Kapitel 1: Act normal- wird auf jeden Fall klappen
Damals, als mir diese fixe Idee in den Kopf stieg – oder als Mom sie mir in den Kopf setzte, ein Buch zu schreiben, ist mir nicht eingefallen, wie klischeehaft das wirken muss. Ein zehnjähriges Mädchen, mit einer Krankheit, die ein Buch schreibt, es veröffentlicht. Aber eigentlich ist mir das egal. Eigentlich will ich nur beweisen, dass ich zwar ich bin, aber trotzdem etwas zustande bringen kann, was man nicht direkt weglegt, weil man denkt, ich hätte es angefasst.
Okay, bevor ich jetzt alle komplett verwirre – ich möchte noch dem hyperintelligentem Leser sagen, dass ich gleich das erste Mal meine neue Schule betrete, und meine Gedanken durchaus berechtigt sind – ich bin natürlich kein normales Mädchen. Obwohl – nein, ich glaube, ich bin normal, nur keiner sieht mich als normal an. Vor allem nicht andere Kinder und Lehrer, was eigentlich ziemlich blöd ist. Die Leute, die mir sagen, ich sei normal, meinen eigentlich nur das Gegenteil, sind aber entweder zu nett dafür oder mögen mich zu sehr. Und diejenigen, die ihre Gedanken durch Glotzen vermitteln sind diejenigen, die am ehrlichsten sind.
Am meisten unnormal bin ich aber wahrscheinlich für Mom, Dad und April. Mom und Dad und meine große Schwester April versuchen nämlich mich immer und überall zu schützen, und wäre ich normal, hätten sie nicht das Gefühl, mich mit Samthandschuhen anfassen müssen.
Ich will ehrlich zu euch sein. Ich habe keine wirklich lebensbedrohliche Krankheit – jetzt könnt ihr erstmal aufatmen, und fragen, warum ich so ein Drama daraus mache (also eigentlich machen andere so ein Drama daraus).
Die Wahrheit ist, ich bin zehn Jahre alt, habe braunes plattes Haar und sehe aus wie eine fünfzigjährige, ziemlich klapprige und verwitterte Frau, die in ihrem Leben die verschiedensten Seiten der Drogenmafia kennengelernt hat. Ich sehe aus wie eine kleine Rosine. Eine verschrumpelte Weintraube, die zu viel geraucht hat.
Hab ich natürlich nicht – aber trotzdem sehe ich so aus. Es wäre gar kein Problem, wenn die anderen daraus nicht so einen Wind machen würden. Ich seh halt nur ein bisschen (viel) älter aus. Und, okay, ein paar Probleme mit meinen Organen und meinem Bindegewebe habe ich auch...
Sein wir ehrlich, wie fändet ihr es, wenn ihr nichtsahnend auf den Spielplatz geht, und eine klapprige, alte Frau sitzt auf einem Schaukelpferd. Kommt schon, stellt es euch vor. Ein bisschen erschrecken würdet ihr euch schon. Und wenn ihr dann versteht, dass ich krank bin, könnt ihr
a) Euch darüber lustig machen
b) Mitleid mit mir haben
c) Vor Schreck davonlaufen
Ich glaube, Möglichkeit b wäre mir am liebsten. Mitleid ist zwar uncool, aber auslachen noch uncooler und mit einem Satz davonlaufen am uncoolsten.
Ich glaube, der einzige, der mich wirklich und absolut normal sieht ist Nick, der neben mir auf einem Kindersitz im Auto vor sich hin summt. Er ist sechs Jahre alt, und außerdem mein kleiner Bruder und ich war einer der ersten Gesichter, die er nach seiner Geburt gesehen hat. Bei mir war alles immer gleich, ich werde nur älter, aber trotzdem, er kennt mich nicht anders. Ich bin das einzige, zehnjährige Mädchen, das er kennt. Er nimmt mich auch nie in Schutz, was ich sogar toll finde. Ich meine, wenn er sauer auf mich ist, denkt er nicht an mein Gesicht, oder wie schwer mein Leben doch ist. Dann ist er einfach sauer, sagt ich wäre überhaupt nicht cool und läuft in sein mit der Hobbit Wändeplakate bestücktes Zimmer. Wenn's gut läuft nimmt er sich seine Bilbo Beutlin Figur und die von Thorin Eichenschild und spielt immer wieder, wie Thorin sauer auf Bilbo ist. Nachdem Nick das gespielt hat, entschuldigt sich Thorin bei Bilbo und alles ist wieder im Lot.. Genauso sollte es sein.
Okay, vielleicht sollte es mehr Star Wars in seinem Leben geben (denn ich persönlich finde, dass der Hobbit viel zu brutal für einen Sechsjährigen ist), aber ansonsten ist er der einzige Bestandteil dieser Familie, den man als normal ansehen kann, denn für ihn ist alles um ihn herum normal. So viel zu Nick und seinem blondem Haar.
Ich glaube aber, Dad hat jetzt bemerkt, dass ich mich nicht ganz wohl fühle, denn er schaut mich im Rückspiegel an. ,,Bobbie?"
Ich weiß, was jetzt kommt.
,,Yeah, Dad?", sage ich, und tue so, als wäre ich vollständig ahnungslos.
,,Bobbie", wiederholt er und seufzt. ,,Was geht dir durch den Kopf?"
Ich zucke mit den Schultern. ,,Bin ein bisschen nervös."
,,Gut nervös oder schlecht nervös?"
Ich zucke wieder mit den Schultern.
,,Keine Ahnung. Eigentlich will ich das ganze nicht. Ich habe keine Lust aufs Starren, wirklich nicht, Dad."
Okay, ich gebe zu, in diesem Moment will ich ein bisschen Mitleid. Ich bin sogar sauer auf Mom und Dad, weil sie, als ich in die dritte Klasse ging, und ich wirklich oft ausgegrenzt wurde, in Betracht zogen, mich zu Hause unterrichten zu lassen.
Damals las ich total gerne das Buch Wunder, aber irgendwann kam es mir wie einer dieser Krebsbücher vor, in denen am Ende immer alles gut wurde, was aber irgendwie nie der Wahrheit entspricht. August Pullmann wurde auch zu Hause unterrichtet, er hatte seinen Freund Christopher, und Summer, die wirklich absolut süß war, und Jack, der sich in Summer verliebte. Am Ende bekam August sogar irgendeine Medaille von der Schule.
In der Realität sieht das anders aus. Natürlich möchten die Lehrer, dass es einem gut geht, aber wenn sie andere Kinder dazu zwingen, mit mir befreundet zu sein, oder sich neben mich zu setzen, bewirken sie genau das Gegenteil. Mies.
Unser Auto fährt auf den Parkplatz, und in mir drinnen fühlt es sich an, als hätte ich eine sechs in Mathe geschrieben. Mieser.
Ich habe noch nie eine sechs in Mathe geschrieben, aber bestimmt einer dieser Kinder, die ich aus dem Fenster sehen kann, schon.
Überall sind Kinder. Mädchen, mit niedlichen Zöpfen, gelben und roten Kleidern. Jungs, in Poloshirts, kurzen Hosen, Jeans und Hemd, neuen Rucksäcken auf dem Rücken, überall glückliche, nervöse Eltern, die ihren Kindern die besten Tipps zum besten Schüler geben, oder Eltern, die ihre Jungs anweisen, die Klos und Klassenzimmer der Schule heil zu lassen.
Ich will jetzt nicht einen auf depressiv schieben, denn ich habe auch zwei Zöpfe und ein weißes Kleid mit Rüschen, einen coolen Rucksack, Armbänder und meinen Dad und meinen Bruder, die mit mir im Auto sitzen und gerade aussteigen. Ich denke, würde ich eine Maske tragen, sähe ich ganz ansehnlich aus.
Mom hat mir ein bisschen, nur ganz wenig Make-up aufgetragen, bevor sie zur Arbeit gefahren ist, was ich sonst nie darf. Ach ja, und sie hat mir viel Glück gewünscht, und war schon im Auto, als sie verstand, was sie da gesagt hatte.
Dad hält mir die Tür auf, und ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber nicht, dass mich keiner bemerkt. Ich dachte vielleicht, dass sich alle umdrehen, mich anglotzen, keine Ahnung. Wie in diesen Filmen, wo irgendein Supermodel über den roten Teppich läuft und ihnen das Eis aus der Waffel fällt, nur dass deren Waffel mit auf den Boden fällt und sie vor Entsetzen schreien oder so.
Jedenfalls läuft es nicht wie in diesen Filmen, denn alle sind damit beschäftigt, aufgeregt zu sein.
Als könnte alles verschwinden, nehme ich Dads Hand und Nick nimmt meine, und wir sehen aus wie eine ganz normale Familie. Fast jedenfalls. Denn Dad ist ein schöner Dad, und Nick sieht aus wie ein Engel. Und dann komme ich.
Tja, ich würde sagen: sad life.
Aber bevor ich jetzt total melancholisch werde, freue ich mich lieber darüber, dass mich noch keiner gesehen hat.
Wir gehen durch die Menge und quetschen uns durch Omas, Opas und ganz vielen Vätern in Anzügen und Müttern in weiten Kleidern.
Okay. Vergesst was ich gesagt habe. Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil.
Man hat mich gesehen. Einige drehen sich so schnell zu mir um, als könnten sie nicht wahrhaben, was sie da sehen. Ohne Witz, sie drehen sich so schnell um, dass sie alle gegeneinander knallen.
Ich gebe zu, als ich kleiner war, hab ich das auch gemacht, dieses ganz-schnelle-umdrehen, um zu sehen ob wirklich jemand grüne Haare oder blaue Wimpern hatte oder sowas. Heißt aber nicht, dass ich das nicht uncool finde.
Ich höre auch dieses extrem laute, versucht gedämpfte Flüstern wie ,,hast du sie gesehen?" und
,,was war denn das?" und Eltern, die ihre Kinder drängen, leise zu sein.
Act normal. Wird auf jeden Fall klappen.
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