Kapitel 5: ,,Ich sehe Gott in euren Augen...", oder auch nicht

Also, ich würde sagen, von alle Grundschullehrern und auch von denen, die ich hier getroffen habe, ist Mr Lewis nach ungefähr zehn Minuten mein Favorit. Und wisst ihr warum?
Er strengt sich nicht mal an, mir zu sagen, dass ich normal bin, er kann das einfach. Sein Blick verändert sich nicht einen einzigen Millimeter, wenn er mich ansieht, er nimmt mich auch nicht voreilig dran, wenn ich mich melde, sondern nimmt zum Beispiel erst Luis, Fred oder Susanne dran.
Er sagt niemanden, dass er sich neben mich setzen soll, sondern sagt, als Tyler und Tim zu sehr quatschen, sie sollen es ruhig auskosten, denn nächste Stunde würde er einen neuen Sitzplan machen.
Seine einzigen Regeln, wenn er den Raum verlässt, sind: Niemanden umbringen, nicht sterben und nichts kaputt machen, andernfalls müsse er für die Kosten aufkommen.
Er sagt das ja nicht wirklich ernst. Er sagt das wie in einer Spaß-ernst-Art, die alle lustig finden.
Wenn jemand in seinem Unterricht aufs Klo muss, dann steht er einfach auf und verlässt den Raum.
Trinken und Kaugummi kauen ist erlaubt, Mentos und anderes Essen nur in den Pausen.
Wir sollen immer Kopfhörer mitbringen, weil wir in den Arbeitsphasen Musik hören dürfen und diejenigen, die keine Kopfhörer dabei haben, müssen sich, wie er es sagt, mit seinem ,,billigen Jazz" begnügen.
Nachdem wir diese Sachen geklärt haben, beginnen wir mit dem Unterricht.
Er nimmt die Kreide, schreibt das Wort Gott an die Tafel und dreht sich um. Er sieht einige ratlose Gesichter, dann lässt Mr Lewis die Kreide wortlos rumgeben und diejenigen, die einen Einfall haben, sollen sich ein Stück Kreide nehmen, und diese Idee an die Tafel schreiben.
Ich bin mir unsicher, doch ich nehme mir trotzdem ein Stück Kreide, und möchte etwas möglichst Philosophisches aufschreiben. Ich habe zwar gesagt, dass ich Poeten nicht ganz verstehe, aber das hier ist was anderes. Ich kann jetzt zeigen, dass ich keine hohle Nuss bin, und ich muss diese Chance nutzen.

Als einige nach vorne stürmen, und Sachen wie ,,ein alter, weißbärtiger Mann", anschreiben, stehe ich selbst auf.
Ich glaube, es merkte nicht mal jemand außer vielleicht Diana und Rachel und Mr Lewis, dass ich aufstehe.
Als ich mir einen Platz erkämpft habe, schreibe ich:
,,Gott besteht aus Hoffnung und Liebe. Nur diejenigen glauben an Gott, die hoffen."
Ich weiß nicht, ob das richtig ist, aber es kommt mir ganz logisch vor, und ich kehre an meinen Platz zurück.
Und außerdem hat Mr Lewis gesagt, im PP Unterricht gibt es kein richtig und kein falsch.
Ich weiß, dass ich mir wie der letzte Depp Hoffnung mache und mich an etwas hochziehe, was wahrscheinlich gar nicht stimmt.
Ich meine, wenn draußen die Sonne scheint, es ist warm und fröhlich und auf Regenbogen tanzen pinke Einhörner, und dann jemand um die Ecke kommt mit ,,auf mich macht das Wetter einen kalten Eindruck", dann kann das nur falsch sein.
Und entweder passiert mir das oder irgendeiner anderen Bobbie auf dieser Welt. Wo immer du auch bist Bobbie 2.0, ich habe Mitleid mit dir.

Diana hat die Kreide nicht mal angesehen. Ich denke, sie dachte, dass Praktische Philosophie praktisch und einfach ist. Ich glaube, sie hat einfach den Sinn dahinter nicht ganz gerafft und versucht jetzt, ein Schlupfloch zu finden, hier wieder rauszukommen. Woher ich das weiß?
Schaut sie, sie sieht gerade weniger wie Barbiegirl aus, eher wie ET, der das erste Mal einen Fernseher sieht.
Dann stellt Mr Lewis sich vor die Tafel und beginnt, mit irgendwelchen Pfeilen irgendetwas zu verbinden. Keiner sieht wirklich dabei zu. Ein paar Mädchen, dessen Namen ich mir nicht merken kann, aber die definitiv zu der Sorte Glam-girls gehören, lachen über Mr Lewis' Cordhose, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er das gehört hat. Die anderen, einigermaßen normalen Jungs aus meinem Kurs bewerfen sich mit Papierbällen oder philosophieren über Fortnite und PUBG. Nick wollte das Spiel auch mal spielen, aber der Name sagt schon alles: Player unknown Battlegrounds.
Kaum haben Mom und Dad erfahren, was der Name in sich trägt, haben sie Nick eine Predigt über Moral gehalten und ihm einen übers Pferd erzählt, aber ich denke, er hat nicht mal ein Wort verstanden, worüber Mom und Dad gesprochen haben.

Als Mr Lewis fertig ist, wendet er sich von der Tafel ab und setzt sich auf einen Stuhl, den er irgendwo her gezaubert hat.
Das, was jetzt an der Tafel steht, ist nicht mehr wiederzuerkennen. Also erstmal sieht man kaum noch, wo überhaupt die Sätze standen, die die Schüler aufgeschrieben haben, denn eigentlich ist die Tafel jetzt weiß mit ein bisschen dunkelgrün.
Vielleicht meint er irgendwie, dass alle die gleichen Gedanken haben, aber ich möchte keine auf oberschlau tun, und deshalb überlasse ich das Lehrersein einfach mal dem Lehrer.
Eine Sache möchte ich hinzufügen: Mich schauen immer noch alle an. Aber nicht so krass, als hätten sie mich das erste mal gesehen, sondern eher so, als können sie nicht glauben, was sie da sehen.
Okay, vielleicht übertreibe ich ein bisschen, vielleicht sehen sie mich nur so an, als wäre ich ein etwas komisch aussehender Korrespondent, der eigentlich nicht hier her gehört.
Aber egal, denn wegen irgendetwas sieht Mr Lewis sehr, sehr ernst aus.
,,Was fällt euch auf?"
Stille. Gemurmel.
,,Gibt es etwas, was euch auffällt?"
Stille. Gemurmel. Warten. Ich glaube, Mr Lewis ist ein wenig enttäuscht von uns. Schließlich meldet sich Rachel.
Rachel?! Yeah, Rachel!
,,Hängt das alles zusammen, Mister?"
Gar nicht mal so dumm. Vielleicht liege ich mit Rachel aber auch einfach nur auf einer Augenhöhe.
Mr Lewis zählt an einem Daumen ab. Ich merke, dass es nicht das ist, worauf er gewartet hat.
Er schaut auf die Uhr. Es klingelt gleich. Ich bin mir sicher, er will nicht von einer Horde wild gewordener, frühpubertierender Fünftklässler umgerannt werden, er verzieht das Gesicht und er sieht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen, die Mom immer in ihrem selbstgemachten Eis verwendet, weshalb es immer viel zu sauer ist.
,,Nein, Leute, aber ihr seid nah dran."
Ich wette, er gibt uns Hausaufgaben, aber nicht mal das tut er.
,,Ich sehe Gott in euren Augen."
Oder auch nicht. Ich glaube, er merkt, was er da sagt, denn er fügt noch was hinzu, was Diana zu einer Rosine zusammenschrumpeln lässt.
,,Ich sehe Gott in jenen Augen, die etwas aufgeschrieben haben. Ich sehe Gott in jeder Kinderseele, die bereit ist, zu leben. Und das bedeutet nicht, einfach nur jeden Tag zu essen, zu schlafen, zu atmen. Es bedeutet, ihr teilt euer Leben. Ihr teilt euer Glück. Ich sehe Gott in jenen Augen, die die Welt ein Stück besser machen wollen."
Einige Kinder nicken, dann klingelt es.
Keiner hört Mr Lewis weite zu, alle stehen auf und stürmen davon.
Als ich meine Tasche schultere und an Mr Lewis vorbeigehe, hält er mich zurück.
Ich werde jetzt keine melancholischen Vorfürchtungen haben, sondern lass es einfach auf mich zu kommen. Ich bin der geborene Optimist. Kappa, wie Dad sagen würde.
,,Hi", er lächelt und ich lächle ein kleinwenig zurück. In Wahrheit klopft mein Herz nämlich so stark, dass ich im Hals spüre und man es selbst als Außenstehender sehen muss.
,,Ich wollte nur fragen, ob ich, wenn wir gemeinsam Unterricht haben, irgendetwas beachten muss."
,,Oh...", ich muss sagen, das ist eine Erleichterung. Nein, er muss nichts beachten. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke...
,,Oh, nein, nein." Ich zögere, „es wäre nur schön, wenn Sie weiterhin so tun könnten, als wäre ich normal."
,,Normal?", er lacht. ,,Normalität ist eine Illusion, die wir uns vormachen. Wer ist schon normal? Aber natürlich", fügt er hinzu ,,von mir kriegst du keine extra Würstchen", er zwinkert, weil er weiß, dass ich genau das will.
„Du bist, wenn ich es mir überlege, sogar die normalste Illusion aus diesem Kurs. Und jetzt nimm das bitte nicht negativ."
Und ohne mir zu erklären, was er genau jetzt wirklich meint, klopft er mir auf die Schulter und verschwindet aus dem Raum.

Irgendwie fühle ich mich gerade auf eine eigenartige Art und Weise verloren, die weder positiv noch negativ ist. Erst ein paar Sekunden später fällt mir ein, dass wir jetzt Schluss haben. Das hat Miss Underhaud irgendwie und irgendwann mal erwähnt, als sie mir aufgelöst meinen Stundenplan in die Hand drückte. Wohl gemerkt ohne mich anzusehen. Achja, und Mr Whoop muss es auch gesagt haben.
Ich laufe, und hoffe, dass Dad daran denkt, mich abzuholen, denn wenn nicht, müsste ich versuchen, sie auf dem Handy anzurufen, was hoffnungslos ist. Mom ist bei der Arbeit und im Büro sind Handys verboten. Fragt mich nicht nach dem Sinn dahinter. Und Dad verliert sein Handy ständig und ich müsste mit irgendwem mitfahren. Hehe, mit wem?

Dann spüre ich mit einem Mal jedes Detail. Wie mein Kleid mir um die Knöchel fegt. Wie die Schüler lachen. Dann falle ich. Ich falle auf einen meiner Zöpfe, spüre ein Schmerz in meinem Fuß und realisiere, dass mir jemand ein Bein gestellt hat. Ich rappele mich auf, sodass ich in einer möglichst würdevollen Position auf dem Böden sitze, als ich Kevin vor mir sehe.
,,Ohhh", sagt er ,,tut mir wirklich leid." Es hört sich nich eine Sekunde an, als würde es das wirklich.
Ich sehe hinter ihm nur Diana. Und Rachel. Und was mich am wütendsten macht, auch Ro. Ich meine, er sieht nicht so aus, als fände er das irgendwie lustig oder so, aber er sieht auch nicht so aus, als wäre er irgendwie sauer auf Kevin.
Und wisst ihr, es tut weh, wie Kevin sich vorbeugt, und mir die Hand hinstreckt und laut sagt: ,,brauchst du Hilfe?" und dann, so leise, dass nur er, Rachel, Diana, Ro und ich es hören können:
,,Aber ups – vielleicht bist du ja ansteckend" und lauter: ,,wirklich nicht?" und leiser: ,,fühlt man sich gut da unten?" und lauter: ,,okay, dann nicht." Er zieht die Hand zurück und zuckt mit den Schultern. ,,Ich wollte nur helfen."
Das alles tut sehr weh, sehr, sehr weh, und es würde nicht so sehr weh tun, wüsste ich nicht, es hätte nichts mit meiner Krankheit zu tun. Wenn ich wüsste, es hätte irgendetwas mit meinem Gewicht dazu, würde ich mir vornehmen, nächstes Jahr zur sportlichsten Schülerin der Schule gewählt zu werden, oder ich würde zunehmen, wäre ich zu dünn.
Hätte es irgendwie mit meinen Pickeln zu tun, würde ich mich schminken. Wären meine Schuhe hässlich, würde ich sie nicht mehr anziehen. Aber so wie das Schicksal wollte, so wie Gott mir diese Prüfung auferlegt hat (oder ist es eine Strafe?), kann ich nichts ändern. Schminke nützt nichts. Andere Schuhe helfen weniger als die Schminke. Mein Gewicht, egal ob es perfekt wäre, würde nichts ändern.
Ich habe etwas, was man nicht tauschen kann. Ich lebe damit. Ich leide damit.
Aber was am meisten wehtut, ist, dass ich ab jetzt weiß, dass Ro nur eine falsche Schlange ist. Ein Schüler, der nett vor den Lehrern ist, aber ein Kotzbrocken in echt. Denn er läuft mit Kevin zum Ausgang. Mit, nicht hinter ihm.
Ich weiß, dass Mr Lewis meint, Normalität wäre eine Illusion.
Aber verdammt, wäre sie das, dann stände ich jetzt mit anderen Mädchen an meinem Spind, und säße nicht in der Mitte des Flures der Tasworth pr. Middleschool auf dem kalten, grauen Steinboden und würde mich fragen, warum alles in der Welt man mich ausgesucht hatte, um genau hier zu sitzen und nicht würdevoll zu stehen.


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