu groß ist. Doch ein wenig Nähgarn und eine Schere haben geholfen, als ich es an meine schmale Statur angepasst habe. Für die Hose hat es dann nicht mehr gereicht.
Meine hellbraunen Haare stecken in einem festen Zopf, der hoffentlich verhindert, dass sich die Strähnen lösen und mir ständig ins Gesicht hängen.
Die Kühle des Morgens begrüßt mich, als ich in meinem Mantel aus der Tür trete. In der Nacht hat es Frost gegeben, sodass der Weg unter meinen Stiefeln knarzt.
Bewaffnet mit meinem kleinen Handkarren, in den ich am gestrigen Abend zwei große Kürbisse und unzählige kleine Knollen Rote Bete geladen habe, mache ich mich auf den Weg. An meinem Hosenbund baumelt ein kleines Messer, das sich eher zum Gemüse schneiden eignet, als dafür sich damit effektiv zu verteidigen. Doch wer weiß schon, wem man auf seinem Weg begegnet und ich bin lieber schlecht vorbereitet, als es gar nicht zu sein.
Wir wohnen weit ab, von allem was als menschliche Zivilisation durchgehen kann. Das nächste Dorf nimmt fast einen halben Tagesmarsch in Anspruch. So bin ich kaum Zuhause, was mir gut gefällt, denn so bleibe ich von den Launen meiner Schwester, Ida, verschont. Sie trauert noch heute unserem früheren Leben hinterher, das als wir einen riesigen Hof besessen haben mit vielen Tieren, Ställen und drei eigenen Feldern. Damals haben wir nahe der Hauptstadt gelebt und hatten die Ehre das Königshaus mit unseren Ernten zu versorgen.
Damals, das fühlt sich lange her an, dabei sind es nur sieben Jahre. Von all dem Silber und Gold, das wir bekommen haben, konnte meine Schwester ein ziemlich unbeschwertes Leben führen, doch Vater hat alles in wenigen Nächten verloren. In nur einigen Nächten, in denen er gieriger gewesen ist, als er es hätte sein sollen und viel zu tief ins Glas geschaut hat, um zu erkennen, dass er unsere Existenz verspielt.
Den Hof hat man uns daraufhin weggenommen und ihn stattdessen einer anderen Familie gegeben. Wir hingegen hatten, nach dem Bezahlen unserer Schulden, nur noch drei Goldmünzen, wovon wir den kleinen, sehr kleinen Hof mitten im Nirgendwo gekauft haben, auf dem wir bis heute leben.
Ich halte an und trete die Matschkrumen von meinen Stiefeln, ein Gemisch aus Erde und Eis, das unter meinen Sohlen immer größer wird.
Trotzdessen, dass wir bisher einen warmen Herbst gehabt haben, spürt man wie der Winter sich wappnet. Die Nächte werden immer kälter und leider auch immer länger, sodass ich mittlerweile den letzten Abschnitt im Dunklen zurücklegen muss. Etwas, was mir nicht allzu sehr behagt, wenn ich dem Gemurmel glauben schenke, dass sie immer wieder die Grenze überwinden und durch unsere Wälder streifen.
Genau so ein Wald wie der, in dem ich gerade stehe. Am Tage wunderschön. Ein Gemisch an leuchtenden Farben, die den Hang entlang des Trampelwegs säumen. Rote Blätter, die wie Rubine leuchten und Gelbe, die der Sonne gleichkommen, würde man sie malen wollen.
Doch auch einige Grüne verirren sich noch in das Gemisch, als würden die Bäume gegen den Jahreszeitenwechsel protestieren und ihre sommerliche Pracht solange aufrecht erhalten wollen wie es nur irgendwie möglich ist.
Doch, wenn der Tag schwindet und die Sonne sich zurückzieht, dann sieht man weder das leuchtende Rot noch das satte Grün. Alles wird einheitlich, dunkel, trostlos und gruselig.
Und ich bin ein jedesmal nur mit einer kleinen Laterne bewaffnet, deren Lichtkegel gerade groß genug ist, um zu sehen, wohin ich trete.
Vor einigen Jahren habe ich Vater gebeten, mich an solchen Tagen zu begleiten, doch er ist zu tief im Suff gewesen, dass meine Worte überhaupt zu ihm durchdringen konnten. Ein anderes Mal hat er mir seinen Fuß gezeigt. Den Fuß, den er immer benutzt, wenn er ausdrücken möchte, dass er etwas nicht kann.
Den Fuß, den sie ihm damals gebrochen haben, als Schulden eingefordert wurden und der Fuß, der angeblich nie verheilt ist.
Ich vertreibe diesen Gedanken und ziehe meinen Karren weiter hinter mir her.
Meine letzten Gänge haben im Matsch tiefe Furchen hinterlassen, die durch den Frost steinhart geworden sind und das Gemüse in meinem Wagen während der Fahrt auf und ab hüpfen lässt.
Mein Weg führt mich an dem Hinweisschild vorbei, das in die östliche Richtung zeigt und angibt, dass es dort zur Grenze geht. Ob es eine Hilfe oder eine Warnung sein soll, ist mir bis heute unklar.
Wer würde schon zur Grenze wollen? Dort ist nichts, außer eine von der Zeit zerfressende Mauer, die zwar eine imposante Höhe aufweist, aber ansonsten doch recht gewöhnlich aussieht.
Vorallem in dieser Zeit wirkt das Hinweisschild voller Hohn. Auch wenn ich meine Augen und Ohren gerne verschließe, so dringt das unheilvolle Gemurmel dennoch zu mir durch.
Die Menschen haben Angst und fragen sich wohin sie fliehen sollen, wenn die Mauer tatsächlich eingerissen wird. Um Wenterra herum befindet sich nichts als Feindesland. Fällt die letzte Grenze, die uns von ihnen trennt, haben wir endgültig verloren und die menschliche Rasse hört auf zu existieren.
Die Andersartigen, auch Arraris genannt, sollen hinter der Grenze lauern und auf ihre Gelegenheit warten - zumindest wird das in dunklen Gassen erzählt. Benannt wurden sie nach dem ersten Land, in das sie eingefallen sind.
Sie stammen von einem Kontinent, weit weg von dem unseren.
Klatis, der kalte Kontinent, einer von den Dreien, die auf der Welt existieren. Er wurde nie erforscht, denn jeder, der dahin aufgebrochen ist, kam entweder nicht zurück oder wurde wahnsinnig von dem, was der menschliche Geist gesehen hat und nicht verarbeiten konnte. Bis heute wird der Kontinent auch der kalte Tod genannt und wenn die Menschen von den Arraris erzählen, dann erzählen sie, dass sie aus dem kalten Tod geboren wurden und in ihren Herzen die Kälte des Eises tragen.
Ich habe noch nie einen von ihnen gesehen und bezweifle, dass es überhaupt jemand getan hat, der heute lebt.
Der Krieg tobte vor 1000 Jahren, vernichtete ein Land nach dem anderen.
Die Arraris haben sich wie eine Seuche vom Norden in den Süden ausgebreitet und Wenterra ist so klug gewesen, als die erste Kunde an seine Ohren gelangt ist, eine Mauer zu bauen. Stein um Stein, Meter um Meter, länger und länger, höher und höher. Die Bewohner hatten viel Zeit bis der Krieg bis zu ihrer Tür vorgedrungen ist. Nur der Pakt hat die Andersartigen davon abgehalten auch Wenterra dem Erdboden gleichzumachen.
Was König Matius ihnen geboten hat, weiß niemand so genau.
Einige sagen, er hätte seine eigenen Kinder in ihre Klauen gegeben, andere sprechen davon, dass die Arraris des Kämpfens müde geworden seien und wieder andere flüstern mit böser Zunge, dass jedes Jahr junge Mädchen geopfert würden, um den Frieden zu erhalten.
Was es auch ist, es scheint nicht mehr zu funktionieren, wenn sie die Grenze übertreten. Doch vielleicht ist das auch nur ein Gerücht von den vielen, womit sich die Menschen gegenseitig ängstigen. Als sei das Leben nicht schon hart genug.
Ich bleibe erneut stehen und blicke mich um. Der Wald wirkt heute dichter als sonst, als würden die Bäume sich mit mir vorwärts bewegen und ihre Zweige ineinander greifen. Eigentlich hätte ich ihm doch bereits hinter mir lassen haben müssen oder bin ich so vertieft gewesen, dass ich mich zu langsam bewegt habe?
Über die Schulter blicke ich zurück. Eine Windböe verwirbelt gerade gelbe Birkenblätter, so als führe sie sie zum Tanz aus.
Ich will wieder nach vorne sehen, da erregt etwas zwischen den Birken meine Aufmerksamkeit. Ein schwarzer Schatten, der sich wunderbar von den weißen Stämmen abhebt, huscht an ihnen vorbei, doch ehe meine Augen wissen, was sie da wahrnehmen, ist er den Hang hoch verschwunden.
Ich zucke die Schultern, vermutlich ein Reh, und setze meinen Weg fort. Dieses Mal ohne meinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
~•~
Ich sehe das Dorf noch nicht mal, dafür höre ich bereits den großen Fluss, der bestimmt 16 Fuß breit ist und mit seiner reißenden Strömung selbst Baumstämme mit sich nehmen kann.
Zumindest habe ich genau dieses Schauspiel einmal beobachten dürfen, nachdem es in der Nacht gestürmt hat und ich dem alten Sokis am nächsten Tag Kartoffeln verkaufte.
Seine Hütte befindet sich am Flussufer. Von seinem Fenster kann man die Wassermassen betrachten und einen Tag in der Woche besuche ich ihn, wenn ich das Dorf besuche, in dem er lebt. Er ist bereits über 80. Eine schmale Gestalt, eigentlich nur noch Haut und Knochen. Sein Gang wackelig und schleichend, das Haar licht und seine Augen graue Schatten.
Die Dunkelheit holte mich irgendwann ganz schnell und hätte ich meine gute Lisel nicht, könnte ich mich nicht mehr alleine versorgen.
Das hat er mir bei einem meiner Besuche erzählt. Er ist blind seit vielen Jahren und um ihm sowie seiner Frau den Weg zum Dorfplatz zu ersparen, steuere ich ihre Hütte immer zuerst an.
So auch jetzt.
Mit tauben Fingern klopfe ich gegen die Tür, während ich im anderen Arm einen Kürbis und zwei Knollen Rote Bete halte. Es dauert nicht lange, da wird sie auch schon aufgezogen. Nicht weil Sokis zur Tür gekommen ist, sondern weil er durch seine Blindheit sehr erfinderisch geworden ist, wenn es darum geht, mir zu öffnen, wenn Lisel gerade nicht daheim ist.
Vorsichtig trete ich ein und betrachte das Band um den Türknauf, mit dem er sie aufgezogen hat. Er sitzt in seinem Sessel nahe des Ofens und lächelt.
"Ich habe dich bereits erwartet", begrüßt er mich und zeigt beim Sprechen seine vordere Zahnlücke.
"Tut mir leid", antworte ich und schließe die Tür.
"Was hast du uns denn heute mitgebracht?", fragt er neugierig, was mich zum Grinsen bringt.
Auch wenn sein Leben trostlos ist, wie er selbst sagt, so freut er sich immer, wenn ich ihnen Gemüse bringe. Er stellt es sich dann vor. Die Formen und Farben.
"Heute ist es keine große Ausbeute", antworte ich frustriert und seufze, "Der Frost ist beim Anbau keine Hilfe."
"Und doch hast du etwas mitgebracht."
Ich nicke, auch wenn es keine Frage gewesen ist.
Vorsichtig überreiche ich ihm erst die Rote Bete. Mit einem konzentrierten Ausdruck im Gesicht, fahren seine Finger über die dunkelroten Knollen. Als er an ihnen riecht, tritt ein erfreuter Ausdruck in sein Gesicht.
"Ist es das, wofür ich es halte?", fragt er und hebt den Blick, als könnte er mich sehen.
"Kommt darauf an, wofür du es hälst."
"Rote Bete."
"Dann trügen dich deine Sinne nicht", sage ich, was ihn zufrieden nicken lässt.
"Was noch?"
Ich halte ihm den Kürbis hin. "Du brauchst beide Hände", stelle ich fest. Sein Mund formt sich zu einem O, ehe er mit erstaunter Stimme "So groß?" fragt.
"Für das, was er ist nicht, aber im Vergleich zur Roten Bete schon", antworte ich und überreiche ihm den Kürbis.
"Uff", macht er und fährt mit seinen Händen direkt über die harte Schale.
"Daran muss ich nicht riechen. Ich fühle was es ist", er hebt wieder das Gesicht, "Danke Alva, deine Bezahlung liegt auf dem Tisch. Sieh nach, ob es reicht."
Ich gehe um Sokis Sessel herum und betrete den hinteren Teil des Raumes, in dem lediglich ein Tisch mit vier Stühlen steht.
Ein kleines Säckchen liegt auf der Holzoberfläche. Beim Hochheben klimpert es.
Ein Blick hinein zeigt mir neun Kupfermünzen.
"Das ist zuviel", stelle ich fest und hebe eine Augenbraue. Sokis winkt ab. "Sieh es als Dank."
"Aber..."
Ich komme nicht dazu auszureden, denn er unterbricht mich umgehend.
"Du nimmst diesen ganzen Weg auf dich und kommst immer zuerst zu uns. Sieh es als Dank und nun geh, ich will ruhen."
Sokis stellt den Kürbis auf den Boden und rutscht soweit im Sessel runter, dass ich seinen Hinterkopf nicht mehr sehen kann. Ich weiß, dass er mich nur wegschickt, um der Diskussion aus dem Weg zu gehen. Sein Geschenk ehrt mich, doch er weiß genauso gut wie ich, dass ich diesen Weg sowieso gehen muss, dass es nichts mit Güte zutun hat, dass ich diesen Fußmarsch auf mich nehme.
Und mein Stolz, der mir häufig im Weg steht, sorgt dafür, dass ich vier der Münzen auf den Tisch zurücklege.
Ich höre Sokis seufzen. "Du störrisches Mädchen", brummt er.
"Gib mir die neun, wenn ich Waren habe, die es wert sind", sage ich zum Abschied und gehe an ihm vorbei.
Ich will keine Almosen. Immerhin bin ich keine Bettlerin.
Gerade als ich die Tür öffnen will, hält mich Sokis Stimme zurück.
"Du solltest zurückkehren. Es wird bald dunkel-" Woher er das weiß, ist mir schleierhaft. Immerhin lebt er seit Jahren in ständiger Dunkelheit. "Die Jäger sprachen im Morgengrauen davon, dass ein Bär in den Wäldern gesichtet wurde."
"Ein Bär?", wiederhole ich langsam und blicke skeptisch über die Schulter. Bären gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr in Wenterra. Sie wurden so stark bejagt, dass seit 50 Jahren keiner mehr von ihnen gesichtet wurde.
Sokis nickt, sein eingefallenes Gesicht wirkt plötzlich ernster, als ich es jemals bei ihm gesehen habe.
"Sei einfach vorsichtig und kürze dein Gang ab. Geh eher heim und verschließ nachts die Tür."
"Kann ein Bär neuerdings Türen öffnen?", entkommt es mir, ehe ich es verhindern kann.
Sokis seufzt erneut, "Tu es einfach", murmelt er, als er seine blinden Augen schließt.
Ich lege den Kopf schräg, warte noch einen Moment, doch das Gespräch scheint beendet.
Mit leisen Schritten verlasse ich die Hütte und schließe hinter mir sachte die Tür.
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