I - Neues Schuljahr, neues Glück?
„Wo müssen wir jetzt hin?" fragte ich Noah, meinen besten Freund.
„Zimmer 217, glaube ich", meinte der schwarzhaarige Junge.
„Hm. Das müsste im zweiten Stock sein", sagte ich und lief los.
Ich war froh, dass wir extra eine Viertelstunde früher hergekommen waren, denn in unserem Schulhaus war es manchmal nicht ganz einfach, ein neues Klassenzimmer zu finden.
Während wir nach unserem Zimmer suchten, redeten wir über dies und das, und einige Minuten später standen wir vor der Tür.
„Okay, hier müssten wir richtig sein", bemerkte ich, als ich das kleine Täfelchen mit der Nummer 217 entdeckte.
Wir bereiteten uns kurz innerlich auf den Tumult, der hinter der Tür auf uns wartete, vor. Ich blickte zu Noah, der ein wenig bleich im Gesicht war.
„Hey, alles okay?"
„Ja..." behauptete er, doch ich konnte den zögerlichen Tonfall in seiner Stimme hören.
„Sicher, dass es dir nicht zu stressig ist?"
„Nein, es geht schon. Ich krieg das hin." Er schenkte mir ein schiefes Lächeln.
Ich nickte und drückte die Türklinke runter, auch wenn ich immer noch ein wenig besorgt um Noah war. Ich wusste wie nervös er war, denn er kam überhaupt nicht mit fremden Menschen klar. Schon gar nicht mit über zwanzig lauten Fünfzehnjährigen.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Wie erwartet war es laut und chaotisch, und für Noah, der hochsensibel war, musste es noch um einiges schlimmer sein. Er griff wie automatisch nach meiner Hand. Ich nickte ihm motivierend zu, und wir traten in das Klassenzimmer, auch bekannt als Schlachtfeld des Hirntodes.
Ich drückte Noahs Hand kurz, um ihn zu beruhigen, bevor wir uns zwei Plätze in der letzten Reihe suchten.
Circa fünf Minuten darauf kam ein Mann, der so um die vierzig Jahre alt zu sein schien, in das Zimmer. Er lief zur Tafel und schrieb „Tim Freyer" hin, was wohl sein Name war. Dann drehte er sich zur Klasse, welche noch immer Lärm und Chaos veranstaltete, und klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es klappte nicht. Er seufzte, als ob er genau das erwartet hätte. In dem Moment erklang die Schulglocke und ein Grossteil der Klasse fing an, sich zu beruhigen. Herr Freyer räusperte sich.
„Guten Morgen liebe Klasse. Wie ihr an der Tafel sehen könnt, bin ich Herr Freyer. Ich bin euer Klassenlehrer und unterrichte euch ausserdem in Mathematik und Physik. Da die meisten von euch weder mich noch die anderen Schüler kennen, machen wir erst mal eine Vorstellungsrunde."
Fast die gesamte Klasse stöhnte laut.
„Jetzt beschwert euch doch nicht, ihr solltet froh sein dass ich euch nicht zu zehntausend Multiplikationsaufgaben zwinge."
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Wie es schien hatte unser neue Klassenlehrer Humor. Da ging plötzlich die Tür auf, und ein Junge kam rein. Er trug einen schwarzen Hoodie, eine genauso schwarze baggy Jeans und ebenfalls schwarze Kopfhörer um den Hals. Das einzige nicht schwarze an ihm waren seine hellbraunen Locken. Obwohl in unserem Brief gestanden hatte, dass wir heute früher als gewöhnlich in der Schule sein sollten, war er mindestens fünf Minuten zu spät.
„Na, ich dachte mir schon dass wir noch nicht vollzählig sind!" meinte Herr Freyer freundlich. „Guten Morgen dir."
Der Junge murmelte bloss ein schwer verständliches „Moin" und starrte den Lehrer gelangweilt an.
„Na, warum setzt du dich nicht? Dort hinten ist noch ein freier Platz." Herr Freyer zeigte in meine Richtung. Der einzige noch nicht besetzte Platz war neben mir. Na toll.
Der Junge stapfte wortlos zu seinem neuen Platz, setzte sich immer noch wortlos hin und warf Noah und mir einen missbilligenden Blick zu. Was hatte der denn für ein Problem? Ich runzelte leicht irritiert die Stirn. Herr Freyer redete weiter.
„Wo waren wir? Ach ja, die Vorstellungsrunde. Also, wir gehen jetzt einfach die Reihe nach durch. Jeder erzählt etwas von sich selbst. Ich fange an. Wie ihr wisst, mein Name ist Tim Freyer, ich bin zweiundvierzig Jahre alt, meine Hobbys sind lesen, tanzen und Tennis spielen. Ach, und meine Lieblingstiere sind Capybaras. Habt ihr noch irgendwelche Fragen?"
Ein Junge rief: „Was sind Capybaras?"
„Capybaras sind Nagetiere, genauer gesagt eine Art von Meerschweinchen. Und beim nächsten Mal solltest du dich melden bevor du etwas sagst."
Ein Mädchen, dass vor mir sass, hob die Hand. Herr Freyer nickte ihr zu. „Ja?"
„Haben Sie Kinder?" fragte das Mädchen.
„Kinder nicht, aber dafür einen Border Collie namens Fluffy."
Einige Mädchen machten daraufhin „Awww", während ich an den Cerberus Fluffy aus Harry Potter denken musste. Noah anscheinend auch, denn er warf mir einen vielsagenden Blick zu und grinste.
Das Mädchen von eben meldete sich nochmal. „Haben Sie denn eine Frau?"
„Nein, aber einen Mann", antwortete Herr Freyer.
Für ein paar Sekunden war es still, und ich konnte förmlich hören wie es in den Köpfen der anderen ratterte.
„Sie- Sie meinen einen Mitbewohner?" fragte das Mädchen unsicher.
Herr Freyer lachte leicht, anscheinend kannte er das schon. „Nein, einen Ehemann. Wir sind seit drei Jahren verheiratet."
„Aha. Okay", machte das Mädchen. Einige, die wohl endlich begriffen hatten dass unser Lehrer schwul war, fingen an zu tuscheln. Ich hörte vereinzelte Dinge wie „Igitt, das ist ja komisch", „Ey, ist das sein Ernst?" oder sogar „Ähm, ist das überhaupt erlaubt?"
Ich verdrehte meine Augen und Noah verzog das Gesicht. Der Junge neben mir gab bloss ein genervt klingendes „Pff" von sich, und ich wusste nicht ob es auf Herrn Freyers Worte, das Tuscheln oder etwas völlig anderes bezogen war. Herr Freyer, der jetzt einen ernsten Gesichtsausdruck hatte, räusperte sich. Sofort wurde es wieder still.
„Machen wir mit der Vorstellungsrunde weiter", sagte er. „Wer möchte etwas über sich sagen?"
Niemand rührte sich. Das irritierte mich so sehr dass ich schliesslich die Hand hob, obwohl ich bei sowas eigentlich nie freiwillig anfing. Sichtlich erleichtert dass nicht jeder in Schockstarre zu sein schien, nahm Herr Freyer mich dran.
„Mein Name ist eigentlich Louise, ich werde aber Lou genannt. Ich habe eine kleine Schwester, meine Lieblingstiere sind Schlangen, ich bin passend dazu eine Slytherin und meine Hobbys sind lesen, sticken und gamen. Ausserdem bin ich aromantisch, das heisst ihr müsst mich bei Wahrheit oder Pflicht nicht nach meinem Crush fragen, denn ich hab keinen und werde auch nie einen haben."
Fünfzig Augen starrten mich an. Dann meinte Herr Freyer, der jetzt ein wenig entspannter schien: „Vielen Dank, Lou. Wer möchte fortfahren? Vielleicht gerade der Junge neben Lou, der mit dem blauen Pulli? Du scheinst mir auch ein Harry-Potter-Fan zu sein."
Noah zuckte leicht zusammen. Die Tatsache, dass die gesamte Klasse ihn anstarrte, machte ihm sichtlich zu schaffen. „Ähm... ich heisse Noah und ich lese gerne..."
„Weiter", flüsterte ich ihm zu. „Was magst du sonst noch?"
„Und ich mag... Vögel. Und Pizza. Und Musik. Und, äh, ja. Das war's." Er lachte nervös. Sein Gesicht war leicht gerötet und sein Blick huschte unruhig hin und her.
„Danke. Wer möchte sich als Nächstes vorstellen?" fragte unser Lehrer.
Während das Mädchen vor mir, die sich als Anne-Marie vorstellte, ihre dreissig Hobbys aufzählte, nahm ich Noah's Hand. „Das war gut", ermunterte ich ihn.
„Das war nicht gut, das war die Demütigung meines Lebens," widersprach er.
„Falsch, es war-"
„Es war nied- nicht gut. Es war lächerlich", meinte da plötzlich der Junge in schwarz. Ich warf ihm einen wütenden Blick zu.
„Halt du dich da raus", zischte ich.
„Pff", war seine einzige Reaktion.
In den folgenden sieben Stunden tat der Junge, der sich als Leander vorstellte, nichts, was ihn für mich sympathischer machte. Dafür tat er eine ganze Menge an Sachen, die mich dazu brachten, ihn in den Nether schubsen zu wollen. Ging leider nicht, da wir in der Realität und nicht in Minecraft lebten.
Ich versuchte ihn bestmöglicher zu ignorieren, doch er war einfach so... arrogant. Er verhielt sich so unfassbar selbstverliebt, dass ich fast dachte er sei die Wiedergeburt von diesem Kerl aus der griechischen Mythologie, der in sein Spiegelbild verliebt war. Wie hiess der noch gleich? Ach ja, Narziss.
Als unser Biolehrer uns endlich gehen liess, packte ich schnell meine Sachen zusammen und eilte zusammen mit Noah zur Bushaltestelle. Während wir auf den Bus warteten, checkte ich meine Nachrichten.
„Ach nee, meine Mutter will, dass ich Marlene vom Hort abhole. Sie ist auf einem Date und kann deswegen nicht." Ich seufzte. Ich liebte meine Schwester, doch sie war manchmal echt schwer auszuhalten.
„Oh je", meinte Noah, der meine Reaktion verstand. „Ich würde ja mitkommen, aber mein Vater will noch mit mir irgendwo hin..."
„Ist schon gut. Ich werd's überleben."
Wir stiegen aus dem Bus und verabschiedeten uns, da wir in verschiedene Richtungen mussten.
Als ich beim Hort angekommen war, klopfte ich an die Tür bevor ich eintrat. Eine Betreuerin kam auf mich zu.
„Guten Tag, ich bin hier um Marlene abzuholen. Ich bin ihre Schwester."
Die Frau nickte. „Verstehe. Ich hole sie."
Wenige Momente später kam meine Schwester auf mich zugestürmt. „Hey, Lou!" Sie warf sich praktisch auf mich, sodass ich fast nach hinten stolperte.
Ich musste lachen. „Hallo Marli."
„Lou, können wir noch in die Bibliothek? Bitte, bitte, bitte, bit-"
Ich unterbrach sie. „Na gut, wir gehen in die Bibliothek. Aber erst mal verabschiedest du dich anständig."
Marlene seufzte theatralisch, drehte sich zu der Betreuerin um und machte einen Knicks. „Gehabt euch wohl, Fräulein Bakari."
Frau Bakari schaute sie verwirrt an, während ich bloss die Augen verdrehte. „Marli, ich sagte anständig. So, wie man sich im 21. Jahrhundert verabschiedet."
Marlene zog eine Schnute. „Na schön. Auf Wiedersehen, Frau Bakari."
„Ach, äh, tschüss, Marlene", sagte Frau Bakari.
„Schönen Tag noch", meinte auch ich, während Marlene mich schon zur Tür raus zerrte.
Wir fuhren zur Stadtbibliothek, und Marlene zog mich direkt zum Abteil mit Sachbüchern zum Thema Psychologie. Nach einigem Stöbern fand sie schliesslich ein dickes Buch zum Thema Phobien.
„Ernsthaft jetzt? Kannst du nicht mal etwas lesen, was für Kinder deines Alters gedacht ist? Ich bin sieben Jahre älter als du, und nicht mal ich lese solche Bücher."
„Nö."
Ich seufzte. Sie war echt stur...
Wir gingen zur Ausleihtheke und sie legte das Buch hin, während ich in meiner Tasche nach ihrem Bibliotheksausweis kramte, die ich dann der Frau gab. Sie schaute erstaunt vom Buch zu Marlene und dann zu mir. Ich lächelte freundlich.
„Meine Schwester würde gerne dieses Buch ausleihen."
„Ach so, ja, natürlich. Ähm, sofort." Sie scannte zuerst die Karte und dann das Buch. Ich packte beides ein, sagte ihr „auf Wiedersehen" und zog Marlene, deren Augen schon an einem anderen Buch klebten, mit mir aus dem Gebäude.
Zuhause angekommen gab ich ihr das Buch, da sie sonst keine Ruhe gegeben hätte. Dann ging ich in die Küche um mir etwas zu Essen zu suchen. Da öffnete sich die Wohnungstür und meine Mutter kam rein.
Sie hatte ein breites Grinsen im Gesicht und schien generell sehr fröhlich.
"Na, dein Date scheint ja gut gelaufen zu sein. Wer ist denn der oder die Glückliche?" Fragte ich, während ich eine Tafel Schokolade aus einem Schrank nahm.
„Das, meine Liebe, geht dich nichts an. Zumindest nicht bis Natalie und ich uns sicher sind, dass es was wird", meinte meine Mutter.
Ich grinste. „Natalie, hm?"
Mama wurde leicht rot. „Sei still und geh in dein Zimmer. Du hast doch bestimmt noch Hausaufgaben oder so."
Ich lachte ein wenig. „Jaja, ich geh ja schon."
***
Danke dass ihr diese Geschichte lest! Ich werde versuchen, das nächste Kapitel bald hochzuladen. Lasst gerne ein Vote und/oder einen Kommentar da 😊
Rätsel des Kapitels: Woher wusste Herr Freyer, dass Noah Harry Potter mag?
Word count: 1848
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