Alte Sorten
Ihre Mutter öffnete die Tür. Sakura blickte auf, brummte ein „Hallo" und vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Der Körper des Menschen war durchzogen von verschlungenen, verzweigten Bahnen. Der Körper des Menschen war bis zum Bersten vollgestopft mit geheimnisvollen, eng verwobenen Strukturen. Wer einen Menschen heilen wollte, musste sich so viel wie möglich über den Körper in den Kopf stopfen. Mit beiden Händen in das gesammelte Wissen greifen und schaufeln.
„Geh doch ein bisschen raus", schlug ihre Mutter vor. „Es ist so schönes Wetter. Schon ganz warm."
„Tatsächlich", murmelte Sakura und machte sich eine Notiz. Tsunade war eine strenge Lehrmeisterin. Wenn Tsunade fragte, welcher Nerv von wo kam, wohin er lief und was er versorgte, wusste man besser die Antwort.
„Ja. Ganz warm", wiederholte ihre Mutter, aber blieb in der Tür stehen. Sakura seufzte, legte den Stift zwischen die Seiten und schloss das Buch.
„Was ist denn?", fragte sie.
„Du bist viel drinnen in letzter Zeit."
„Weil ich zu tun habe", erwiderte sie, vielleicht zu scharf. Da war dieser harte Zug um den Mund ihrer Mutter.
„Ich wünschte mir, du kämst mehr unter Leute. In deinem Alter sollte man rausgehen und sich vergnügen!"
Sakura überlegte, ob sie sich streiten wollte, aber entschied sich dagegen. Es war einfacher, einen Spaziergang zu machen und dann weiterzuarbeiten.
„Meinetwegen, ich gehe raus", sagte sie, erhob sich und zog sich die Jacke an. Sie drängelte sich an ihrer Mutter vorbei und lief die Treppe herunter.
„Sakura, ich meine es nur gut!"
„Ja, ja!"
Ihre Mutter hatte Recht gehabt: Es war wirklich warm, beinahe sommerlich. Sakura zog sich die Jacke bald wieder aus.
Sie schlenderte durch ihre Nachbarschaft und betrachtete die Häuser. Mehrstöckige, alte Gebäude. Verwittertes Holz, verfärbter Putz. Alle paar Häuser ein Zaun, und dahinter ein Garten. Hier und da reckten sich die blühenden Kirschzweige über die Zaunspitzen hinaus. Was für ein Wochentag es wohl war? Sakura zählte an den Fingern ab: Anatomie, Ninjutsu, Taijutsu, Anatomie, Pathologie ... heute musste Samstag sein.
Sie verließ ihr Viertel und bog auf die Hauptstraße Konohas ab. Hier war mehr Betrieb – Familien und Pärchen gingen spazieren, besorgten Kleinigkeiten für den Sonntag. Eine alte Frau saß am Straßenrand und verkaufte billig Kirschzweige.
Sakura dachte an den Blumenladen der Yamanakas. Ob Ino heute arbeitete? Aber ohne eine Ausrede dorthin gehen ...
Sie schob die Hand in die Rocktasche und fand ein bisschen Kleingeld. Drei Ryo und rote Münzen.
Na gut, dachte sie. Na gut.
Der Blumenladen lag in einer ruhigen Seitengasse nahe der Hauptstraße. Sakura blickte durch die großen Schaufenster hinein: Topfpflanzen in allen Formen und Farben, Samentütchen, Netze mit Zwiebeln, Schnittblumen, Säcke mit Erde, stapelweise Töpfe. In der Auslage blühten Fuchsien mit Tulpen, Narzissen und Hyazinthen um die Wette.
Gerade war kein anderer Kunde im Laden. Als Sakura eintrat, läutete die Türglocke.
„Moment!", rief ein Mädchen aus einem Hinterzimmer. Es war zu spät zum Umkehren: Ehe Sakura die Tür wieder geöffnet hatte, hatte Ino sie schon entdeckt.
„Ach", sagte sie und strich sich den Pony aus dem Gesicht. Sie trug ein türkisfarbenes Sommerkleid. Passte zu ihren Augen, dachte Sakura.
„Du bist es. Was darf's sein?"
„Äh ... ein Geschenk für meine Mutter. Ich gucke noch."
„Aha."
Zwischen den bunten, nach Aufmerksamkeit heischenden Blüten fielen Sakura Töpfe mit unscheinbaren Pflanzen ins Auge: Melisse, Minze, Ringelblume. Frauenmantel, Beinwell, Kümmel und Kamille.
„Seit wann verkauft ihr Kräuter?", fragte sie. Ino hob die Augenbrauen.
„Meine Idee", antwortete sie. „Heilpflanzen sind meine Spezialität."
„Wie ... wie geht es dir? Mit deiner Ausbildung, meine ich."
„Wie soll's mir schon gehen? Du weißt doch selbst, wie das ist", erwiderte Ino. Sie wandte sich ihr zu, und im veränderten Licht fielen Sakura die blassbraunen Ringe unter ihren Augen auf.
„Ja, ich weiß."
„Hast du was von Sasuke gehört?"
„Nein. Von Naruto auch nicht."
„Shikamaru hält sich für was Besseres, seit er Chunin geworden ist", sagte Ino und verdrehte die Augen. „Neuerdings ist er ein noch größeres Arschloch. Hätte ich nie für möglich gehalten."
Sakura kramte das Kleingeld aus ihrer Tasche.
„Was gibst du mir dafür?"
„Dafür? Fünf Tulpen. Vier, weil du es bist, Stirnie."
Sie fischte die Tulpen aus einem Plastikeimer, band sie zum Strauß und wickelte sie in Papier ein. Sakura wollte schon gehen, als Ino sagte: „Morgen ist Frühlingsfest im Park. Und der letzte Öffnungstag des Kameliengartens. Kannst ja mitkommen, um elf bin ich am Haupteingang."
„Ich überlege es mir."
Zuhause freute ihre Mutter sich über die Tulpen. Sakura zählte nach: Sechs Stück.
Der nächste Tag war ein Sonntag und der Park gut besucht. Sakura brauchte eine Weile, Ino in dem Getümmel vor dem Haupteingang zu finden.
„Na endlich!"
„Wenn du nicht aussähst wie ein Schwein, hätte ich dich nie gefunden", sagte Sakura. „Wollen wir uns anstellen?"
„So viel Stirn und nichts dahinter, hm?", fragte Ino zurück. „Meine Familie pflegt den Park, ich komme natürlich umsonst rein. Du zahlst das Doppelte."
Sie kamen beide umsonst rein. Hinter dem Kassenhäuschen löste sich das Gedränge auf und vor ihnen breitete sich der Park aus: Ein welliges, weitläufiges Gelände mit smaragdgrünem Rasen und hellen Kieswegen. Besucher picknickten im Schatten der blühenden Kirschbäume. Am Wegesrand waren Stände aufgebaut, an denen man Tee und Snacks kaufen konnte, und in der Entfernung stand ein altmodisches Langhaus.
„Da müssen wir hin", sagte Ino und deutete darauf. „Da ist der Garten."
Sie kauften grünen Tee an einem Stand und Anpan an einem anderen. Sie gingen schweigend nebeneinander und aßen im Gehen. Sakura dachte an ihren Schreibtisch zuhause.
„Furchtbar, oder?", fragte sie.
„Hm?"
„Sobald man nachlässt, bleibt sofort was liegen. Und man kann nichts unternehmen, ohne die ganze Zeit-"
„- an seine unerledigte Arbeit zu denken?", beendete Ino ihren Satz. Sie lächelten beide flüchtig.
„Wenn ich heute nach Hause komme, warten immer noch die Nerven auf mich", sagte Sakura. „Die kann ich mir einfach nicht merken."
„Warum muss jedes von diesen fiesen kleinen Dingern einen Namen haben?", stimmte Ino ihr zu. „Wenn's nach mir ginge, hießen die alle gleich!"
Das Brötchen schmeckte gut, unaufdringlich süß. Ino redete in einer Tour. Sakura betrachtete sie und lächelte über ihre Witze. Ein Blütenblatt landete in ihrem Teebecher.
Sie betraten den Garten hinter dem Langhaus. Außer ihnen beiden waren keine Besucher hier. Ein schmaler Pfad aus Steinplatten führte zwischen Buchsbäumen zu einer Brücke, die sich über einen kleinen Teich spannte. Auf der anderen Seite des Teiches blühten die Kamelien rosa, weiß und flammend rot.
Sakura blieb an der Brücke stehen und blickte hinüber. Ino ging ein Stück voraus und war schon drüben angekommen. Schon wieder sah Sakura ihren Rücken, und mit einem Mal wurde sie traurig. Sasuke war gegangen, Naruto war ihm gefolgt, und sie war allein zurückgeblieben. Allein mit ihren Büchern und Aufgaben. Und Ino war -
„Kommst du?"
„Ja!", rief Sakura und überquerte die Brücke.
Auf der anderen Seite setzte sich der Pfad fort und führte zwischen den Kamelien hindurch, deren Blüten von Nahem Wildrosen ähnelten.
„Das hier sind die alten Sorten", sagte Ino und deutete auf eine kleine, sechsblättrige Blüte mit einem goldgelben Büschel Pollenfäden in der Mitte. „Die traditionellen. Alle anderen sind Neuzüchtungen."
„Hübsch."
„Die alten Sorten habe ich am liebsten. Sie sind so schön, aber so bescheiden. Findest du nicht?"
„Doch, sicher."
Ino hielt Ausschau nach dem nächsten interessanten Exemplar. Sakura dachte an die Arbeit, die noch auf sie wartete. Ging sie selten nach draußen, weil sie wenig Zeit hatte? War es nicht eher, weil es niemanden gab, mit dem sie ihre Zeit verbringen konnte? Ihr Team war auseinandergegangen. Und Ino ...
Plötzlich kam Sakura sich schäbig vor. Sie hatte sich so mit Ino zerstritten, und worüber? Sasuke interessierte sich nicht dafür, ob sie ihr Haar lang oder kurz trug. Sasuke hatte sie und die anderen Mädchen deutlich genug wissen lassen, was er von ihnen hielt. Er war gegangen, ohne zu zögern. Jetzt, da sie ihn nicht mehr regelmäßig traf, wusste Sakura kaum noch, weshalb sie sich eigentlich für ihn interessiert hatte.
Dafür hatte sie ihre Freundschaft mit Ino weggeworfen, dachte sie. Das war bitter.
Sie durchquerten den Rest des Gartens, ohne dass Sakura einen Blick für die Blüten übrig hatte. Eigentlich wollte sie bloß nach Hause gehen, lernen und vielleicht ein bisschen heulen.
„Die Sorte hier -"
„Entschuldige", unterbrach Sakura sie. „Es tut mir leid."
„Was tut dir leid?"
Sie zuckte die Achseln.
„Alles. Weiß ich auch nicht."
„Du bist vielleicht blöd", erwiderte Ino, aber sie klang nicht gemein dabei.
Sakura schniefte leise.
„Meine Familie kümmert sich auch um diesen Garten", sagte Ino. „Ich helfe mit. Jedes Jahr nach der Blüte komme ich hierher und schneiden die Kamelien aus."
„Was heißt das?"
Ino deutete in die Krone eines der Sträucher. Aus den Zweigen sprossen dünne, blassgrüne Triebe.
„Diese Triebe da. Die sind zu schwach. Wir schneiden sie ab, damit das, was es wert ist, besser wächst. Damit die Kamelie neue Knospen ansetzt."
Sie hockte sich hin, um eine Blüte unten am Strauch näher anzusehen. Ihr nachdenklicher Gesichtsausdruck. Das lange, hellblonde Haar fiel ihr über die Schulter. Sakura kam das Bild der jüngeren Ino in den Sinn, die sich hinkniete, um eine Kosmee zu pflücken.
Der Wind raschelte im Laub und von weit weg hörte man die Stimmen der anderen Besucher. Die Brise wehte Sakura das Haar in die Stirn. Sie stand still da und betrachtete Ino, die den Kopf hob und sie anlächelte.
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