Der Wolf, der dich liebt...Kapitel 1

Der Wolf der dich liebt...

Eine etwas andere Rotkäppchen-Geschichte



Vorwort

Dieses Mal will ich mich an ein klassisches Märchen heranwagen, das wahrscheinlich wirklich schon jeder gehört hat und von dem schon einige Adaptionen geschrieben wurden. Wenn ich ehrlich sein soll, dann fand ich Rotkäppchen...na ja. Man hat es immer wieder vorgelesen bekommen und irgendwann wurde es langweilig. Außerdem empfand ich schon als kleines Kind Mitleid mit dem Wolf. (Auch bei den sieben Geißlein). Ich bin da eben etwas komisch. Aber jetzt versuche ich es mal mit einem Wolf als Held.

Mal schauen, ob es was wird.



Kapitel 1


"Emma, du musst heute auf Oma aufpassen. Glaube ja nicht, dass du dich davor drücken kannst."

Emma hieß eigentlich Noelle, doch weil ihrer Großmutter dieser Name zu exotisch war, wurde sie einfach Emma gerufen. Sie selbst liebte den Namen Noelle, aber es gab nur eine Handvoll Leute, die es wagten, sie bei dem eigentlichen Namen zu nennen.

"Muss ich wirklich?", fragte sie leise.

Ihre Großmutter war eine Hexe, die am liebsten Noelle quälte. Nicht nur, dass sie bösartig war, sie war auch dement und machte Noelle immer wieder für Sachen verantwortlich, die sie nie getan hatte. Erst vor einigen Tagen wurde Noelle von ihr verprügelt, weil diese böse Frau sie für die Geliebte ihres Großvaters hielt, der schon vor einigen Jahren gestorben war. Jeder wusste, dass sie Noelle hasste, aber keiner unternahm etwas.

Im Dorf, in dem Noelle lebte, kannte jeder jeden und ihre Familie hatte einen gehobenen Status. Da konnte es schlecht sein, wenn es herauskam, dass ein Enkelkind immer wieder misshandelt wurde.

Auch ihre Eltern waren in dem Fall keine Hilfe.

Ihr Vater war froh, wenn er seine Ruhe hatte. Noelles Mutter verschwieg diese Geschichte nicht nur, sie verharmloste sie auch und gab Noelle die Schuld an allem oder machte ihr Vorwürfe.

So wie jetzt.

"Wir haben heute Besuch. Das weißt du, aber du bist einfach zu faul, um mir auch nur ein kleines bisschen zu helfen. Wir wollen auch mal unsere Ruhe, aber das verstehst du ja nicht."

Noelle biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um nicht heraus zu brüllen, dass es nun schon das fünfte Wochenende hintereinander war, an dem ihre Mutter Freunde einlud. Noelle wusste genau, was dies zu bedeuten hatte.

Sie musste die ganze Nacht bei ihrer Großmutter bleiben und Beschimpfungen auf sich nehmen, nur weil ihre Mutter keine Lust hatte, sich um ihre demente Mutter zu kümmern. Außerdem verschaffte es auch ihr eine gewisse Befriedigung, wenn man Noelle bestrafte, die, ihrer Meinung nach, an ihrem Unglück Schuld war.

"Du wirst heute Abend zu deiner Großmutter gehen und dort bleiben, bis ich dich morgens ablöse."

Noelle seufzte und nickte ergeben.

Natürlich würde ihre Mutter morgens kommen. Und zwar bevor die Frau von der ambulanten Pflege kam. Auch hier war das Motto: Schaut, was diese Frau für eine aufopferungsvolle Tochter hat. Mehr Schein als Sein. Aber so war das schon immer gewesen.

"Ich werde noch etwas in den Wald gehen, bis ich weg muss."

Einen Moment wollte ihre Mutter schon aufbegehren, aber sie konnte ja schlecht noch mehr verbieten.

"Triffst du dich wieder mit diesen jungen Mann? Der ist nichts für dich." einen Seitenhieb konnte sie sich dennoch nicht verkneifen.

Noelle seufzte erneute, aber sagte nichts dazu.

Natürlich war ihre Mutter gegen Aidan Ryde. Zum ersten war Aidan schon zwanzig und damit konnte er Noelle von ihrer Familie fernhalten, wenn sie seine Freundin werden würde. Zum zweiten kam die Familie Ryde aus Irland. Aidans Vater war Ingenieur und baute am nahegelegenen Staudamm mit, der renoviert werden musste. Sie würden nicht lange hier bleiben, aber das wusste nur Noelle. Doch auch das machte die Familie Ryde zu Außenseiter. Sie gehörten einfach nicht in dieses verschlafene Nest.

"Ich weiß nicht, ob Aidan kommt. Es ist Samstag. Er wird, wie anderen jungen Leute, sich auf ein tolles Wochenende vorbereiten."

Es war ein verbaler Schlag gegen ihre Mutter und diese zuckte auch ein wenig zurück.

"Das mag sein, aber wer würde schon mit dir ausgehen? Nimm dir doch endlich deine Schwester als Vorbild. Sie ist sportlich, kümmert sich um ihr Aussehen und ist überall beliebt. Sie sollte mit Aidan ausgehen, denn sie passt viel besser zu ihm."

Noelle verkniff sich ein bitteres Lachen.

Ja, ihr Schwester Anastasia war tatsächlich überall beliebt, sportlich und kümmerte sich mehr um ihr Aussehen, als umsonst was. Leider war auch ihr Intelligenzquotient dementsprechend mit einem...nun ja...Knäckebrot...gleichzusetzen.

Da Noelle wusste, dass wenn sie nun diese Tatsache laut aussprach, sie auf keinen Fall aus dem Haus durfte. Und sie wollte unbedingt noch etwas Freiheit genießen, bevor sie zum Haus ihrer Großmutter laufen musste.

Ohne auf ihre Mutter weiter zu achten, nahm sie ihre rote Jacke, die so altmodisch war, dass man sie schon als antik bezeichnen konnte, um dann nach dem Griff der Haustür zu greifen. Doch ihre Mutter packte sie grob am Oberarm.

"Du wirst pünktlich sein! Und wehe, du lässt dich mit diesen Iren ein. Er will dich sowieso nicht."

Noelle seufzte sagte allerdings nichts.

Was sollte sie auch anderes tun?

So schnell wie möglich verließ sie das Haus, während ihre Mutter ihr weiterhin hinterher brüllte, dass sie spätestens in zwei Stunden wieder kommen sollte, um ihr bei der Bewirtung der Gäste zu helfen, bevor sie zu ihrer Großmutter sollte.

Nicht einmal das bekam sie alleine hin, aber erst einmal war Noelle frei. Sie lief über eine Wiese hinter dem Haus, balancierte über den maroden Steg, der über einen Bach führte und rannte dann weiter, bis sie am Wald ankam. Beim ersten Baum hielt sie an und atmete tief durch, während die Ruhe, die der Wald für sie ausstrahlte, sich in ihr breit machte. Keiner wagte sich in diesen Wald, der dunkel und noch ursprünglich war. Niemand wusste, wer der Besitzer dieses Waldes war, aber der Aberglaube, der sich fest in den Köpfen der Dorfbewohner festgesetzt hatte, ließ sie schon meterweit davor anhalten und sich mehrmals bekreuzigen.

Noelle kannte alle Geschichten, die sich um diesen wundervollen Wald rankten.

Man sagte, hier lebte eine Hexe, die ihr Unwesen trieb. Doch Noelle hatte noch nie eine Hexe gesehen. Nicht einmal Spaziergänger verirrten sich dort. Dann berichtete man auch von einem Rudel Wölfe, dass alle zehn Jahre hier jagen würde.

Das würde Noelle nun wirklich interessant finden, aber auch Wölfe hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen.

Dafür aber Aidan, der den Wald ebenso liebte, wie sie. Auch er war hier oft anzutreffen und obwohl er drei Jahre älter als Noelle war, schien er ihre Treffen zu genießen. Auch das verstand niemand, denn Aidan war sehr gut aussehend und wenn man ihm auf der Straße traf, hechelten ihm immer mehrere Frauen hinterher, was er als sehr lästig empfand, wie er ihr schon mehrmals gestanden hatte. Er mochte sich lieber mit ihr in aller Ruhe unterhalten und fand es faszinierend, dass Noelle sehr belesen war.

Wenn sie ihn im Wald traf, kicherte sie oft, denn er verhielt sich wie ein König, dem dieser Wald gehörte. Seltsamerweise kannte er sich auch wirklich sehr gut darin aus. Er kannte jeden Baum, jede kleine Grube, jede noch so kleine Lichtung und vor allem den Bach, der an der kleinen Hütte vorbeilief, die Noelle vor fünf Jahren gefunden hatte. Sie war vor einem Jahr so enttäuscht gewesen, als sie Aidan in der Hütte vorfand, der sich auf dem alten Sofa, dass sie hierher geschleift hatte, bequem gemacht hatte und sie voller Verwunderung ansah. Doch nun war sie froh, wenn sie ihn traf.

Sie lief schnell durch den Wald und ihre Schritte wurden von dem Laub gedämpft, dass vom letzten Regen noch nass war. Das beherrschte sie beinahe so gut wie Aidan, der kurz hinter ihr laufen konnte, ohne dass sie es mitbekam.

Endlich kam die Lichtung und die kleine alte Hütte in Sicht. Schwer atmend ging sie hinein und öffnete die hölzerne Fensterlade, damit wenigstens etwas Licht in die Hütte kam. Danach zog sie die Jacke aus und warf sie lieblos in eine Ecke. Leider musste sie das hässliche Ding tragen, bis es ihr nicht mehr passte oder kaputt war. Das könnte noch ewig dauern.

Sie setzte sich auf das Sofa und schloss die Augen. Am liebsten würde sie hier für immer bleiben. Niemand würde mehr von ihr verlangen, auf eine Frau aufzupassen, die sie hasste. Niemand würde sie mehr verspotten oder ausnutzen.

Sie spürte, wie sie wieder in Selbstmitleid verfiel, aber dieses Mal wollte sie sich nicht zusammenreißen und es in sich hinein fressen. Ein Schluchzen kam über ihre Lippen und sie rollte sich wie ein kleines Kind zusammen. Ihr Schmerz im Inneren war kaum auszuhalten, aber sie wusste auch, dass sie sich nach einer Weile wieder besser fühlen würde.

So lag sie auf dem Sofa, dass schon viele Tränen von ihr in sich aufgezogen hatte. Ihr Körper zitterte schon, als Noelle spürte, wie ihr jemand die Tränen von der Wange wischte.

Erschrocken wollte sie sich aufsetzen, aber Aidan drückte sie vorsichtig an seine Brust und hob sie dann auf seinen Schoß. Er ließ sie einfach weiter weinen, als ob er wusste, dass sie das brauchte. Statt sie davon abzuhalten, wiegte er sie vorsichtig in seinen Armen und hielt sie einfach fest. Es dauerte eine Weile, bis sich Noelle wieder beruhigte und langsam ihren Blick zu Aidan hob, der sie anlächelte und wieder ihre Tränen mit dem Handrücken sanft weg wischte.

"Wieso weißt du immer, wann ich dich brauche?", flüsterte sie heiser.

Er zuckte mit den Schultern.

"Zufall!"

Sein tiefer Bass klang gerade wie ein Knurren, was sie sich aber auch einbilden konnte.

Noelle unterdrückte ein Lachen und kuschelte sich lieber noch einen Moment in seine Arme. Sie wollte sich noch ein wenig der Illusion hingeben, dass sie seine Stärke in sich aufnehmen konnte, wenn sie nur noch eine Weile bei ihm blieb.

Aidan schien auch dies zu spüren, denn er zog sie noch dichter an sich heran und dieses Mal spürte sie sogar seine Lippen, die sanft ihre Stirn küssten.

"Erzähl es mir.", fordert er rau.

Sie lachte kurz und bitter.

"Du weißt es doch schon. Heute muss ich wieder zu der Frau."

Sie weigerte sich schon seit langer Zeit, sie Großmutter zu nennen, doch Aidan wusste, von was sie sprach.

Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus.

"Wann?"

Wieder klang seine Stimme wie ein Knurren, aber Noelle verspürte keine Angst. Sie schielte auf ihre Armbanduhr, ein Geschenk ihres Onkels, der sie als Einziger mochte. Verwundert sah sie auf das Ziffernblatt.

"Verflixt. Noch eine Stunde und ich muss wieder zu Hause sein. Habe ich nun wirklich eine Stunde lang geheult?"

Sie wollte sich aus seiner Umarmung schälen, doch er ließ es nicht zu.

"Bleib noch. Ruhe dich aus. Ich wache über dich."

Sie lächelte, als er ihren Kopf an seine Brust drückte.

Es klang so schön altmodisch, was er manchmal von sich gab, aber sie wusste auch, dass er es ernst meinte.

"Du musst mich auf jeden Fall wecken, wenn ich einschlafen sollte."

Wieder spürte sie seine Lippen, dieses Mal auf ihrem Haar.

"Ich werde dich wecken, auch wenn es mir nicht gefällt. Du brauchst mehr Ruhe."

Sie seufzte und kicherte dann.

"Manchmal wünsche ich mir, ich hätte eine andere Familie. Deine Mutter meinte das auch zu mir, als sie mich beim Einkaufen traf."

Er lächelte.

"Mam erzählte mir, dass sie dich getroffen hat. Sie mag dich wirklich und findet, du solltest von deiner Familie weg."

Noelle seufzte.

"Liebend gerne, aber da ich noch nicht volljährig bin..."

Sie brauchte den Satz nicht beenden, denn Aidan wusste, was sie sagen wollte. Immerhin hatten sie schon so oft dieses Thema.

Nun richtete sie sich wirklich auf und wischte sich mit ihrem Ärmel über das Gesicht.

"Meine Mutter hat mich übrigens wieder vor dir gewarnt. Sie meinte, du wärst nichts für mich."

Sie schnaubte.

"Es wäre ihr lieber, wenn du dich mit Anastasia beschäftigen würdest."

Aidan lachte böse.

"Ich kann mit der Hohlbirne nichts anfangen. So etwas Arrogantes wie deine Schwester habe ich noch nie getroffen.  Jedes Mal, wenn sie mich sieht, leckt sie sich über die Lippen.  Ich beschimpfe sie, was sie aber nicht davon abhält, mich anzumachen. Und die Beleidigungen, mit denen sie dich bedenkt, sind einfach nur eklig. Nein, sie ist nichts für mich. Aber es freut mich, dass du nicht auf die Warnung deiner Mutter eingegangen bist."

Sie lachte leise.

"Du bist einer der Wenigen, die mich um sich dulden."

Er zog seine Augenbrauen zusammen, so dass sie eine Linie bildeten. Oh je. Er war wütend.

"Dulden? Hast du eben Dulden gesagt? Verflucht, Noelle, ich dulde dich nicht. Ich mag dich wirklich. Lass dir doch nicht immer von deiner Familie einreden, dass du nichts wert bist und man dich erdulden muss. Du hast keine Ahnung, wie wertvoll..."

Er brach ab und schaute auf die Uhr.

"Wir müssen gehen."

Noelle war etwas irritiert über den plötzlichen Aufbruch, aber sie ließ es zu, dass Aidan ihr ihre Jacke anzog und sie sorgfältig verschloss. Sie schlossen das Fenster und Aidan begleitete sie bis zum Bach, der das Grundstück ihrer Familie von dem Waldgrundstück und die dazugehörigen Wiesen trennte.

Es begann schon zu dämmern und Noelle wusste, dass sie bald aufbrechen musste.

Aidan stellte sich vor sie und nahm ihre hellen Locken in seine Hände.

"Wirst du heute gefahren?"

Sie schüttelte den Kopf.

Natürlich nicht. Noelle musste immer zu ihrer Großmutter laufen, obwohl sie lange unterwegs war, wenn sie durch das Dorf ging.

"Ich werde die Abkürzung durch den Wald nehmen. Dann brauche ich nicht lange."

Er nickte und küsste sie auf die Stirn.

"Wenn es dir zu viel wird, gehe raus in den Wald und atme ein paar mal tief durch."

Sie war etwas verwundert über den Rat, denn bisher hatte sie mit niemandem darüber gesprochen, wie gut ihr der Wald tat.

"Das werde ich machen. Danke, Aidan."

Er ließ hielt ihre Hand und ließ sie erst los, als sie schon in der Mitte des maroden Stegs war.

Noelle überquerte den Bach und sah dann zurück, aber Aidan war verschwunden.

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So, das war das erste Kapitel. Morgen  geht es weiter.

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